Zweifel an der Kultur. Reinhard Matern

Zweifel an der Kultur - Reinhard Matern


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und cultus nicht nur auf landwirtschaftliche Tätigkeiten, sondern auch auf religiöse beziehen, so auf die Huldigung oder Verehrung eines Gottes (divinus cultus), ebenso auf die jeweiligen Vorgehensweisen, die Riten. Landwirtschaft und Gottesdienst korrespondieren der Überlieferung nach auf eine sonderbare Art und Weise.

      Bei Cicero ist zum ersten Mal von einer Übertragung auf den menschlichen Geist die Rede (Tusculanae disputationes), mit Bezug auf die Pflege und Ausbildung geistiger Fähigkeiten. Geht man nicht von einem Schriftzug Kultur, sondern von Worten aus, dann ist zwar eine assoziative Verknüpfung zu erkennen, jedoch eine, die nicht zu einer Übertragung, sondern zu weiteren Worten Kultur führt. Und damit ist der Entstehungsprozess noch nicht abgeschlossen: Cicero und spätere Autoren lassen auch die Körperpflege, „das Schmücken und Putzen“ (Georges), ein kulturelles Ereignis sein.

      Begreift man die Bemühungen Ciceros und die der späteren Autoren als erzieherische bzw. pädagogische, dann lassen sich bereits für die spätrepublikanische Zeit, in der Cicero lebte und wirkte, drei zentrale gesellschaftliche Themenbereiche der bürgerlichen Kultur Roms anführen: Landwirtschaft, Gottesdienst, Erziehung! Diese werden auch das lateinische Mittelalter prägen. Bevor aber der jüngeren geschichtlichen Entwicklung zu folgen ist, gibt es noch etwas im Altertum zu entdecken.

      Zu cultura und cultus werden mit colo Verbvarianten ausgewiesen, die außer den vergleichbaren Bedeutungen und Bezügen wie bewirtschaften noch etwas hinzufügen: „einen Ort bewohnen“, „sich bleibend aufhalten“, „einen Ort häufig besuchen“ (Georges) - wobei wohnen gemeinhin mit habitare und anderen Verben ausgedrückt wird. Aus heutiger Sicht würde ich anhand der Erläuterungen keinen zusätzlichen gesellschaftlichen Themenbereich ausbilden wollen. Für erwähnenswert halte ich die Facette der lateinischen Sprache allerdings, weil sie auffallend gut zu den vermittelten landwirtschaftlichen und gottesdienstlichen Errungenschaften passt.

      III

      Im Altgriechischen ist eine deutlich geringere Verallgemeinerung zu bemerken. Sammelbegriffe Kultur sind kaum auszumachen. Adjektive hemeros beziehen sich auf Eigenschaften wie „gezähmt“, „veredelt“ oder - ich möchte ausdrücklich offen lassen, ab wann - „gesittet“ (Benseler), bezeichnen also die konkreten Resultate innovativer Anstrengungen in Landwirtschaft - und Erziehung. Homer orientierte sich im Hinblick auf soziales Verhalten noch an asteios, um eine städtische, feine, artige Verhaltensweise zu beschreiben. Substantive hemera verweisen nicht speziell auf Tätigkeiten bzw. Funktionen, sondern auf den Tag, insbesondere auf den Arbeitstag, der mit dem Sonnenaufgang beginnt und mit dem Sonnenuntergang endet (Benseler).

      [Durch Hesiods dichterische Theogonie ist eine im Stammbaum früh angesetzte Göttin des Tages überliefert (Hemera). Es ist jedoch kaum auszumachen, welche andere Relevanz diese Erörterung haben soll, als Element eines konstruierten Bildes zu sein. Identifikationen mit der in Griechenland tatsächlich verehrten Eos, der rosenfingrigen Göttin der Morgenröte, von der Homer spricht, hätten es hingegen schwer zu gelingen.]

      Es lässt sich eine sprachliche Verknüpfung finden, die ästhetisch motiviert scheint und sich an Worten kallos, „Schönheit“, auch im Plural, u.a. „Prachtstücke“ (Benseler), orientiert. Unter den Wortformen kalli- finden sich auch solche, die auf Feldfrüchte oder Haustiere Bezug nehmen. In späterer Zeit verschwindet die ästhetische Ausrichtung: Substantive kalliergeia bezeichnen im Neugriechischen schlicht den Feldanbau. Und eine weitere Veränderung ist hervorzuheben: Worte politismos bezeichnen heute die Kultur als Zivilisation, stehen im Kontext von neugriechisch poli bzw. altgriechisch polis, Stadt. Die Bürger werden in das Zentrum gestellt.

      Schriftzüge Kultur sind allerdings derart lateinisch geprägt, dass innerhalb der neugriechischen Sprache sogar ein Lehnwort entstand: koultoura, allerdings mit besonderer Bezugnahme auf die Künste.

      IV

      Für einen Vergleich der indoeuropäischen Herkünfte werden gerne lateinisch colo und altgriechisch pelo herangezogen. Verbvarianten von colo sind bereits aufgefallen: als bewirtschaften, auch konkret auf landwirtschaftliche Tätigkeiten bezogen, ebenso in der Bedeutung von wohnen. Griechisch pelo kam hingegen noch gar nicht zur Sprache. Benseler weist „in Bewegung sein“ aus, „sich bewegen“, ebenso „sich befinden“, „stattfinden“ als auch „sein“. Es handelt sich um relativ unspezifische Formwörter, im Kontrast zur lateinischen Orientierung an der Landwirtschaft. Nicht einmal zu wohnen findet mit Verben pelo im Griechischen eine Entsprechung. Lediglich der Doppelcharakter beider Ausdrücke könnte wage herangezogen werden, ohne jedoch irgendwas Nennenswertes zur vorliegenden Erörterung beitragen zu können.

      Als „in Bewegung sein“ wird eine hypothetisch angenommene proto-indoeuropäische Fassung beschrieben, ich erachte es allerdings als müßig, Spekulationen über geschichtliche Prozesse anzustellen, die, beachtet man die sonderbaren Wege und Abgründe der hier erörterter Wortvarianten, überhaupt nicht abschätzbar sind, auch nicht unter der Einbeziehung von Lautverschiebungen.

      Schade ist es allerdings schon, dass die Kenntnisse über die alte Geschichte und über die Herkunft der Indoeuropäer relativ gering sind. Die verschiedenen Gruppen, die in Indien, Kleinasien und Europa siedelten, brachten Ackerbau und Viehzucht bereits mit. Die erhaltenen schriftlichen Aufzeichnungen aus dem betrachteten Raum reichen nicht sehr weit zurück, berücksichtigt man, dass sich die sogenannte Neolithische Revolution bereits ab ca. 12.000 auszubreiten begann, mit zum Teil katastrophalen Folgen durch die neu gewonnenen Abhängigkeiten.

      V

      Was aber ist hier gewonnen? Zunächst einmal: Man kommt auch ohne einen Schriftzug Kultur sehr gut aus, wie das alte Griechenland zeigen kann, ohne in die Gefahr zu geraten, ein Barbar zu sein bzw. zu werden. Viele der heute als kulturell geltenden Techniken, einschließlich der einer städtischen Lebensart, gab es unabhängig von einem wie auch immer zusammenfassenden Vokabular. Worte Kultur sind auch kaum ein proto-indoeuropäisches Erbe. Nicht nur geht ein Vergleich mit dem Altgriechischen leer aus, auch die Spekulationen über Vorzeiten führen im vorliegenden Kontext zu nichts Verwertbarem.

      Worte Kultur erweisen sich als speziell lateinische Worte. Die sonderbare Zusammenstellung von landwirtschaftlichen und religiösen Bezügen könnte in Bedingungen liegen, die vor und nach der Entstehung Roms vorhanden waren. Leider ist die Quellenlage nicht ausreichend, um eine plausible Erläuterung oder gar Erklärung zu geben. Die Religion als Ansatz zu wählen, führt zunächst in den limitierten und speziellen Bedarf einer Agrargesellschaft. Davon waren jedoch auch andere Gegenden betroffen. Und ob die im frühen Rom von Numa Pompilius betriebene „peinliche Religionsordnung“ (Tertullian) jenes Sprachverhalten begünstigte, ist für mich derzeit nicht zu entscheiden.

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      Zwei Quellenerläuterungen: ‚Georges‘ verweist auf die drei gleichnamigen Handwörterbücher, die beiden „großen“ Bände lateinisch/deutsch, auf den „kleinen“ Band deutsch/lateinisch. ‚Benseler‘ auf das gleichnamige altgriechische Wörterbuch griechisch/deutsch.

      03 Notizen und Notizen?

      Der knappe sprachgeschichtliche Rückblick hat deutlich werden lassen, dass Kultur von Anbeginn an kein Gegenstand, nicht einmal ein Sachverhalt war, sondern ein Konzept, das man, wie im entstehenden Rom, ausbilden, haben und später erweitern konnte, oder, wie im alten Griechenland, auch nicht. Es ist schlicht belanglos, weil das gesellschaftliche Leben, auch die Bereiche, die man für wichtig oder sogar für konstitutiv erachtete, ohne Kultur betrieben werden konnten und wurden.

      Kultur von Beginn an als Konzept zu bezeichnen, verweist darauf, dass es Teil der Umgangsprache war und es den mehr oder weniger klugen Sprechern überlassen blieb, damit, wie auch immer, umzugehen. Schließt man theoretische Erwägungen und Regeln aus, bleiben soziale Sanktionen übrig, die maßgeblich für die Formung und den Gebrauch des Konzeptes bzw. der Konzepte waren und sind. Um in die Gesellschaft konzeptionell wirken zu können, müssen Einflussmöglichkeiten vorausgesetzt werden. Diese hatten in Rom nur Mitglieder höherer Schichten.

      Ernst Cassirer hatte nicht unrecht zu betonen,


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