degenerama. Jek Hyde

degenerama - Jek Hyde


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und sich nun ein Mädchen wünscht, so kann sie eines bekommen, ohne die Gefahr eines weiteren Jungen. Wir können Gesichtszüge bereits im Mutterleib mit Zellen modellieren. Es wird an den Schulen keine Ausgrenzungen mehr geben, etwa wegen kleiner Makel wie Hasenscharten oder schiefer Nasen. Selbst die Augenfarbe stellt kein Problem mehr dar. Sogar ein Talent können wir unseren Kindern mit auf den Weg geben. Soll Ihr Junge ein berühmter Künstler werden oder Ihr Mädchen eine talentierte Sängerin? Kein Problem. Es ist alles möglich.“

      Der Chirurg warf einen langen Streifen Haut wie Speck in eine Metallschale und zog Spades Gesichtshaut mit silbernen Zangen zurecht, bevor er mit dem Nähen begann.

      In Spades Ohr drang nur das Geräusch, das vom Fernseher kam: „Sie können eine erfolgreiche Karriere haben und wenn Sie sich dann dafür bereit sehen, können sie mit vierzig noch problemlos Mutter werden. Wozu wir in so einer Welt der Selbstbestimmung noch einen Schönheitschirurgen wie mich brauchen? Nun, leider gibt es noch immer schlimme Unfälle. Brände, Autounfälle, hässliche Begegnungen mit fehlgeleiteten Kampfhunden. Ich habe genug dieser Gesichter gesehen. Ich habe genug Gesichter gesehen, die von Tierzähnen zerfetzt oder von Bränden verzehrt wurden. Um diese Menschen wieder in ein soziales Umfeld eingliedern zu können, gibt es Leute wie mich. Ich bin dazu da, Ihnen das wiederzugeben, was Ihnen nach so einem schweren Unfall fehlt. Ein Gesicht.“

      Langsam und bedacht zog der Chirurg das Skalpell an dem anderen Ohr vorbei und hinterließ einen dünnen Schnitt, aus dem langsam Blut quoll.

      „Unser Gesicht sind wir. Es ist das, was die anderen Menschen von uns sehen und was sie in Erinnerung behalten. Es schaut uns von unserem Ausweis an, aus unserem Computer, wenn wir auf unserem Profil im Netz etwas schreiben, oder von unseren Handys. Nur jenes kann lächeln oder weinen. All die Gesichtszüge und Ausdrücke. Zwischen uns und der Welt um uns herum steht nur eins. Unser Gesicht“, endete er. Die Menge applaudierte angemessen.

      „Vielen Dank, das war Doktor Erik Hand“, stellte eine hübsche Sprecherin vor, als umgeblendet wurde.

      Aus noch träumenden Augen zwischen den Binden sah Spades langsam erwachender Geist zu dem kleinen Fernseher auf dem niedrigen, alten Holzschrank. „Sie sollten es kühlen“, sagte die ebenso ruhige Stimme des Chirurgen.

      Langsam wandte Spade seinen tonnenschweren bandagierten Kopf und sah hinüber, wo im grün-weißen Licht einer Lampe, die mit einem Gitter umwunden war, Doktor David S. Steinmann saß, die Beine überschlagen, mit einem Weinglas in der Hand, die Hemdsärmel aufgeknöpft und das dunkle Haar an der Seite gescheitelt. Mit seinen intelligenten, ruhigen Augen sah er über die schmalen, rechteckigen Gläser seiner Brille hinweg, die schmalen Lippen zusammengepresst.

      „Blutergüsse nach einer Gesichtsoperation sind ganz natürlich. In Ihrem Falle um Nase und Augen und an den Gesichtsrändern.“

      Dieser dünne Mann, eher wie ein verworfener Lehrer, saß auf dem schmalen Stuhl an einem kleinen runden Tisch, der an einer Wand stand.

      „Sie können den Verband morgen abnehmen, aber lassen Sie Ihrem Gesicht Zeit zum Regenerieren. Sie sollten drei bis vier Wochen die Sonne meiden, um sich dann langsam wieder daran zu gewöhnen.“

      Es kostete Spade einfach zu viel Kraft, den Kopf weiter aufrecht zu halten, also ließ er ihn wieder zurück auf das altertümliche Sofa fallen, auf dem er lag. Es musste wohl limonengrün sein.

      „Kein Problem … Die Sonne und ich, wir verstehen uns nicht“, meinte Spade und stellte fest, dass er gerade nicht lächeln konnte. Wahrscheinlich, weil er es schon tat. Er versuchte es kurz in seinem schmerzenden Schädel, in dem er das Gehirn erst spät und träge reagieren spürte wie in gelatineartiger, trüber Brühe. „Muss ich wieder herkommen, um den Verband abzunehmen?“

      „Nein“, meinte David ausdruckslos. Er trank einen Schluck Wein. „Sie könne das gern zu Hause tun. Aber denken Sie daran, einen leichteren Verband darumzulegen. Auch wenn Ihr Gesicht nicht Gefahr läuft, schief zu werden.“

      Spade kicherte, so gut er konnte. Doch in seinem Zustand war es nur ein schwaches Gurgeln.

      „Kann ich gehen?“

      „Sobald Sie stehen können, können Sie gehen“, meint David.

      „Gibt’s sonst noch was, das ich wissen müsste?“, fragte Spade, die Latten an der Decke anstarrend.

      „Nein. Sie haben gezahlt und bereits unterschrieben, dass ich Ihr Gesicht nach Ihrem Wunsch verunstaltet habe.“ David stand auf und ging hinüber zu Spade, der ihn mit seinen verschieden geweiteten Pupillen ansah.

      Spade gurgelte. „Ich verklage Sie, wenn mein Gesicht nicht verunstaltet ist“, scherzte er.

      „Empfehlen Sie mich weiter“, meinte David. Er verschwand aus Spades Sichtfeld und kam mit einer Jacke, gerade im Begriff, sie anzuziehen, wieder.

      „Wo wollen Sie hin?“, fragte Spade.

      „Ich muss noch Miete zahlen. Fassen Sie nichts an und warten Sie, bis Sie ohne zu schwanken stehen können. Es ist nicht ungewöhnlich, aber wenn Ihnen schlecht wird, steht ein Eimer neben dem Sofa“, sagte David und deutete neben Spades Kopf.

      „Miete? So spät?“, fragte Spade.

      „Es ist nicht spät sondern früh. Schlimmstenfalls zu spät. Wir haben acht Uhr.“

      „Geben Sie mir den Wein!“, keuchte Spade, der versuchte, sich aufzurichten.

      „Nein“, meinte David und öffnete die Tür. „Und wenn ich ihn mir nehme?“

      David sah neben der Tür stehend zu Spade, der sich an der Sofalehne halb hinaufgezogen hatte. „Nicht, wenn Sie leben wollen“, meinte er und schlüpfte durch die Tür nach draußen.

      Spade ließ sich an der Lehne hinabsinken. Erschöpft, aber glücklich. Und er hätte gern richtig gelacht, doch es ging nicht. „Was ist mit Kopfschmerztabletten?“

      „Tot!“, rief David. „Ertragen Sie’s wie ein Mann“, drang seine Stimme von draußen.

      „Ich weiß nicht mal, ob ich wirklich wach bin oder ob es ein Traum ist“, keuchte Spade und schloss die schmerzenden Augen.

      „Dann bleiben Sie liegen, bis Sie’s sind.“ Er ließ Spade oben zurück und stieg die alte, knarzende Treppe, deren Stufen mit Linoleum belegt waren, hinunter, die dünnen Hände mit den langen Fingern glitten über das alte, dick mit Farbe bestrichene Holzgeländer. Unten befanden sich der schmale Gang zur Hintertür und die andere Tür zum Laden der Wos. Als David die Tür öffnete, stand er in einem kleinen quadratischen Laden mit zwei zusammengeschobenen Regalen als Kreisverkehr in der Mitte. Dort gab es alles, von Porzellankatzen über Püppchen bis hin zu billiger, künstlich stinkender Kleidung, von der David einen Anzug trug. Herr Wo, der kleine Chinese, baute draußen gerade den Gemüsestand auf, während seine Frau und Tochter, beide mit glattem schwarzem Haar, an der Kasse standen. Die Tochter war ein schlankes Mädchen mit einem hübschen runden Gesicht und soweit David wusste, wurde an ihr kaum etwas verändert oder gar vorausgeplant. Bloß Standard, keine Krankheiten. Augenfarbe unbeeinflusst, ebenso wie das Gesicht. Die Wo’s waren eben altmodisch. Die Tochter sah David auf sich zukommen und machte auf Chinesisch eine Bemerkung zu ihrer Mutter, die aufsah und über das ganze Gesicht strahlte. „Doktor Steinmann, guten Morgen.“

      David zog das Geld aus der Hosentasche und streckte Frau Wo die in der Mitte gefalteten Scheine entgegen. „Die Miete.“

      „Vielen Dank“, meinte Frau Wo, nahm es entgegen und schob es sogleich in die dreckige weiße Plastikkasse. „Können Sie Li zur Schule fahren?“

      „Ja. Aber ich habe noch einen Patienten oben“, merkte er an. Li hob ihre Tasche auf und warf sie über die Schulter.

      „Ich werde nach ihm sehen, Doktor Steinmann“, sagte sie und fuhr fort, zu erledigen, was auch immer sie gerade tat.

      David ging voran und hinaus zu seinem silbernen, unauffälligen Wagen, der auf dem von Unkraut bewachsenen Hof auf sie wartete. Es hatte etwas Ritualartiges an sich. Er schnappte den Wagen auf. Ein Blinken,


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