Der wandernde Krieg - Sergej. Michael Schreckenberg

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Tag genommen. Sie waren wahnsinnig lieb und haben gar keine Fragen gestellt und haben einfach so getan, als würde ich gerade aus dem Urlaub kommen und hätte immer bei ihnen gewohnt.

      Und es gibt drei tolle Sachen zu berichten:

      1. Fletch hat mir einen Job besorgt. Er hat letzte Woche einen Deutschen erwischt, der zu schnell gefahren ist. DURCH GRIZZLAND!!! Ich dachte, das Ortsschild bremst jedes Auto automatisch ab. Na ja, jedenfalls war der Typ wohl total nett und Fletch hat sich gut mit ihm verstanden (trotz Strafe und allem). Der Deutsche, Dirk heißt er, ist dann in der Stadt geblieben, weil er es eigentlich gar nicht eilig hatte, und abends haben Fletch und er sich zufällig im Supermarkt getroffen, und Fletch hat ihn für den nächsten Abend eingeladen. Und als sie dann so da saßen und redeten, stellte sich heraus, dass Dirk Fotograf ist. In Europa wohl eine ziemlich große Nummer, und er sucht jetzt jemanden, der für ihn die Kontakte mit amerikanischen Agenturen macht und hier ein paar Dinge für ihn managt und so. Fletch hat ihn angerufen, sobald er wusste, dass ich zurückkomme, und ihm von mir erzählt, und Dirk meinte, das wäre gut, wenn ich so gut Deutsch könnte und mit meinen alten Kontakte von Getty, er hätte noch ein paar Kollegen, die ähnliche Probleme hätten wie er. Er will sich jedenfalls übermorgen mit mir treffen, und wenn ich mich nicht ganz blöd anstelle, kriege ich den Job mit Sicherheit, hat Jan gesagt. Hat manchmal seine Vorteile, wenn dein Bruder der Dorfbulle ist.

      2. Jan ist schwanger. Ich werde Tante, hurra!!!!!!!!!!!!

      3. Fletch hat meinen Eltern gesagt, wenn es ein Junge wird, wollen sie ihn Bart oder Homer nennen. Seitdem sprechen sie nicht mehr mit ihm. Es war eigentlich ein Scherz, wenn es ein Junge wird, soll er Carl heißen (was ich auch nicht besser finde als Bart oder Homer), aber Fletch meint, er sagt ihnen das erst, wenn sie wieder mit ihm sprechen.

      Ich werde müde, Liebes. Vergiss mich nicht, ich vergesse dich auch nicht, und wir sehen uns bestimmt wieder.

      Alles Liebe

      Deine Erin

       Aus Recha Golds Tagebuch

       Dienstag, 20. Juli, abends

      Endlich komme ich mal wieder dazu, ins Tagebuch zu schreiben. Ich bin am Samstagmorgen in der Redaktion aufgewacht. Freitagabend war Stadtrat, Anhörung wg. neuem Industriegebiet, Anwohnerprotest etc., ging heiß her, und anstatt einfach nach Hause zu fahren, habe ich dumme Kuh gedacht, fahr eben noch in die Redaktion und schreib das auf.

      Aufgewacht mit dem Kopf auf dem Schreibtisch. Ergebnis: Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und ein Bericht, von dem ich nur die Hälfte verstehe, weil der Rest aus kryptischen Stichworten besteht. Scheiße. Recha, Recha, Recha, das ist es nicht wert. Memo: Ich will nicht, dass auf meinem Grabstein „Gestorben für die LNN“ steht. Ganz sicher nicht.

      Den Rest vom Samstag habe ich gepennt. Ach nein, war abends in der Videothek. Gefunden: „Der Mann mit den zwei Gehirnen“. Sehr lustig. Trotzdem ist alleine DVDs gucken ziemlich doof.

      Sonntag in der Redaktion den Artikel neu geschrieben. Gegen Mittag kam Schümer, das alte Arschloch, und ich bereute sofort, dass ich den Minirock anhatte. Er hat mich so schnell mit den Augen ausgezogen, dass ich mir am liebsten ein Handtuch umgewickelt hätte. BAH! BAH! BAH! Aber der Artikel ist gut geworden, hat selbst Schümer gefallen. Und er hat mich laaaaaaaaaaange gelobt. Und ich habe laaaaaaaaaaange in seinem Büro gestanden. In dem gaaaaaaaaaaanz kurzen Rock. Brrrrrrrrrrrrrr!!!

      Später im Freibad gewesen mit Melanie. Abends noch mal „Der Mann mit den zwei Gehirnen“. Mit Melanie war er sogar doppelt so lustig.

      Montag war Trubel in der Redaktion. Ein Irrer ist abgehauen, Samstag schon, oben im Münsterland oder so. Ziemlich hartes Kaliber, hat vor drei Jahren an die 20 Menschen ermordet, bevor sie ihn erwischt haben. Auf ziemlich eklige Art. War ein Photo dabei, sieht eigentlich ziemlich normal aus, total unauffällig, abgesehen von einer komischen Narbe auf der Stirn. Ich glaube nicht, dass ich ihn erkennen würde. Obwohl ich das Gefühl habe, dass ich ihn schon mal irgendwo gesehen habe. Aber das hat man bei diesem Typ Mann häufig. Außerdem war der Fall vor drei Jahren überall in der Presse, da habe ich bestimmt einige Photos gesehen. Wir hatten ihn natürlich in der Montagsausgabe, und jeder paranoide Arsch in Langenrath will ihn gesehen haben. Die meisten am Samstag, ein paar am Sonntag und ein ganz großes Genie schon am Donnerstag. Und wer darf all die treuen Leser und Abonnenten besuchen und sich die schizophrene Kacke anhören?

      BINGO!

      Als wenn das nicht genug wäre, haben sie mir heute Morgen noch ein Interview aufgebrummt. Montag hat jemand das Gut Neurath gekauft. Nach gottweißwievielen Jahren. Das war WIRKLICH eine Nachricht, die mich interessierte, vor allem, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wer den vermoderten Kasten noch haben will. Also bin ich rausgefahren und habe den Typ interviewt.

      Ich habe noch nie einen so seltsamen Menschen getroffen. Ich weiß immer noch nicht, was ich von ihm halten soll. Er heißt Bodo von Reudh. Sagt er. Ich halte den Namen für falsch. Ich halte den ganzen Typen für falsch. Irgendwas stimmt nicht mit ihm, aber ich weiß nicht, was. Er stinkt aus jeder Pore nach Geld und ist von Beruf Sohn. Darauf läuft es hinaus, er murmelte etwas von großer Erbschaft, Traum seines Lebens etc. Will das ganze Gut renovieren und darin wohnen. Er tänzelte mit mir durch diese verkommene Wildnis, die er abwechselnd „Park“ und „Garten“ nannte, wie ein Royal mit der Starreporterin, und er wollte, dass ich denke, dass er sich auch so fühlt. Aber er hat mich die ganze Zeit beobachtet. Und abgeschätzt. Und ich hatte unter all der Freundlichkeit und herablassenden Jovialität das Gefühl, er überlegt, ob ich ein gutes Mittagessen abgebe. Er hat seltsame Augen. Und wenn er lächelt, kriege ich Panikattacken. Ich habe zwischendurch ehrlich überlegt, ob er wohl der irre Killer ist, aber das ist natürlich Quatsch, er sieht ihm nicht im Geringsten ähnlich. Und andererseits ist er dann wieder irrsinnig charmant. Ich habe gemerkt, dass ich ihm glauben will, alles glauben, seinen Namen, seine Erbschaft, dass er mich wirklich mag, all das. Ich wollte einerseits nur noch weg und andererseits die ganze Zeit neben ihm sitzen und ihm zuhören. So was habe ich wirklich noch nie erlebt. Ich war aber letztlich froh, als ich abhauen konnte, er verabschiedete sich mit diesem komischen Grinsen, und ich hätte schreien können.

      Zurück in der Redaktion habe ich Gustav Wegner angerufen, den alten Hobbydenunzianten. Ich wollte mir mal ein paar Geschichten über den neuen Nachbarn anhören. Ich war sicher, dass Wegner ihn schon gesehen und begutachtet hatte. Hatte er auch, aber er hatte dermaßen viel Kreide gefressen, dass ich ihn kaum wiedererkannt habe. Wegner, der sonst versucht, jedes Kind anzuzeigen, das über seinen Rasen läuft, und regelmäßig in Leserbriefen gegen die Überfremdung von Langenrath wettert und überhaupt auf alles und jeden schimpft, erzählte mir so begeistert von dem „jungen Herrn von Reudh“ und den „großen Plänen, die er mit Neurath hat“ (von denen hatte der junge Herr mir nichts erzählt, und Wegner konnte mir auch nicht genau sagen, worum es geht), dass der Schleim fast aus dem Hörer tropfte. Ich werde dem jungen Herrn jedenfalls auf die Finger sehen. Bei Wegners Begeisterung und Wortwahl zieht der da womöglich irgendein Neonazi-Camp oder so was auf. Nicht mit mir!

      Vorhin habe ich dann noch den letzten Paranoiker besucht, den, der den Irren schon am Donnerstag gesehen hatte. Eigentlich ein netter Kerl namens Andreas Wingfeld, so Anfang dreißig, sehr lieb und höflich, aber total durchgeknallt. Wie sich herausstellte, hatte er ihn nicht in natura gesehen, sondern in einem Traum. In dem Traum hat er Feuer gesehen und schreiende Menschen und Krieg und Blut und natürlich den Irren mittendrin, und die Menschen fielen tot um, wo er ging, und wo ging er? Klar: direkt durch Langenrath. Ich hörte mir den Mist eine Dreiviertelstunde an (kürzer ging nicht, er hatte Kaffee und Kuchen gemacht), verkniff mir, nach Hörnern, Schwänzen und Bocksbeinen zu fragen, und machte dann, dass ich wegkam. Jetzt wird erst mal geschlafen. Ich hoffe, ich kann mal wieder durchschlafen, aber ich befürchte, ich träume von meinen heutigen Begegnungen mit dem Irrsinn. Gute Nacht, Tagebuch.

       Das war WIRKLICH eine Nachricht …

      Auch Werner Harnischfeger hielt den Namen Bodo von Reudh für falsch. Aber das hatte ihn nicht interessiert,


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