Schneeflöckchen, Mordsglöckchen. Susanne Rüster

Schneeflöckchen, Mordsglöckchen - Susanne Rüster


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dazu …«

      Stechow lauscht gerührt der Unterhaltung zwischen seinem Budennachbarn und der Kleinen mit den schwarzen Locken. In dem Alter sind sie noch für die Weihnachtsgeschichte zu begeistern, später zählen nur noch die Geschenke. Er greift in das Glas mit Honigdrops und reicht dem Mädchen lächelnd eine Handvoll hinüber – von denen hat er etliche Kilo, außerdem gehen die dieses Jahr sowieso nicht so gut. »Du bist doch nicht etwa ganz alleine hier, oder?«

      »Alle Leckermäuler sind hier«, antwortet Luise und stopft sich mehrere Bonbons auf einmal in den Mund. »Außer Ruben – der hat die Krippe!«

      »Du meinst die Grippe!« berichtigt Stechow.

      »Und wo sind die anderen Leckermäuler?«, fragt Kapuste. »Sicher vermissen sie dich schon … «

      »Die essen Wurst. Ich nicht. Ich bin Vegetarierin!«

      In diesem Augenblick taucht Jens auf. »Luise, kommst du? Wir warten alle auf dich …«

      Linus hustet heftig. Alma klopft ihm auf den Rücken. Linus beginnt zu keuchen, japst nach Luft – und Alma entdeckt den angebissenen Lebkuchen zwischen seinen Fingern. »Linus! Um Himmels willen, woher hast du das? Du weißt doch, dass Nüsse für dich … Karin! Hast du Linus’ Medikamente dabei?«

      Karin kramt in ihrem Rucksack nach dem Antihistamin. Zum Glück ist Alma abgelenkt und hat nichts von Luises kurzzeitigem Verschwinden mitbekommen, denkt sie.

      Linus’ Anfall ist abgeklungen. Die Kleinen haben ihre Bratwürste verdrückt, und Alma drängt zum Weitergehen. Sie beginnt durchzuzählen: Luise, Johanna, Linus, Bruno … Wo ist Sophie? Zum Kuckuck, da passt man eine Sekunde nicht auf …

      »Sophie? Sophiiie!«

      Drei Erzieheraugenpaare schweifen suchend über den Platz.

      Almas Stimme überschlägt sich: »Wo habt ihr sie zuletzt gesehen?«

      »Keine Panik jetzt«, versucht Jens Alma zu beruhigen. »Sie kann nicht weit sein …«

      »Ich erinnere mich, dass sie unbedingt noch mal zum Weihnachtsmann wollte«, sagt Karin vorsichtig.

      Almas Kopf wirbelt herum. »Zum Weihnachtsmann? Wo ist der verdammte Weihnachtsmann jetzt?«

      Der Markt ist inzwischen voll von Menschen, in dem Gedränge keine Spur von Sophie oder dem Weihnachtsmann.

      Almas Handy schrillt. »Ja, hallo?«

      Hardenberg. Ausgerechnet jetzt. »Alma? Kann es sein, dass Sophie im Park herumläuft … zusammen mit so einem Nikolaus-Typen?«

      Scheiße. Wie wird sie das nur erklären? »Jens, kommst du bitte mit mir? Karin, ich verlasse mich darauf, dass du dich mit den Kindern keinen Millimeter von der Stelle bewegst, okay?«

      Sie schieben sich zwischen den Menschen durch Richtung Schlossgarten, Alma presst das Handy ans Ohr. »Herr Hardenberg, wo haben Sie sie gesehen? Ich meine, wo sind Sophie und der Weihnachtsmann in den Park rein?«

      »Bei der Orangerie – ich kann sie jetzt nirgendwo mehr sehen … «

      Alma und Jens biegen ab zur Orangerie; sie können Hardenberg jetzt schon am Eingang stehen sehen. Der Schlossgarten liegt ausgestorben in der Dämmerung. Gleich wird es dunkel sein …

      Alma denkt: Weiter hinten, am Teich, haben sie das Mädchen letztes Jahr gefunden, am frühen Abend. Sie war noch nicht lange tot. In den Zeitungen stand, dass sie gerade mal eine Stunde vermisst wurde.

      »Alma, was ist hier los? Irgendwas stimmt da doch nicht!«, poltert Hardenberg. »Und wo sind die anderen?«

      »Wir haben Sophie kurz aus den Augen verloren«, versucht Jens zu erklären.

      »Sie haben was? Wollen sie sagen, es war überhaupt nicht abgestimmt, dass Sophie mit diesem Nikolaus …?«

      »Herr Hardenberg, bitte, wir …« Alma ist schweißgebadet.

      Hardenberg sprintet los, hinein in die Parkanlage – Alma und Jens hinterher. Der hart gefrorene Weg schlängelt sich zwischen abgedeckten Rabatten zum Teich hin.

      Nach etwa zweihundert Metern stolpert Hardenberg über einen Gegenstand. Er hebt ihn auf, starrt entsetzt.

      Ein rosa Lillifee-Rucksack.

      Bitte, lass es nicht zu spät sein, fleht Alma innerlich.

      Sie hasten weiter zum Teich. Im Halbdunkel, beim Mausoleum, entdecken sie sie endlich.

      Sophie zerrt an der Hand des Weihnachtsmannes, offenbar versucht sie sich loszureißen …

      »Sophie!« kreischt Alma.

      »Lass sofort das Kind los, du Schwein!« Hardenberg prescht nach vorne.

      Der Weihnachtsmann taumelt ein paar Meter zurück – und rennt los.

      Alma schließt die verwirrte Sophie in die Arme. »Hat er dir was getan?«

      Sophie entwindet sich Almas Umklammerung. »Weihnachtsmann!«, ruft sie, »bleib hier, du hast doch noch gar nicht mein Schloss gesehen!«

      Aber der Weihnachtsmann hat Reißaus genommen, zurück zum Markt. Womöglich hofft er, im Getümmel untertauchen zu können, Hardenberg und Jens jedoch sind ihm dicht auf den Fersen.

      Am Stand mit den gerösteten Maronen lehnt sich der Weihnachtsmann schwer atmend gegen die Holzbalustrade. Da packen ihn Hardenbergs Hände am roten Kapuzenkragen. Der Weihnachtsmann versucht sich zu befreien, zerrt in die eine Richtung, Hardenberg in die andere. Die Kragennaht reißt, und der Weihnachtsmann stürzt vornüber – mit dem Gesicht auf das Blech mit den brutzelnden Maronen. Der Gestank verschmorten Polyesters und verbrannter Haut mischt sich mit vorweihnachtlichen Düften.

      Um den Maronenstand hat sich eine Traube von Schaulustigen gebildet.

      Kapuste hat bereits die Sanitäter alarmiert.

      Die Maronenverkäuferin streichelt dem am Boden hockenden jungen Mann im Weihnachtsmannkostüm mitfühlend die Hand. Er wimmert vor Schmerzen.

      Hardenberg ist kreidebleich. Er telefoniert, eingekeilt zwischen zwei Männern vom Wachschutz, mit seinem Rechtsanwalt.

      Jens kaut betreten an den Fingernägeln.

      »Sophie, bist du ganz sicher, dass der Weihnachtsmann dich nicht irgendwo angefasst hat, wo du es nicht möchtest?«, fragt Alma zum wiederholten Mal.

      Sophie stampft mit dem Fuß auf den Boden auf. »Ich wollte dem Weihnachtsmann mein Königinschloss zeigen, aber er hat gesagt, er muss mich zurückbringen. Und jetzt sind seine Augen ganz verbrannt, und er kann mein Schloss gar nicht mehr sehen!«

      Alma zerrt Sophie schnell weg vom Maronenstand, hinüber zur Wurstbude, wo Karin mit den anderen Kindern wartet.

      »Warum hat Sophies Papa den Weihnachtsmann gehauen?«, fragt Linus vorwurfsvoll.

      Alma stöhnt und reibt sich die Schläfen. Sie befürchtet, sie wird heute noch später als sonst nach Hause kommen.

      Ein Weihnachtsbaum nach dem anderen erlischt. Fast alle Verkaufsstände und Zelte sind verrammelt, Kapuste hat seinen Krippenfigurenladen bereits vor einer Stunde dichtgemacht.

      An den Mülleimern tobt der allabendliche Krieg zwischen Krähen und den Möwen vom nahen Kanal um übrig gebliebene Leckerbissen.

      Stechow schließt seine Bude ab. Ein Wachmann patrouilliert vorbei, Stechow nickt ihm freundlich zu.

      Die Temperatur ist unter null gesunken, es wird eine eiskalte Nacht werden.

      Trotzdem schwitzt Stechow.

      Die hübschen schwarzen Löckchen … er kriegt sie gar nicht mehr aus dem Kopf. Je länger er an die Kleine denkt, desto heißer wird ihm.

      Luischen Leckermäulchen … wie werden wir es uns schmecken lassen!


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