Ring der Narren. Chris Inken Soppa
Vor allem dachte Milton an seine unaufgeräumte Bude, in der die exakte Geradlinigkeit der vor ihm wartenden Polizeikluft deplatziert gewesen wäre.
„Sie hätten sich schon vor zwei Wochen bei uns auf dem Revier melden sollen. Haben Sie einen Anwalt?“
„Der Stoff“, sagte Milton. „Es war Worsted Tweed. Das ist interessant. Den trugen damals nur die Engländer.“
Der Polizist war noch jung, seine Kollegin besaß einen Vorbau, der sich aufrichtig gegen ihre unnachgiebige Jacke stemmte, und einen hellen Pferdeschwanz aus freundlichen großen Locken. Wieso eigentlich landeten vor allem die molligen Mädels beim Polizeidienst – diejenigen, deren Kurven sich mit dem straffen Schnitt der Uniform so gar nicht vertrugen? War es Masochismus? War es der Wunsch, einen schweren Frauenkörper in eine stromlinienförmige Waffe zu verwandeln? Oder stand etwa, wie bei Milton selbst, das Verlangen dahinter, die Autorität zu spüren, die solch strenges Material seinem Träger vermittelte? Dann müsste sie ihn eigentlich verstehen.
„Kenne ich nicht“, sagte der Polizist.
„Die deutschen Uniformen wurden damals aus Drillich gemacht“, erklärte Milton. „Drillich ist sehr robust. Die engmaschige Gewebestruktur kann bis zu zwanzigtausend Reiberunden aushalten, ohne auch nur zu pillen. Die engen Maschen bewirken allerdings auch noch etwas anderes.“
Die Polizistin griff sich mit beiden Händen in den Pferdeschwanz und riss ihn mit einem Ruck auseinander.
„Sie bewirken, dass sich das Material zunehmend steifer anfühlt“, fuhr Milton fort. „Vor allem Feuchtigkeit bringt die Fäden dazu, sich noch enger zusammenzuziehen. Drei Wochen Dienst im Nebel oder ein versehentlicher Guss aus der Feuerwehrspritze und schon ist der Stoff hart wie ein Brett.“
„Ah ja“, bemerkte die Polizistin mit aufkeimender Einfühlungskraft. „Das ist sicher unbequem.“
„Heute haben Sie diese Uniformen aus Chinotwill“, sagte Milton. „Seien Sie froh und dankbar.“
Auf dem beigefarbenen Oberschenkel des männlichen Polizisten entdeckte er Überreste fetter Bratensoße, dicht und dreidimensional wie ein abgestorbenes Stück Hornhaut.
„Bis zu einem gewissen Grad sind solche Hosen wasser- und fleckabweisend.“ Milton bückte sich und schabte den Fettrest von der Bügelfalte des Polizisten. „Hier.“
Auf der Hose war jetzt nur noch ein blasser Punkt zu erkennen. Milton präsentierte dem Polizisten den Fettpopel auf dem Handteller. „Ihr Stoff kann das ab. Selbst ein deftiges Mittagessen in der Polizeikantine, wo immer mal was daneben geht, hinterlässt keinen bleibenden Schaden.“
Der Polizist fegte Miltons Hand beiseite und stieß ihn mit dem Rücken gegen den Türrahmen. „Sie haben uns immer noch nicht gesagt, was Sie mit dieser Uniform wollten.“
„Zacharias“, mahnte seine Kollegin. „Keine Gewalt.“
Milton rieb sich die Schulter, die mit dem Schlüsselkasten kollidiert war. „Ich weiß ja nicht, worauf Sie so stehen. Latex? Gummi? Silikon? Merino? Oder doch lieber Ihre Twill-Hosen? Schließlich sind Sie ein Schutzmann, oder? Jeder hat seinen Fetisch, obwohl das viele nicht mal wissen. Bei mir ist es der Worsted Tweed. Ich konnte einfach nicht anders.“
„Sie konnten nicht anders als sich als Nazi zu verkleiden?“ Der Polizist Zacharias rang sichtlich um Selbstbeherrschung.
„Irgend jemandem bei der Feuerwehr muss es damals ähnlich gegangen sein“, sagte Milton. „Sonst hätte er die Klamotten ja aus Drillich machen lassen. Wie die ganzen anderen deutschen Uniformen auch.“
Die Wangen des Polizisten Zacharias ließen sich in sympathische Falten legen, sobald er lächelte, doch das Lächeln war ihm vergangen. Er glotzte Milton nur noch an, verständnislos, wie ein Fisch.
„Vielleicht hatten sie ja kein Drillich mehr“, flötete die Polizistin hilfsbereit dazwischen.
„Ach ja.“ Milton nickte. „Das Ende des Krieges. Die Befreier hatten bereits alle Ebenen unterwandert. Der Worsted Tweed war nur der Anfang. Dann kamen die Jeans und heute also diese Chinotwill-Hosen. Ich möchte wetten, die sind irgendwo in Asien hergestellt worden. Von putzigen unterernährten Kleinkindern mit braunen Augen. Ich an Ihrer Stelle würde mich schämen, so etwas zu tragen.“
Die Faust des Polizisten knallte gegen Miltons Nase. Mit dem Rücken zum Türrahmen ging Milton zu Boden.
Verständlicherweise betrachtete er sein unsicheres Expertentum mit Misstrauen. Es ging darum, im richtigen Moment den Mund zu halten. Da aber Milton wenig Gefühl für unregelmäßige Zeitverläufe besaß, wusste er auch nicht, wie sie sich zum eigenen Vorteil nutzen ließen. Der Sinn für fremde Rhythmen fehlte ihm. Die Synchronisation mit anderen Menschen blieb unvollständig, bruchstückhaft. Es fiel ihm oft schwer zu begreifen, was die Leute von ihm wollten. Sobald er die Botschaften anderer zu ergründen versuchte, wurde er in Gespräche verwickelt, aus denen er nur schwer wieder herausfand. Er gab immer zu viel oder zu wenig von sich preis. Und zum Schluss überwog das Gefühl, sinnlos Zeit vergeudet und sich dabei selbst gedemütigt zu haben.
„Irgendwann wird dir jemand einen Nagel durchs Hirn jagen, nur damit du endlich still bist“, prophezeite seine Schwester später, während sie ihm mit einem Wattebausch die blutende Nase abtupfte. „Du wirst enden wie Sisera im alten Testament. Der war wahrscheinlich ein großer Prediger. Genau wie du.“
„Sisera war kein Prediger, sondern ein Tyrann“, entgegnete Milton. „Ein Unterjocher der Israeliten. Außerdem hat er dabei geschlafen.“
„Aber bis dahin werden sich noch viele sensible Gemüter über deine Worte ärgern.“ Sie hatte gar nicht zugehört. „Ich frage mich, wie du das immer machst.“
„Ich mache gar nichts“, sagte Milton. „Ich will bloß meine Ruhe.“
Es stimmte, Sisera hatte geschlafen, als ihm Jael ihren Nagel durch den Kopf trieb. Ganz offenbar wollte er sterben. Seit seiner Kindheit bildete sich Milton ein, dass Schlafende eine geheime Macht ausübten. Als ganz kleiner Junge war er oft als erster aufgewacht und hatte dann seine schlafende Schwester beobachtet. Er verfolgte das leichte Auf und Ab ihres Atems im Stockbett unter ihm, lauschte ihren Geräuschen, die sich mit den Geräuschen im Haus und draußen auf der Straße zu einem Klangnetz verwoben. Das Quietschen der Straßenbahn, das Scheppern eines Mülleimerdeckels, das Gejohle von Schulkindern, das Ah! Ah! Ah! der Nachbarin störte die Menschen in ihrem Schlaf nicht, vielmehr schien es von ihnen auszugehen. Die Schlafenden waren der Mittelpunkt des Geschehens; sie bestimmten, in welcher Lautstärke und in welchem Rhythmus der kommende Tag heranschreiten sollte. Alles, was ihnen im Schlaf zustieß, hatten sie so geplant. Milton bewunderte die Kunst der Schlafenden, sich mühelos und selbstverständlich zum wichtigsten Teil der Welt zu erheben. Ein paradiesischer Zustand, der nur eine einzige Konsequenz erlaubte.
Im Alter von zwölf Jahren wurde Milton Langschläfer. Von da an war er für sein Schicksal selbst verantwortlich.
Saison Nummer Fünf
Milton steckte in einem Faschingskostüm. Es war nicht irgend ein Kostüm, sondern ein teures Erbstück, ein handgenähtes Kleid aus den Goldenen Zwanzigern mit herabgesetzter Taille und eng anliegenden Ärmeln, das einst einer grobknochigen Frau gehört haben musste. Es passte ihm wie angegossen.
Früher hatte er sich Jahr für Jahr kostümiert ins Getümmel der Straßenfastnacht gestürzt. Superman. Adenauer. Robinson Crusoe. Zeus. Bob Dylan. Und, mit weinrotem Samtsakko, weißen Strümpfen und flaschengrünen Kniebundhosen als König Ludwig von Bayern. Ein Riesenerfolg. Die Hexen und Närrinnen auf den Gassen waren hingerissen. Eine strenge Cleopatra begann sofort, ihre Finger mit den Strähnen seiner schwarzen Lockenperücke zu verflechten, noch ehe er ihr einen Becher Glühwein anbot. Milton hatte die Fremde sanft und entschlossen in den nächsten Hauseingang geschoben, als die Tür nach innen aufging und Milton mit Cleopatra in einen dunklen Flur stolperte. Sambaklänge dröhnten aus der benachbarten Besenwirtschaft. Milton nahm die Fremde bei der Hand und flüchtete mit ihr schmale