Dantes Inferno I. Akron Frey
Ich fühlte mich wie in einem halbwachen Zustand, in jener kurzen Dämmerphase, in der der Mensch noch nicht erwacht ist, aber auch nicht mehr schläft, in jenem Augenblick zwischen den Welten, wo der Mensch Situationen erahnt, die seinem inneren Wissen entsprechen, die von seinem materialisierenden Verstand aber verdrängt werden: «Wir sind der Schlüssel zu deinem Hirn», hörte ich die Sylphen in mir säuseln, «gemeinsam können wir alle Ebenen durchwachsen …» Dann fiel der schwarze Vorhang vor meinem Bewußtsein.
Wo sind wir hier?» wollte ich von Akron wissen, als ich wieder zu mir kam. Sein Blick war auf das große schwarze Buch gerichtet, das aufgeschlagen vor mir lag, bevor er seine Augen auf mich richtete. «Wir sind in der Vorhölle hinter der Realität», sagte er, «schau doch hin!» Da erst erkannte ich, daß auf dem inneren Buchdeckel eine flammende Widmung prangte: «Das Licht der Erkenntnis leuchtet aus dem Vorhof der Hölle.»
«Willst du sagen, daß ich durch das Buch, ohne Rücksicht auf physikalische Gesetze, direkt in andere Räume treten kann?»
«Zumindest ohne Rücksicht auf deine verstandesorientierten Verhaltensmuster», erwiderte er und hielt seinen Finger auf das Buch. «Wenn du es auf der Unterlage verrückst, dann kannst du deine Perspektive verschieben und die Welt um dich herum verändern. Das wußten schon die Alten: Verschiebe deine Sichtweise, und du veränderst die Welt! Willst du es nicht selbst ausprobieren?»
«Das übersteigt meine Vorstellung», gab ich zurück, «und außerdem ist mir das viel zu gefährlich. Am Ende verrutscht mir meine Perspektive und ich finde nicht mehr in die Realität zurück.»
«Das ist der Preis», entgegnete er, «dieses Buch symbolisiert dein bewußtes Verstehen, und der Spiegel, der unter dem Buch in die Holzplatte eingefügt ist, steht für das Unbewußte, das sich in deinem Verstand reflektiert. Wenn du das Buch über dem Spiegel drehst, dann nimmst du die Erinnerungen aus der Tiefe auf, doch wenn du das Buch ganz über den Tisch hinausstößt, dann gibst du deine persönliche Perspektive auf und kannst auf den Schwingen deines innersten Willens bis an die Enden aller Perspektiven reisen oder darüber hinaus, wie es auch deine Vorfahren taten, die ihre Aufmerksamkeit von der äußeren Welt nach innen verschoben hatten. Sie wurden verrückt, nachdem sie das Buch aus dem Bücherregal herausgeworfen hatten. Aber ich bin ja bei dir und paß auf dich auf. Bist du bereit? Dann nimm das Buch und halte es in die Höhe!»
Ich hob das Buch, und darunter kam ein Spiegel zum Vorschein, der exakt in Buchgrösse in den Tisch eingelassen war. «Dieser Spiegel ist die Rückseite des Porträts», fügte Akron hinzu, «das bei dir an der Rückwand des Bücherregals hängt und dir eine Kommunikation mit deiner Alltagswelt erlaubt.»
«Aber in der Alltagswelt stand das Bild doch vertikal im Raum», wandte ich ein.
«Es ist ja auch kein physischer Raum, in dem wir hier sind, es ist ein psychisches Gebilde, das der Vertiefung entspricht, die das Buch in deinem Hirn ausgespart hat. Weil du in deiner Alltagsebene vor dem Computer sitzt, hast du das Bild gedreht und das vertikale Bild auf die horizontale Ebene projiziert, damit du deine Körperhaltung nicht zu ändern brauchst und gleichzeitig das persönliche Erleben kontrollierst, das du als gespiegeltes Bild in deinen Händen hältst. Doch damit erreichst du hier nichts», sagte er und schleuderte das Buch vom Tisch.
Es gab einen Ruck, ich wurde aus meiner Sitzlage katapultiert, die ganze Szenerie vor meinen Augen wurde mit einem Schlag gekippt und ich schlug schmerzhaft am Boden auf. «Jetzt hab ich das Bild in deinem Kopf wieder zurechtgerückt», sagte Akron und klopfte auf die Tischplatte, die als Wand jetzt senkrecht vor mir stand. «Siehst du, sie ist sehr stabil! Du hast sie mit Hilfe der Sinne konstruiert, derer du dich gerade bedienst.»
«Du möchtest sagen, daß ich diese Wand selbst aus meinem inneren Empfinden aufgebaut habe?»
«Alle äußeren Bilder erschaffen sich in dieser Welt aufgrund der inneren Erwartungen. Diese Wand hier», er strich mit den Fingerspitzen beinahe zärtlich über das Holz, «ist ein Symbol für deinen tiefgründigen Verstand, und deshalb setzt sie sich sowohl aus den Vorstellungen deines Arbeitstisches wie aus den Bildern der verborgenen Rückseite deines Bücherregales zusammen, und der Spiegel», er zeigte auf einen glitzernden Spiegel, der in die Holzwand eingelassen war, «ist, wie gesagt, die Schwelle, über die du in die psychische Ebene eintreten kannst. Auf der Alltagsebene wäre er die Brücke, über die die beiden Hirnhälften miteinander verbunden sind.»
«Hirnhälften?» Ich schaute ihn an. Er trug eine dunkle Kapuze und einen Mantel, der bis zum Boden reichte. Aus meiner Perspektive wirkte er monströs wie ein schwarzer Dämon.
«Ja, weißt du denn noch nicht, wo wir hier sind: Wir sind in deinem Hirn. Du wirst noch staunen, welchen Gestalten du in der rechten Hirnhälfte begegnest, in der die Gesetzmäßigkeiten des dualen Verstehens nicht mehr funktionieren. Leider wirst du alles, was du hier erlebst, wieder vergessen haben, wenn du auf der anderen Seite erwachst.»
«Wie ist es mit dir?» erwiderte ich, während ich mich langsam erhob. «Werde ich dich auch vergessen haben?»
«Ich bin dein Höheres Selbst, das aus deinem inneren Geiste spricht, während ich dir da draußen in der materiellen Welt nur als undeutlicher Schatten begegne.» Eine seltsame Aura umschattete ihn: «Deshalb habe ich dir auch mein Bild ins Bücherregal gestellt, damit du mich auf der Bewußtseinsebene nicht verdrängst.»
«Wie kann ich dir glauben», entgegnete ich.
«Das brauchst du nicht: Sieh einfach hinüber in deine Alltagswelt!» sagte er und zeigte auf den eingelassenen Spiegel in der Wand. «Der Spiegel ist gewissermaßen die Tür, die die physische und die psychische Welt miteinander verbindet. Zu Dantes Zeiten nannte man ihn auch die Schwelle der Angst. Wenn du ihn nur benutzt, um dein Gesicht zu betrachten, dann ist er nichts als ein Spiegel, der dir dein Äußeres zeigt. Wenn du dich aber selbst vergißt, während du in den Spiegel siehst, dann zeigt er dir plötzlich, was sich auf der anderen Seite der Schwelle abspielt, denn die Rückseite des Spiegels ist mein Bild, das bei dir an der Rückwand des Bücherregals steht und dir eine Kommunikation mit deiner Alltagswelt erlaubt.» Er klopfte mit dem Knöchel an das Glas: «Siehst du dein Alter ego, deinen anderen Teil, der dort am Schreibtisch sitzt? Er hat sich tief in seine Gedanken versenkt, um dich innerlich zu kontaktieren. Kannst du ihn spüren? Er scheint bereit!»
«Wozu bereit?» verlangte ich zu wissen.
«Bereit, in seine rechte Hirnhälfte einzutreten und dir in unserer Traumwelt zu begegnen. Wenn du durch diesen Spiegel siehst, sieht er auf seinem Bildschirm dein Gesicht. Dann könnt ihr miteinander nach Herzenslust kommunizieren. Geh jetzt, los! Er versucht, deinen Geist auf seinem Monitor zu beschwören!»
Ich starrte in den Spiegel, und von einer Sekunde zur anderen entzündete sich mit ungeheurer Kraft ein Feuerwerk von Visionen in meinem Hirn. Irgendwie fühlte ich mich plötzlich in zwei Teile gespalten, denn ich spürte, wie er vor seinem Bildschirm saß und die Ideen wild in die Tasten hämmerte, die mir durch den Kopf blitzten, und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, als ob ich es selbst war, der die Geschichte aufschrieb. Irgendwie erahnte er auf dem Monitor meine virtuelle Gestalt, aber ebenso verschwommen erkannte er in mir auch sein eigenes Gesicht, denn durch die Augen, die ihn ansahen, erblickte er auch den Raum, in dem er sich befand.
Ich schwebte auf meinen Körper zu, glitt durch meinen Kopf in ihn hinein und fühlte, wie sich in seinem Gehirn meine Vorstellung formte, die sich in der räumlichen Sphäre formulieren wollte. Doch er brachte meine Worte nicht heraus, die ich durch ihn hindurchzusprechen versuchte. «Du kannst ohne Medium nicht direkt mit ihm kommunizieren», hörte ich Akrons Stimme in mir flüstern, «denn du bist ein Teil seiner Geschichte, die er nicht ständig präsent in sich trägt, sondern die er im Computer gespeichert hat. Nimm den Monitor als Plattform!» Den Rest konnte ich