Dantes Inferno III. Akron Frey
antwortete ich wahrheitsgemäß und versuchte ebenfalls ein Lächeln, „denn nach all dem, was wir gemeinsam durchlebt haben, scheint es nicht mehr viel zu geben, dessen ich nicht ansichtig geworden wäre.“
„Deiner Bescheidenheit hat es zumindest keinen Abbruch getan“, kam Akrons schulmeisterliche Antwort, „aber du wirst dich noch wundern, denn zwar ist das große Mysterium etwas näher herangerückt, doch kann seine Gewahrwerdung niemals zwischen den beschriebenen Papierseiten zweier Buchdeckel erfasst werden“, er macht eine kurze Pause, „und hineingepresst werden schon gar nicht.“
Ich wurde unsicher: „Du meinst damit, dass alles, was ich bisher auf hunderten von Buchseiten geschildert habe, umsonst gewesen ist?“
„Ja. Das Interesse an solchen Reisen hat sich in der Zwischenzeit erheblich gemindert. Als wir miteinander in die Tiefe aufbrachen, war das Internet noch kaum existent. Diese Technologie hat das Verhalten der Menschen unwiderruflich verändert.“
„Was willst du damit sagen?“ Da wurde mir erst richtig klar, wie wichtig mir diese Aufzeichnungen geworden waren. Dank ihnen konnte ich über meine seelischen Befindlichkeiten innerhalb und außerhalb von mir reflektieren.
„Ich will damit sagen, dass im Zeitalter kreativer Software, wo man Informationen bald direkt in die Gehirne der Menschen scannen kann, das Medium Buch zum Auslaufmodell geworden ist.“
„Siehst du denn keine Chancen für unsere Erlebnisse?“ Das Problem war, dass man so nah an das Unbewusste herangehen musste, um die Gefahren zu sehen, was wiederum die Chance erhöhte, selbst hineingezogen zu werden.
„Für die Erlebnisse schon, doch für deren Publizierung weniger. Sicher wird es, wenn die Menschheit die neue Technologie ausgereizt hat, irgendwann auch wieder kreativ inspirierte Leute geben, die sich ähnlich wie die Liebhaber der Vinylplatten dem guten alten Buch zuwenden. Aber ob es dann gerade unsere Erkenntnisse sein werden, die ihre Hirnganglien entzünden, das lassen wir dahingestellt.“
„Aber versuche ich nicht gerade die Grenzen des Denkens mit denkerischen Mitteln zu erweitern, sozusagen eine Sprengung der zweidimensionalen Realität … liegt das nicht im Trend?“
„Das hätte Ende der achtziger Jahre erfolgen müssen, als die Cyberspace-Gesellschaft noch Fiktion war, als ein Sprung hinter die Schwellen der Erkenntnis auf der Basis von Halluzinogenen noch das Nonplusultra von geistigen Entdeckungsreisen war. Als man noch nicht so sehr am Grauen dran war. Heute ist das längst Realität und der kollektive Geist hat das alles verinnerlicht. Er hat sich sozusagen in die Erwartungen seiner Hoffnungen und Ängste eingesperrt.“
„Zu spät für die Wahrheit?“ Seine Kassandrarufe lösten in mir eine Unzahl von unbehaglichen Informationen aus, die für mich nicht leicht zu sortieren waren.
„Zu früh für die seelische Katastrophe, von den inneren Ängsten verschlungen zu werden. Die hysterischen Ausbrüche einer unpersönlichen, aus ihrer inneren Mitte geratenen und sich an die Wachstumsmodelle verlorenen Gesellschaft betäuben das natürliche Empfinden der Menschen, das sie vergeblich warnt.“
„Du glaubst, dass sich die Leute heute für diese Themen nicht mehr interessieren?“ Der unverstandene Schmerz des Künstlers durchbebte meine Züge.
„Mach dich nicht vom Interesse der Leute abhängig. Nimm diese Expedition als Chance, dich über deine persönliche Wahrnehmung hinaus mit den Ängsten und Gespenstern in den kollektiven Morästen babylonischer Sündentürme beschäftigen zu können.“
„Oh ja“, winkte ich ab, „du hast recht. Das braucht mich nicht zu kümmern. Ich habe getan, was ich tun musste und bin meinem inneren Aufruf gefolgt, der mich schließlich zu dir und bis zu diesem Punkt unserer Reise geführt hat.“
Akrons süffisantes Grinsen verhieß nichts Gutes: „Du solltest dich hören! Du klingst wie ein Kreuzritter, der von sich glaubt eine heilige Mission erfüllen zu müssen.“
„Ja glaubst du denn“, entgegnete ich empört, „dass ich all diese Dinge zu meinem Vergnügen hier niedergeschrieben habe? Blut und Tränen habe ich geschwitzt bei diesem Unterfangen, das durch meinen Geist über die Hände auf der Tastatur bis auf den Bildschirm geflossen ist.“
Akron lächelte verständnisvoll: „Da bist du sicherlich nicht der einzige. Vielleicht sollten wir es dem Leser ein bisschen erleichtern …?“
Erstaunt blickte ich meinen Seelenführer an: „Du – und erleichtern? Du glaubst tatsächlich auf die mentalen Schlingen deines Hirnyogas verzichten zu können, die meine Gehirnzellen stets zum Rauchen bringen …“
„… die du mir andauernd in den Mund legst“, gab er schmunzelnd zurück, „aber schau, wir sind schon auf dem richtigen Weg. Ein wenig Alchemie, ein paar alte Symbole und mythische Gestalten, so etwas mögen die Menschen, die auf okkulten Pfaden wandeln. Schließlich wartet der selbsternannte Hüter der Traditionen auf uns: der Steinbock. Das dürfen wir nicht vergessen.“
„Schon gut, ich habe verstanden“, lenkte ich ein. „Im Moment wäre ich allerdings schon froh, wenn ich wüsste, wie und wo die Geschichte weitergehen soll. Bin ich nun der, der denkt, dass er alles aufschreibt, was er erlebt, und du mein Mentor, oder sitze ich irgendwie in meinen finsteren Hirnkammern fest und alles um mich herum sind nur Traumgestalten, von meinem eigenen Unbewussten ersonnen, um das Ganze vor meinem Verstehen so zu arrangieren, damit ich mich an diesen Gedankenfäden entlanghangeln und möglichst unbeschadet aus meinen Alpträumen wieder herausgelangen kann.“
„Spielt das für den Fortbeginn deines Buches denn eine Rolle?“ traf seine Frage direkt meinen wunden Punkt.
Ertappt seufzte ich etwas hilflos auf: „Eigentlich nicht...“ Vor meinem inneren Auge leuchtete eine Pyramide auf …
„Dann lass uns dort anknüpfen, wo wir uns zuletzt begegnet sind ...“
Steinbock
Die Höllen der Zusammenziehung und Verdichtung
„Ganz erstaunlich, wie leicht dir der Rückzug in die Welt der Träume inzwischen schon fällt ...“ Ich drehte mich um und sah meinen Seelenführer fröhlich auf mich zuspazieren. Er blieb zwei Schritte vor mir stehen und blickte mich erwartungsvoll an. Irgendetwas an ihm war diesmal anders, vertrauter, aber doch auch bedrohlicher.
Akron schien meine Unsicherheit zu bemerken: „Erkennst du diesen Ort?“
Ich sah mich suchend um und entdeckte, dass wir uns beide wieder in dem ausgetrockneten Flussbett befanden, das wir schon einmal am Anfang unserer Reise passierten.
„Das ist die Straße der Selbsterkenntnis“, sagte er ruhig, „die aus den Visionen der Träume gepflastert ist, die die Straße säumen.“
„Ja – ich erinnere mich. Wir hatten dieses Flussbett am Ende der Vorhölle passiert, bevor wir dem Wächter begegneten.“
„Das stimmt nicht ganz“, hüstelte er. „Wir waren zwar noch niemals hier, allerdings ist dein Empfinden auch nicht falsch, denn du erinnerst dich an dein ‚gefühltes Erleben’. Es war eine zukünftige Erinnerung in deinem Hirn, die dich das voraussehen ließ, was du gleich erleben wirst – eine beabsichtigte Vorstellung, die sich just in diesem Moment in unsere Realität durchdrückt. Wir befinden uns gewissermaßen auf deiner ganz persönlichen, visualisierten Erlebnisbühne.“
„Dann dreht sich hier alles im Kreis?“
„Gut erkannt! Die Zukunft setzt sich aus dem zusammen, was Menschen in ihrem unbewussten Erleben an Vergangenheit verarbeitet haben, wobei Wünsche und Vorstellungen mit tatsächlich Erlebtem vermischt werden. In diesem Sud ist Vergangenheit stärker als die Gegenwart vorhanden, ja, man könnte sagen, dass die Gegenwart der Löffel Suppe ist,