Schneeflöckchen, Mordsglöckchen. Susanne Rüster

Schneeflöckchen, Mordsglöckchen - Susanne Rüster


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und der Verdauungsvorgänge in ihrer Wohnung tilgt, so vielleicht auch die der Essens- und Gärungsprozesse in ihrer Mundhöhle. Ich esse so gern, wissen Sie, es schmeckt mir einfach zu gut, sagt Frau Lautermüller immer, wenn Rita ihr auf den kauenden Mund schaut, ohne ihr auf den kauenden Mund schauen zu wollen.

      Sechs Jahre wohnt Rita schon hier. Doch, es sind sechs. Aus der alten Wohnung musste sie raus. Eine dumme Geschichte, eine saudumme. Billiger und größer war die alte Wohnung in Neukölln. Aber sie musste weg von da. Nach dieser Geschichte. Das sagte ihr ein Gefühl damals, und auf solche Gefühle hört sie.

      Charlottenburg war weit weg. Und schick. Schlossnähe! Trotzdem gerade noch bezahlbar, weil Kaiser-Friedrich-Straße, Tiefparterre, Fenster in Auspuffhöhe.

      Wenn sie nach Hause kommt, schleicht sie die Stufen hinunter, immer so leise es geht, damit Frau Lautermüller sie nicht hört. Meistens gelingt es. Doch manchmal, wenn sie aus Versehen mit dem Schlüsselbund klappert, dann geht die spiegelverkehrte Tür von gegenüber auf, und Frau Lautermüller plappert los, kommt näher und näher, und immer verhält Rita sich richtig. Goldrichtig. Sie unterbricht das Aufschließen, bleibt vor der Tür stehen, sagt Tach und schließlich, wenn Frau Lautermüllers Wortfluss verödet ist, schönen Tach noch. Dann fummelt sie so lange an ihrem Schloss, bis Frau Lautermüllers Tür zufällt. Und auch dann wartet Rita immer noch dreißig Sekunden, oder fünfzig, bis sie sicher ist, dass Frau Lautermüller nichts vergessen hat zu erwähnen und hinter ihrer Tür bleibt, freilich durch den Spion schauend, das ist Rita klar. Frau Lautermüller lauert auf jede Gelegenheit, einen Blick in Ritas Wohnung zu erhaschen. Deshalb steht in Ritas Flur in unmittelbarer Nähe der Wohnungstür nichts. Einfach nichts. Und es hängt auch kein Bild an der Wand. Rita öffnet ihre Wohnungstür nie mehr als 45 Grad. Das reicht vollkommen aus, um fix in die Wohnung zu huschen – schließlich ist Rita schlanker, wenn auch nicht jünger als Frau Lautermüller – und genau so fix die Tür zuzuwerfen, abzuschließen, zweifach plus Sicherheitsriegel. Der 45 Grad große tortenstückförmige Einblick in ihre Wohnung verrät nichts. Neutral weiß gestrichen, sauber, ordentlich. Die Wand regelmäßig nachgeweißelt, der Terrazzoboden immer geputzt, im Einblickwinkel. All die Jahre. Es sind acht, bald neun, ja, tatsächlich, bald neun. Wohin rinnt die Zeit? Und warum, bitteschön, in solch einem Tempo?

      Frau Lautermüller schiebt sich vor.

      »Wir wollen’s doch schön haben hier im Haus.«

      Rita lässt sich nicht nach links abdrängen, kann aber nicht verhindern, dass sie unter Frau Lautermüllers Druck leicht nach rechts abdriftet, als die mit einem gezielten Griff den Türkranz mit den Sternen aus plissierter Goldfolie zur Probeansicht an Ritas Tür hält.

      »Haben Sie mal eine Reißzwecke?« Frau Lauterbach zeigt lächelnd ihre Zähne und drängt weiter vorwärts. Schon muss Rita einen Schritt zurück weichen, tritt mit einem Fuß in ihren Flur, gibt der Tür mit ihrer Ferse einen Schub, und nun steht die mindestens 22 Grad offen. Panik steigt Rita vom Magen aus die Brust hoch bis in die Kehle. Hat sie sich fast neun Jahre lang verteidigt, um jetzt zu kapitulieren? Gestern noch war Rita stark, und heute schon ist ein ganzer Lebensabschnitt weg. Vorbei gerast auf Auspuffhöhe. Und sie ist schwach.

      22 Grad, der spitze weiße Einblickwinkel.

      Eine Reißzwecke.

      »Nein«, sagt Rita.

      Frau Lautermüller wird gewinnen. Sie wird nicht umkehren und diese Reißzwecke aus ihrer eigenen Wohnung holen. Würde sie das tun, so würde Rita sofort in ihrer Wohnung verschwinden. Mir ist schlecht. Mein Telefon klingelt. Ich habe Besuch von meiner kranken Mutter. Irgendein Blödsinn würde ihr einfallen, und sie würde Frau Lautermüller die Tür vor der Nase zuschlagen. Aber genau das weiß Frau Lautermüller, und deshalb drängt die weiter vorwärts mit ihrem korsettgepanzerten Busen gegen Ritas halterlosen.

      »Eine kleine Reißzwecke, und schon ist’s auch bei Ihnen weihnachtlich!« Frau Lautermüllers Pantolettenspitze stößt gegen die Kaiserstüte. Glas scheppert. Rita stockt der Atem. Vorsichtig nimmt sie die blasse, knittrige Tüte wieder vom Boden auf und schaut hinein.

      »Oh verzeihen Sie! Hab ich was kaputt gemacht?« Auch Frau Lautermüller will ihre Nase hinein stecken.

      »Nein, nichts passiert!« Rita hält die Griffe der Tüte zusammen. Noch ist nichts passiert, aber Frau Lautermüllers Drängen ist ungebrochen. Rita weicht einen Schritt zurück, ihre Kräfte lassen nach, noch einmal stößt die Ferse die Tür an. 90 Grad weit klafft der Blickwinkel.

      Rita sieht, wie sich Frau Lautermüllers Pupillen weiten, wie die Kameralinsen sich öffnen, um zu erfassen, was in Ritas Flur steht, liegt, lehnt, hängt, ist.

      »Ach«, sagt Frau Lautermüller.

      »Tja«, sagt Rita.

      Seltsam ist der Beginn der Kapitulation. Wenn der Damm bricht, wenn das erste Becken geflutet wird, breitet Ruhe sich aus.

      Rita hält ihre Tüten fest und rührt sich nicht. Lüstern züngelnd überschwemmen Frau Lautermüllers Blicke Ritas Wohnung. Vom Flur aus springt die Flut getrieben von raschen Wimpernschlägen, leckt über die Zeitungsstapel, die mannshoch wie betrunken im Rahmen der Wohnzimmertür lehnen. Schnittmusterzeitungen ab 1961, Zeitschriften, aus denen noch die Strickanleitungen, Kochrezepte, Bastelideen und die Gesundheitstipps ausgeschnitten werden müssen. Weiter schwappt die Flut über den Nähmaschinentisch, auf dem die Bananenkisten stehen, in denen Rita ihre Sammlung Papprollen von Küchen- und Klopapier aufbewahrt. An voll beladenen Kleiderständern, die den Blick ins Wohnzimmer versperren, bricht sich die Flut.

      »Lauter Müll!«, entfährt es Frau Lautermüller. Sie hat aufgehört zu kauen. Ihre Nase ist gerümpft, ihre Mundwinkel abwärts verzogen. Ihr Blick schweift, versucht den Flur entlang weiter ins Innere der Wohnung zu kriechen, vorsichtig durch die Lücke zwischen einem Turm Umzugskartons und einer Glasvitrine voller bunter Gläser, Vasen und Schalen. Durch die geschlossene Tür am Ende des Flurs versucht er sich zu bohren.

      Müll! Keine Ahnung hat die Maschine. Vorsichtig stellt Rita ihre Tüten neben der Vitrine ab. Die Seitenwand hat einen Sprung von unten links bis oben rechts, verklebt mit braunem Band.

      Mit den gespitzten Wurstfingern ihrer linken Hand nimmt Frau Lautermüller eine der nackten Klopapierrollen auf.

      »Also, ich helfe gern. Wollen wir das nicht gleich mal in die blaue Tonne bringen?« An ihrer Rechten hängt irgendwie zusammenhanglos der Kranz mit den Sternen aus plissierter Goldfolie. Über die Papprollen hat sie ihn wohl vergessen. Und die Reißzwecke auch.

      Seit letztem Sommer – oder war es vorletzer? – hebt Rita jede Rolle auf. Auch von öffentlichen Toiletten, wenn sie gut erhalten sind. Die lange Nacht der Museen hatte ihr die geniale Idee beschert. Im Schloss waren die Menschenmassen herumgelaufen, guckten sich alles an, aber das wirklich Interessante sahen sie nicht. Natürlich nicht. Phantasie, Vorstellungsvermögen, Sinn fürs Kreative, für die Kunst! Ist nicht jedem gegeben.

      Die Prismen der Kristalllüster funkelten. Das sahen sie. Was sie nicht sahen, das waren die Aufhängungen. Und darauf kommt es an. Sie begriffen nicht, dass ihre lächerlichen Kronleuchterimitationen zu Hause niemals eine Wirkung wie die Lüster im Schloss Charlottenburg erzielen können, egal wie viele Prismen sie haben, und egal wie teuer sie sind, weil sie nämlich an geschmacklosen Messingketten baumeln. Die Aufhängungen der Schloss-Lüster aber sind kaschiert mit Brokatstoffen, mit Seidenkordeln, mit Quasten, farblich abgestimmt auf die Tapeten, die Fauteuils, die Recamieren, die Teppiche. Das ist der Kniff, der Perfektion ausmacht! Einen der uniformierten Aufpasser hatte Rita einfach gefragt, und er hatte geplaudert und sie durch die Säle geführt.

      Seit Jahren hatte sie kein so anregendes Gespräch mehr geführt.

      Die Stangen, an denen die Lüster hängen, stecken in Papprollen, und die werden mit Schaumstoff, Krepppapier und Klebeband umwickelt, bevor die letzte, die schöne Hülle darum drapiert wird. Oben, dort wo die Aufhängung den Plafond touchiert, hat die Rolle einen größeren Durchmesser, öffnet sich trichterförmig. Um diesen Trichter, der die gewaltigen Deckenhaken und die Trauben von Lüsterklemmen kaschiert, wird Seidenkordel gewickelt.


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