Stein mit Hörnern. Liselotte Welskopf-Henrich

Stein mit Hörnern - Liselotte Welskopf-Henrich


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Sie kennen die Verhältnisse und die Menschen hier von Kindheit an und vermutlich besser als ich selbst. Vor allem sehen Sie sich die neue Schulranch des Stammes an. Bei allem Wohlwollen für dieses gemeinnützige Unternehmen – ich weiß doch nicht, ob dafür schon die rechte Basis gefunden ist, personell und finanziell. Mr King, der sich ehrenamtlich als Ausbildungskraft zur Verfügung gestellt hatte, fällt voraussichtlich noch für lange Zeit, vielleicht ganz aus. Der Stammesrat müsste hauptamtliche Lehrkräfte einstellen und besolden, aber das ist unmöglich. Viel zu teuer. Also bitte, sehen Sie sich unter anderem gerade in dieser Angelegenheit um, da die Entscheidungen dringend zu werden beginnen, nachdem wir sie monatelang verschleppt haben.«

      Sidney Bighorn hatte sich eine Notiz gemacht, obgleich das völlig überflüssig war. Was er soeben erfahren hatte, behielt er auch ohne Merkbuch. Sein persönlicher Feind, Joe King, fiel möglicherweise ganz aus. Sidney hatte sich beim Anhören von Mr Browns Bemerkungen vollständig beherrscht. Es hätte sich nicht geschickt, seine unsachlichen Gefühle zu verraten, das hätte seinen Zielen und Zwecken nur geschadet. Er erkundigte sich nicht einmal, warum King möglicherweise für immer »ausfiel«. Das musste er andernorts erfragen.

      Zunächst fuhr Sidney drei Häuser weiter zu dem Stammesgericht. Den anderen Wagen, den Mrs Hamilton steuerte, sah er eben um die Kurve biegen. Sie war zu einer Schule unterwegs, um dort ihr gefürchtetes Amt auszuüben. Sidney blieb sein eigener Herr.

      Als er das kleine Gerichtsgebäude mit seinen Amtsräumen und dem Verhandlungssaal betrat, stürmten Erinnerungen auf ihn ein, obgleich er ihnen nicht Raum geben wollte. Hier hatte seine Laufbahn begonnen und war kurz darauf unterbrochen worden. Hier hatte er, eben vom College kommend, seine Triumphe geschlürft, hier hatte er seine Niederlage bis zum letzten gallenbitteren Tropfen ausgekostet. Hier würde er sich wieder durchsetzen. Mit vorsichtigen Schritten wollte er beginnen, von neuem Fuß zu fassen. Er klopfte an der Tür des Dienstzimmers von Mr Crazy Eagle.

      Auf die Aufforderung hin einzutreten, öffnete er. Der junge indianische Richter war blind. An seiner Seite saß eine junge Frau, eine Indianerin. Sidney, der ein gutes Personen- und Namensgedächtnis besaß, erkannte sie als Erika Cramer. Sie war eine der Betreuerinnen an dem kleinen Internat einer der Reservationsschulen gewesen und nun offenbar anstelle des überalterten Runzelmann als Hilfskraft für den Blinden ausgewählt worden. Erika Cramer erwiderte Sidneys Gruß nur sehr kurz und erklärte dann dem Blinden, wen er vor sich habe.

      Ed Crazy Eagles Augen waren tot. Auch alle seine Züge verschlossen sich.

      Sidney Bighorn fühlte keine Scham mehr und noch keinen Triumph.

      »Ich komme im Auftrag der Distriktverwaltung, Mr Crazy Eagle. Man interessiert sich dort für die Entwicklung der Kriminalität auf der Reservation.«

      »Im Augenblick rückläufig.«

      »Würden Sie mir bitte die Zahlen geben?«

      Erika erhielt den Auftrag, den Ordner mit den statistischen Angaben vorzulegen. Sie tat es mit gesenkten Lidern.

      Sidney streichelte seine Nase. Er wusste nicht, dass er es tat. Wäre es ihm bewusst gewesen, er hätte es unterlassen. Er blätterte in den Unterlagen, die der Ordner enthielt.

      »Diebstahl war schon immer äußerst selten. Die Schlägereien in Trunkenheit haben also nachgelassen?«

      Sidney sprach von Trunkenheit, ohne rot zu werden. Er hatte sich in der Gewalt. An die Tatsache, dass er selbst für Chief President Jimmy White Horse Whisky geschmuggelt und sich dadurch strafbar gemacht hatte, wünschte er nicht zu denken. Niemand hatte Anlass, daran zu denken, denn es war damals keine Anzeige gegen ihn erstattet worden, um den Ruf des Stammes und des Stammesgerichtes, dem er als Mitglied angehört hatte, nicht zu gefährden. Sidney war allerdings aus Furcht vor Joe King, der die Sache aufgedeckt hatte, von seinem Amt als sehr junger Staatsanwalt zurückgetreten. Jetzt aber besaß niemand mehr eine Handhabe, gegen ihn vorzugehen. Er war nicht vorbestraft, und die weiße Verwaltung wusste nichts von der Sache. Das Vergehen war um des Stammesansehens willen vertuscht worden. Sidney genoss den Vorteil.

      Der Blinde wusste das alles; die Angelegenheit war durch seine Hände gegangen.

      »Wie erklären Sie sich den erfreulichen Rückgang der Gewaltvergehen in Trunkenheit, Mr Crazy Eagle?«

      »Der Schmuggel hat nachgelassen, seitdem O’Connor, New City, im Zuchthaus sitzt und seine Schwester Esma Horwood des Landes verwiesen wurde.«

      »Sie sagen ›hat nachgelassen‹. Das bedeutet, dass der Schmuggel noch immer nicht aufgehört hat?«

      »Das bedeutet, Mr Bighorn, dass ich nicht feststellen kann, ob der Schmuggel völlig aufgehört hat. Das Reservationsgebiet ist weit und einsam, und die Straßen werden nicht kontrolliert. Sie wissen selbst, wie leicht es ist, ein paar Flaschen über die Grenze zu uns zu bringen.«

      Sidney wurde nun doch rot, und er war sich bewusst, dass Erika das sehen konnte.

      »Ein paar Flaschen, ja. Aber wie steht es mit neuen Verbindungen nach New City? Es ging die erstaunliche Meldung durch die Zeitungen, dass ein berüchtigter Verbrecher, Gangster und vermutlicher Mörder aus der Haft entlassen, der über ihn verhängten Polizeiaufsicht entronnen sei und dass seine Spur nach New City weise. Sie kennen die Meldung?«

      »Über Leonard Lee? Ja.«

      »Hat man weiter von ihm gehört?«

      »Es sind bei mir keine Verbrechen zur Anzeige gekommen, die mit seiner Person zusammenhängen könnten.«

      »Esmeralda O’Connor, die ausgewiesene Rauschgifthändlerin, ist illegal wieder eingewandert.«

      »Sie wissen mehr als ich, Mr Bighorn.«

      »Wie steht es jetzt um die ehemalige Kneipe O’Connor?«

      »Dies ist Sache der Polizei von New City, nicht die unsere. Wenn Sie mehr erfahren wollen, müssen Sie sich an Sheriff Crawford wenden.«

      »Nicht an Elgin?«

      »Nein. Nicht an Richter Elgin. An den Sheriff, der solche Angelegenheiten zuerst bearbeitet.«

      Sidney Bighorn glitt über die Bemerkung hinweg.

      »Erinnern Sie sich daran, Mr Crazy Eagle, dass Joe King vor Jahren mit Leonard Lee zusammen vor Gericht stand? In einem Prozess wegen schweren Raubes und in einem Gangstermordprozess.«

      »Ich erinnere mich, dass uns die Akten zugänglich gemacht wurden. King und Lee gehörten damals feindlichen Gangs an.«

      »Die Unterwelt mordet sich untereinander, aber gegen das Gesetz halten sie zusammen.«

      »Wir kommen von der Sache ab, Mr Bighorn. Die Gewaltvergehen in Trunkenheit haben bei uns also nachgelassen.«

      »Sehr erfreulich …«

      » … und ein Verdienst von Mr King, der uns half, gegen das Schmuggelnest vorzugehen.«

      »Ja, das hat er getan.«

      Als Sidney dies sagte, arbeiteten seine Lippen. Er wollte Ironie bewerkstelligen und vermochte es doch nicht. Es war die reine, unbewältigte Wut, die in ihm wühlte, sobald er ein Lob für Joe King hören musste. Er verabschiedete sich, denn die Miene von Miss Erika Cramer missfiel ihm in diesem Augenblick aufs äußerste.

      Sein erstes Wiederauftreten bei Crazy Eagle war nicht übel, aber letzten Endes doch nicht so wirkungsvoll verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Er wünschte, sich noch bei dem alten Präsidenten des Stammesgerichts sehen zu lassen, erfuhr jedoch, dass dieser sich vor wenigen Tagen aus seinem Amt zurückgezogen habe. Darüber konnte man sich Gedanken verschiedener Art, verbunden mit gefühlsmäßig betonten Erinnerungen an einen alten, autoritativen Mann und seine Kanten und Ecken machen. In Sidney leuchtete nur ein einziger Gedanke auf. Eine Stelle war frei geworden.

      Sidney begab sich wieder in den Dienstwagen. Er war von Brown gebeten worden, die Schulranch zu überprüfen. Die Schulranch, ins Leben gerufen, um junge Reservationsangehörige als Züchter und als Cowboys auszubilden, war Joe Kings Lieblingsidee; die Gründung war geradezu seine fixe Idee


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