Frieden - eine verlorene Kunst?. Stephan Elbern
Ägypten, Babylon, Assyrien, Mitanni, Mykene sowie dem Hethiterreich (um 1450 – um 1200 v. Chr.); ihre Gleichberechtigung manifestierte sich in der gegenseitigen Anrede „mein Bruder“ unter den Herrschern. Verträge wurden durch die beiderseitige Eidesleistung sowie die Niederlegung der Texttafeln in Tempeln unter den Schutz der Götter gestellt – damals die wirkungsvollste Bindung an die eingegangenen Verpflichtungen. Unter dem Ansturm der „Seevölker“ brach diese multipolare Welt zusammen; danach duldete die dominierende Machtstellung der assyrischen Herrscher, später der persischen Großkönige mit ihrem Anspruch auf die Weltherrschaft keine gleichberechtigten Beziehungen zu anderen Völkern; vielmehr galt ihnen jeder Gegner als „Rebell“.
Klassisches Altertum
Dagegen bestand in Griechenland vom 7. Jh. bis zum Kongress von Korinth (338 v. Chr.) eine völkerrechtliche Ordnung zwischen den einzelnen Poleis, in die auch „Barbaren“ eingebunden werden konnten (so wurden Friedensverträge mit Persern und Karthagern geschlossen). Dabei waren sowohl bilaterale Abkommen als auch allgemeine Friedensordnungen üblich („koine eirene“); aufgrund der Eidesleistung standen sie gleichfalls unter göttlicher Obhut. Naturgemäß milderte das damalige Völkerrecht – ebenso wenig wie später in Rom – nicht die Grausamkeit des Krieges, in dem der Besiegte grundsätzlich als rechtlos galt.
Im Hellenismus entstand zwischen den drei Großmächten Ägypten, Makedonien und dem vorderasiatischen Seleukidenreich sowie mehreren Klein- und Mittelstaaten (Athen, Sparta, Pergamon u. a.) erneut eine internationale Rechtsordnung, der auch Karthago und das aufstrebende Rom angehörten. Allerdings „verschlang“ die Tiberstadt ihre Vertragspartner; seit der Vernichtung des makedonischen Heeres bei Pydna (168 v. Chr.) kannte sie keinen gleichwertigen Gegner mehr. Lediglich mit den iranischen Parthern – sowie deren Nachfolgern, dem Neupersischen Reich der Sassaniden – unterhielt das Imperium (ebenso später sein Erbe Byzanz) diplomatische Beziehungen auf gleicher Ebene, wie erneut die Anrede „mein Bruder“ zwischen den Herrschern bezeugt.2 Hoch bedeutend waren allerdings die rechtstheoretischen Überlegungen der lateinischen Autoren (v. a. Cicero und Livius), die das völkerrechtliche Denken bis heute beeinflussen.
In der Spätantike bildete sich faktisch eine neue zwischenstaatliche Rechtsordnung heraus, auch wenn die damals begründeten Germanenreiche – aus denen später die europäischen Staaten hervorgingen – nach römischer Rechtsauffassung Teil des Imperiums blieben (daher verwendeten ihre Herrscher für den Kaiser die Anrede „Vater“); die tatsächlichen Machtverhältnisse unterschieden sich freilich grundlegend von der juristischen Fiktion! Zugleich wandelte sich das Römische Reich in dieser Zeit zum christlichen Imperium; die lateinischen Kirchenväter – v. a. Augustinus (354 – 430) – begründeten eine neue Völkerrechtslehre: Diese war geprägt von der Idee des „bellum iustum“, dessen Ziel nicht Rache oder Machtgier sein sollte, sondern die Wiederherstellung eines gerechten Friedens. Die Ideen des christlichen Denkers haben das Mittelalter und die frühe Neuzeit maßgeblich bestimmt.
Mittelalter
Während die antiken Rechtstraditionen auch nach dem Untergang des Römischen Reiches im Abendland fortlebten, begründete der Islam ein neuartiges völkerrechtliches Denken: Die Welt ist in das „Haus des Friedens“ (dar al-Islam, den islamischen Bereich) und das „Haus des Streits“ (dar al-harb) geschieden. Daher ist der Dschihad, der Heilige Krieg gegen die „Ungläubigen“, der natürliche Zustand auf Erden; denn den Moslems ist als religiöse Pflicht auferlegt, ihre Lehre in der ganzen Welt zu verbreiten. Damit ist eine völkerrechtliche Ordnung (wie etwa zwischen den europäischen Staaten der Neuzeit) unvereinbar. Falls jedoch eine Weiterführung des Kampfes momentan aussichtslos erscheint, können Verträge mit dem Gegner abgeschlossen werden, allerdings stets zeitlich begrenzt (also Waffenstillständen vergleichbar)3; ihre getreue Einhaltung ist im Koran vorgeschrieben.
Das Völkerrecht des europäischen Mittelalters war von der Diskrepanz zwischen dem theoretischen Anspruch des Kaisers (bzw. des Papstes) auf die Universalherrschaft und der faktischen Souveränität der abendländischen Staaten geprägt; selbst der Staufer Friedrich II. – mit dem die Idee eines sakralen Kaisertums ihren Höhepunkt erreichte – billigte dem französischen König die Anrede „karissimus (sic!) frater noster“4 zu (und damit eine gleichberechtigte Stellung). Nicht nur die Herrscher selbst, sondern auch lehensrechtlich untergeordnete Fürsten durften Krieg beginnen und Frieden schließen, ebenso Ritterorden und Städtebünde. Ursprünglich pflegten die Regierenden in persönlichen Gesprächen die Vertragsbedingungen festzulegen und durch einen Eid zu besiegeln; später kam allmählich die Sitte auf, die Abkommen durch Bevollmächtigte auszuhandeln und danach zu ratifizieren. Maßgeblich hat der Aufstieg der Rechtswissenschaft (v. a. an der Universität von Bologna) zum Entstehen des völkerrechtlichen Denkens beigetragen; auch allgemein übliche Formeln für internationale Verträge entstanden in dieser Zeit.
Die Brutalität der damaligen Kriegführung vermochte dies ebenso wenig zu mildern, wie der gemeinsame christliche Glaube; erst gegen Ende des Mittelalters entstanden erste Verordnungen zum Schutz der Zivilbevölkerung. Nach dem Niedergang der beiden Universalmächte – des Kaisertums und des Papsttums – hatte sich das europäische Staatensystem herausgebildet, dessen internationale Beziehungen seither dauerhaft von einer allgemein anerkannten völkerrechtlichen Ordnung geregelt wurden.
Neuere Zeit
Auch die konfessionelle Spaltung des Abendlandes durch die Reformation veränderte – ungeachtet der teils erbitterten Glaubenskriege – diesen Zustand nicht. Man blieb sich weiterhin der grundsätzlichen religiösen Gemeinsamkeit bewusst; dies äußerte sich etwa in der Präambel des Westfälischen Friedens, die Einigung erfolge „zur Ehre Gottes und zum Heil der Christenheit“. Gleichzeitig beflügelte die neue geistige Freiheit des Humanismus auch das juristische Denken; der Niederländer Hugo Grotius (1583 – 1645) begründete die moderne systematische Völkerrechtswissenschaft. Im aufgeklärten „Zeitalter der Vernunft“ (18. Jh.) wurde die Eidesleistung für internationale Verträge unüblich5; der juristische Begriff des „europäischen öffentlichen Rechts“ löste das religiös begründete „Völkerrecht“ ab (auch diese Bezeichnung ist damals entstanden). Zugleich kam es zu einer Humanisierung des Krieges – er wurde „domestiziert“.
Das 19. Jh. weitete die europäische Völkerrechtsordnung auf alle „zivilisierten Nationen“ aus, u. a. die neuen Staaten Lateinamerikas, ferner einige asiatische Länder sowie das schwarzafrikanische Liberia. Durch die Genfer Konvention und die Haager Landkriegsordnung wurden die Auswirkungen von Kampfhandlungen weiter gemildert; noch konnte niemand ahnen, welch unvorstellbares Leid die folgenden Kriege bringen sollten.
Das 20. Jahrhundert
Nach dem 1. Weltkrieg wurde der Völkerbund als erste „universale“ Staatengemeinschaft gegründet; an seiner wichtigsten Aufgabe, der Sicherung des Friedens, ist er jedoch gescheitert. Neuartig war immerhin die Ächtung des Krieges durch den Briand-Kellogg-Pakt (1928), ebenso der (damals noch vergebliche) Versuch der Siegermächte, die gegnerischen Politiker und Militärs als „Kriegsverbrecher“ vor ein internationales Tribunal zu zerren.6 Der 2. Weltkrieg brachte eine bislang unvorstellbare Brutalisierung der Kampfhandlungen, die in den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki gipfelte, zudem eine weitgehende Auflösung der völkerrechtlichen Normen auf allen Seiten. Nach diesem Rückfall in – längst vergessen geglaubte – Zeiten eines schrankenlosen Krieges sollte die Gründung der Vereinten Nationen eine neue globale Friedensordnung heraufführen. Aufgrund der jahrzehntelangen Teilung der Welt in zwei ideologische Machtblöcke blieb diese jedoch ein wohlklingendes Versprechen.