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hatte ich eine andere Vision.
«Komm», sagte Akron und nahm mich an der Hand. Rasch zog er mich zum Regal. Er warf das Buch heraus, packte das Bild an der Rückseite und drehte es wie einen Türknauf um. Das Bild begann sich nach hinten zu öffnen. «Das Hirn ist wie ein Spukschloß», erklärte er mir, «voll mysteriöser Kammern.» Die Szene vor meinen Augen schrumpfte zusammen, es war mir, wie wenn ich nach innen in einen dunklen Schlund hineingezogen würde.
Ausschnitthafte Ansichten meiner Hirnwände glitten vorbei, Leitungen, die meine Gehirnströme darstellten und offene Gehirnschächte, in denen Informationseinheiten Gedankenimpulse zerlegten und zu neuen Denkmustern verarbeiteten. «Die Datennetze sind der Schlüssel, und der wachhabende Engel ein Wächter der Hölle, der die Gedanken der Sünder kontrolliert», versuchte mir Akron die Vorgänge zu schildern. Doch ich war erschüttert, als er mich zu einem riesigen Schaltpult führte, hinter dem der digitale Dämon den Zustand meiner Seele analysierte und Akron die Situation protokollierte: «Wir haben ihm die Daten in den Arbeitsspeicher seines Kurzzeitgedächtnisses geladen und sie ihm auf der Bildschirmmaske als virtuelles Bücherregal angezeigt. Auch die Menüführung haben wir vereinfacht und die Schwelle als Buch im Regal getarnt, damit er überhaupt einen Zugang findet. Er braucht das Symbol nur anzuklicken, schon springt die Tür vor seiner Nase auf …»
Ich erkannte deutlich den Bildschirm als Brücke zwischen zwei Welten, auf deren Plattform ich mit ihm kommunizieren konnte, ohne mich auf seiner körperlichen Ebene zu befinden. Sanft schaute ich ihn an: «Siehst du mich?» Er zuckte wie von der Tarantel gestochen auf, aber offenbar konnte er mich auf dem Bildschirm nicht erkennen, denn sein Blick ging hilflos ins Leere: «Bist du’s, Charles?»
Ich fühlte, wie sich in seinem Gehirn eine Vorstellung formte, die mit mir auf der Denkebene zu kommunizieren begann: «Hörst du mich?» stammelte er sichtlich aufgeregt.
«Komm mit! Ich führe dich zur Tür!» wollte ich sagen, da brach aus meinem Auge ein glänzender Lichtblitz hervor, den er wohl als Sonnenstrahl interpretierte, da er mich nicht wirklich sah. Er starrte auf den Monitor, dort flimmerte Dantes «Divina Commedia» auf, eine alte, höllische Schrift, die in seinem Bücherregal neben anderen kostbaren Manuskripten stand. «Das ist die Tür, durch die du ins Unbewußte eintreten kannst», brüllte ich ihm zu, «klick sie an!»
Er klickte mit der Maus auf das Manuskript im virtuellen Bücherregal, da explodierte das Bild und Akron stieß mich hinter dem Spiegel an: «Blinzle ihm zu! Er begegnet dir auf dieser Ebene zum ersten Mal, und deshalb mußt du ihm auf seinen Blick antworten. Für ihn bist du die unheimliche Gestalt unter der dunklen Kapuze, deren Gesicht verdeckt im Schatten liegt!»
Da stand ich vor ihm, mein Blick traf ihn direkt ins Auge, und es gab nichts, was er nicht sah, zumindest nicht im Ausschnitt, den auch ich überblickte. Ja, es war ihm klar, daß ich ein anderer Teil von ihm war und daß er nicht aus mir herauskommen konnte, ohne sich nicht selbst zu verlieren. Und trotzdem war ich ihm vertraut, denn zwischen uns war eine Verbindung wie zwischen Weg und Ziel, und unsere Blicke bildeten die Brücke: «Hör auf, mich anzustarren!» hörte er mich sagen, aber seine Gedanken kreisten immer stärker um meine seltsam leuchtenden Augen, denn jetzt wußte er, sie hatten ihn erkannt.
Die Widder-Hölle
Existierte dieser Wächter wirklich oder habe ich ihn mir nur eingebildet?» fragte ich Akron, denn plötzlich überfielen mich rationale Zweifel, und ich fragte mich, ob ich dem Unfaßbaren wirklich begegnet war.
«Gewiß», grinste er, «der Wächter stand genauso da, wie du ihn sehen wolltest. Um ihn zu sehen, mußtest du einen konzentrierten Angriff gegen die starre Bewußtseinswand führen und durch das Loch in der Mauer blitzschnell zu seiner Sichtweise vordringen, das heißt, du mußtest seine Bereitschaft, gesehen zu werden, mit deinem Willen, zu sehen, in Übereinstimmung bringen, und das hast du getan. Die Folge war, daß du eine neue Seite in dir entdeckt hast, die du als Stein wahrnehmen konntest.»
«Aber das war doch keine Wirklichkeit …?!»
«Es gibt keine wirklichere Wirklichkeit, die du erleben kannst. Sie reicht einen Daumenbreit über dein anerzogenes Wahrnehmungsmodell hinaus. Jede Wirklichkeit muß der anerzogenen Wahrnehmung als sinnlos erscheinen, weil die Wahrnehmung die Sichtweise der Sinne auf ihre eigenen Erklärungen reduziert. Nur wenn du sie einen Augenblick zur Seite schiebst, sind Wunder möglich.»
«Ich kann es fast nicht glauben», erwiderte ich.
«Sie sind möglich», beteuerte er, «du hast es selbst erlebt: Warst du nicht den Bruchteil einer Sekunde selbst der Stein?»
«Das ist allerdings wahr. Wie hängt dies alles mit meinem Erleben zusammen?»
«Einen Augenblick lang warst du auf einer anderen Bewußtseinsfrequenz. Aber wenn du mich fragst, wo diese ist, und ich dir sage, sie liegt auf einer bestimmten Frequenz innerhalb der Bandbreite deines inneren Erlebens, dann verstehst du nichts», antwortete Akron und ließ mich unter dem alten Grabmal am ausgetrockneten Flußbett niedersitzen.
«Es war der Traumwächter am Tor der Sehnsucht, der die Steinträumer mit Tränen entläßt», sagte er und schaute mich nachdenklich an. «Es gibt aber noch etwas anderes, das du wissen mußt, bevor wir die wirkliche Hölle erreichen», fuhr er fort, und ich sah in seinem Auge, wie die Brandung in der Bucht weit unten an die Felsen schäumte: «Wer alle Kraft an die Träume hängt, bleibt ungeboren wie die Fische-Verlorenen in ihren Nebelschleiern, sie büßen in den embryonalen Gewässern der Vorhölle. Sie sind nicht in physischem Sinne schuldig, ihre Schuld ist verschwommen und unergründlich. Sie verweben Wahn und Wirklichkeit so miteinander, daß sich die eigene nebulöse Welterfahrung zur Wirklichkeit emporschwingt und ihr bewußtes Ich im Morast des Unbewußten ertrinkt. Es sind die hüllenlosen Seelen, die an den Wassern schlummern, die Welt nur träumen, den Menschen unsichtbar die Schicksalsfäden spinnen und ihr Wissen hüten. Doch die wahre Hölle, die wir nun betreten, ist nicht ein fernes Jenseits wie der Fische-Limbus, sondern tiefste Gegenwart und schwärzestes Inferno. Sieh dich also vor, wenn wir aus den trüben Gewässern der Seele am Feuerwächter vorbei durch das Widder-Tor in die wahren Abgründe eindringen!»
«Eine interessante Reise», erwiderte ich nickend und schloß die Augen, bevor ich mit einem Schlag in den Strudel meiner inneren Hölle hinabgeschickt wurde, denn als ich erwachte, sah ich mich von einem hohen, von zwei Widdern flankierten Höllentor umgeben. Raum und Zeit verschmolzen vor meinem inneren Auge, und ich sah, wie sich im Osten der rote Feuermars mit dem schwarzen Pestring des unerbittlichen Saturns bekämpfte. Über mir stand eine schreckliche Gestalt mit erhobener Lanze auf dem Torbogen, bereit, jedem, der die Grenze überschritt, die Spitze ohne Wimpernzucken in den Leib zu rammen.
«Was willst du von mir?» donnerten mir seine Worte wie Erzgestein entgegen: «Verschwinde hier!» Ich sah direkt in die Krone des Schöpferbaumes und erschrak, denn die Stimme, die ich vernahm, war nicht die Stimme eines einzelnen, sondern die Stimme vieler, und ihr Tonfall, der mein Ohr erreichte, war der Chor der in dieser Hölle versammelten Seelen. Ihre schmerzverzerrten Leiber leuchteten wie rote Feuerbrände im Hintergrund, und mir war, als entzögen sie der Luft den letzten Sauerstoff, denn ich bekam fast keine Luft. Es war eine todbringende Situation, eine Verdichtung von Schmerz und Wut, die so konsistent war, daß ich nicht umhin konnte, die Summe all meiner Empfindungen als etwas total Beengendes zu empfinden, dem ich so schnell wie möglich entrinnen wollte. Als ich die Augen wieder öffnete, erkannte ich, daß ich direkt in die Augen von Akron sah.
«Ist das der Sinn der Widder-Hölle?» entgegnete ich giftig, denn ich begann durch den kosmischen Raum hindurchzusehen, und plötzlich verwandelte sich Akrons Antlitz vor meinen Augen in einen behelmten Totenkopf. Es war aber kein äußerliches Bild