Zweifel an der Kultur. Reinhard Matern
die Idee der Moral entgegen. Mein Interesse gilt im Folgenden der Kultur als Geistigem, nicht der Zivilisation, auch nicht Kants Stellung im Neuhumanismus. Ich beginne damit zu fragen, ob es im Lateinischen einen tendeziellen Unterschied zwischen den Ausdrücken cultus und cultura gab, zumindest innerhalb spezieller Kontexte. Der Grund ist einfach: Worte Kultur setzten sich vielfältig durch, Worte Kult hingegen primär zur Bezeichnung religiöser Praktiken, sieht man zunächst von jüngeren profanen Varianten ab.
Bei Cicero lassen sich sowohl die Formulierung cultura animi (Tusculanae disputationes) als auch cultus animi (De finibus bonorum et malorum) finden. Erstere wird durch einen Vergleich mit Äckern, letztere durch einen Vergleich mit Nahrung gebildet. Anzumerken bleibt, dass cultura animi der Überlieferung nach singulär blieb. Es kann daran gelegen haben, dass die Form zu deutlich auf ihn verwiesen hätte: Cicero galt in der nachfolgenden Kaiserzeit als Repräsentant der Republik. Deutlicher wird eine Unterscheidung von cultus und cultura bei Vergil (Georgica): Cultus bezeichnet primär Gewohnheiten bzw. Sitte oder die Verehrung eines Gottes, cultura hingegen den landwirtschaftlichen Anbau, z.B. die Kultur der Oliven. Eine durchgehende Differenzierung vorzunehmen, bietet sich besonders in Schriften über Landwirtschaft und Gartenbau an, wobei cultura die Landwirtschaft betraf.
Die geistige Kultur, von der Cicero spricht, betrifft vor allem das sittliche Verhalten. Die Heranziehung der Philosophie, speziell der stoischen, die er auf einer Griechenlandreise kennengelernt hatte, diente ihm für die Erziehung. Horaz führt später allgemein cultus hominum an und bezieht sich historisch auf die wilden Sitten der jungen Menschen (in Rom), die Merkur als Gott der Rede zu zierlichen Künsten verfeinert habe (Carmina). Seine Verse sind durchaus ironisch auffassbar, demonstrieren aber weiterhin die Gebundenheit von menschlicher Kultur an Sitte und Anstand. Seneca greift cultus animi in seinen moralischen Unterweisungen auf (Epistulae morales).
Im entstandenen Christentum veränderte sich die Einstellung gegenüber der menschlichen Kultur, gleichwohl blieben die bislang angeschnittenen Themen bestehen: Landwirtschaft, Gottesdienst, Erziehung. Tertullian, ein früher christlicher Schriftsteller, lehnte das, heute würde man sagen, Zurechtmachen (De cultu feminarum), von Frauen - und Männern - ab. Für ihn zählte nur, was von Gott kommt, in aller Ursprünglichkeit und Einfachheit. Diese Abweisung menschlicher Kultur findet ihren speziellen Ausdruck in den Predigten von Augustinus: cultura animi wird durch cultura Christi ersetzt (Sermones), durch Aufnahme von Ciceros Vergleich mit den Äckern, aber durch die Einsetzung von Gott als Ackersmann bzw. Bauer. Dies war der entscheidende Schritt, um die entstandene menschliche Kultur aus dem Blickfang der christlich lateinischen Überlieferung zu reißen.
Ohne es konzeptionell auf Kultur abgesehen zu haben, griffen Autoren aus den aufstrebenden oberitalienischen Städten die über Jahrhunderte entstandene christliche Kultur an. Profanes Leben hatte sich durch weltweiten Handel einen Raum erobert. Lorenzo Valla (Stanford), einer der interessantesten Autoren des Humanismus überhaupt, war Sprach-, Methoden- und Moralkritiker. Er hält der stoisch-christlichen Tugendlehre die Lust als etwas Natürliches, durchaus nicht Verdammenswertes entgegen und lässt den Protagonisten sogar zum Ehebruch auffordern (De voluptate). Die Kritik trifft nicht nur das Christentum, sondern reicht weit zurück, führt auch zur Ablehnung der stoischen Philosophie und ihrer römischen Varianten, schließlich zur Rehabilitierung der Philosophie Epikurs . Das zentrale gesellschaftliche Angebot des Protagonisten lautet, dem Staat, und damit auch der Kirche, keinen Einfluss auf die Gesinnung der Bürger zu erlauben. Dieser Vorschlag führt zu Fragestellungen, die heute noch in Theorie und Praxis beschäftigen - und sei es mit Bezug aufs Rauchen.
Mit der Ausbreitung des Humanismus etablierte sich der Begriff cultura ingenii, der die menschlichen Begabungen betonte und direkter die Erziehung und Bildung betraf als noch cultura animi. Gerne werden Erasmus und Morus angeführt. Man findet die neue Formulierung ebenso bei Justus Jonas, einem humanistisch gesinnten Reformator, der Luther nahe stand und ebenfalls zu Erasmus Kontakt unterhielt. Das zentrale Austauschmittel waren Briefe. Man kann geradezu von einem Netzwerk sprechen, in dem die Interessen durchaus unterschiedlich blieben: Erasmus war u.a. katholischer Priester, er setzte sich bis zum Lebensende für eine Versöhnung der gespaltenen Kirche ein, während die Reformatoren die Spaltung vorantrieben. Verbunden waren sie durch eine Toleranz, die in der traditionellen Kirche nicht gewährleistet wurde. Ein umfassender Angriff, wie ihn noch Valla ausgeführt hatte, blieb unter den Späteren aus. Gleichwohl landeten viele ihrer veröffentlichten Schriften auf dem Index der katholischen Kirche, darunter Das Lob der Torheit, von Erasmus verfasst.
Häufig wird die Kritik der Humanisten unterschätzt und eine mangelhafte systematische Orientierung veranschlagt. Diese Überheblichkeit, mit der die gesellschaftlichen Bedingungen bequem außer Acht gelassen werden, unterschlägt die Adressaten der Schriften und die gesellschaftliche Stoßrichtung: Geschrieben wurde für das neue gebildete Bürgertum. Es wurden Verbündete für gesellschaftliche Veränderungen gesucht. Vielleicht beschreibt diese Erläuterung die Ausrichtung von cultura ingenii historisch am angemessensten.
07 Während des Aufenthalts
Mich mit Sitten, Ethik und Moral aufzuhalten, war nicht unwichtig, doch die kürzlich unternommene Fahrt reicht nicht aus, die geistige Kultur der Gelehrten jener Zeiten zu skizzieren, wie ich es mir vorgenommen hatte. Mir bleibt kaum anderes übrig, als noch etwas zu verweilen. In der Renaissance wird übrigens hervorragende Musik geschrieben, wie diese reizvolle Villanella (YouTube) zeigt, mit der eine volkstümlich Form einbezogen wird.
Das Lied gehört freilich nicht zur Kultur, sondern ist Kunst, wie auch zu reden eine Kunst ist. Cultura ingenii bezieht sich nur auf die menschliche Anlage, die es ermöglicht, etwas entstehen zu lassen, ähnlich wie es Cicero mit cultura animi fasste, auch wenn erst die Erläuterung, der Vergleich mit einem zu bebauenden Acker, in etwa deutlich werden ließ, auf was Bezug genommen wurde.
Unsicher bin ich mir aber, ob die Konzepte mehr umfassen, als im Rahmen der Arbeit nahelag. Waren und sind musikalische Begabungen ebenso einbezogen? Ciceros Verweis auf die Philosophie, die zwar nicht wenig, u.a. Ethik als auch Rhetorik umfasst, bleibt dennoch sehr eingeschränkt, ebenso sind die Kontexte der Humanisten, in denen philologische, theologische und ethische Fragestellungen dominieren, arg begrenzt. Was ist davon zu halten? Ist Musik nicht ihr Fach, deshalb nicht erwähnenswert?
Ich sollte wohl beachten, dass es sich bei den Worten Kultur lediglich um Formulierungen handelt, die im Rahmen der Arbeit fielen, in Netzwerken verbreitet wurden, mehr nicht. Andere Gelehrte hätten sie oder ähnliche Worte auch in alternative Kontexte stellen können, z.B. in musikalische, wie auch immer. Meine Fragen bergen die Gefahr, die ganze Diskussion zu überfrachten. Besser ist es, die Villanella zu hören und viel Wein zu trinken.
Der sinnlich musikalische Ausdruck gewinnt an Relevanz, besonders der von menschlichen Stimmen. Zahlreiche Formen entstehen, die dem menschlichen Leben zugewandt sind, darunter Villanesche und Madrigali. Und das Erstaunliche: Es wurden musikalische Figuren entworfen und gebildet, die auf die Rhetorik verweisen, freilich melodisch und harmonisch ausgerichtet sind. Im Zentrum fluktuiert der menschliche Atem, sowohl in Ausdruck als auch Rhythmus, der Scherze und innige Liebesbekundungen äußert …
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