Die Geburt der Eidechse. Werner Posselt

Die Geburt der Eidechse - Werner Posselt


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Die Plage mit Conrad

       Bardot No 9 und das allerletzte Tütchen Brausepulver

       Sisyphus

       Letzte Rast vor dem Ziel

      Sage hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Hatte ich nicht angekündigt, dass du durch verschiedene Zeiten und Sphären musst? Also, es geht schon ein bisschen hin und her, hoch und runter, vor und zurück. Und doch gibt es zwischen den Geschichten und Episoden Gemeinsamkeiten, die sich meist darin äußern, dass sie den Gedanken „Und plötzlich war alles so anders“ bestätigen.

      Falls sich Widersprüche zu deinem eigenen Erleben auftun, lass sie ruhig zu, denn so viele Menschen es gibt, so viele subjektive Erfahrungen gibt es ebenfalls. Und wenn du da und dort nachdenklich wirst, ist das durchaus beabsichtigt.

      Die beiden Kinder spielen am flachen Seitenhang der ehemaligen Sandgrube. Daneben der alte Kornspeicher liegt seit Jahren still. Überhaupt ist es im Dorf viel stiller als früher. Ach nein, das stimmt ja gar nicht! Im Gegenteil, lauter ist es geworden. Der Durchgangsverkehr hat zugenommen, vor allem die Holzlaster erschüttern die alten Häuser. Stiller ist es nur zwischen den Menschen.

      Die beiden Kinder kennen den Unterschied zu früher nicht. Wie sollten sie auch? Darius und Maria heißen die beiden und sind Geschwister. Er ist sechs und sie neun.

      Sie spielen also, buddeln im Sand und die Sonne wärmt angenehm. Plötzlich schreit Darius: „Mensch, eh, ich habe ein Ei gefunden!“ Vorsichtig hält er es in der hohlen Hand und balanciert es zu seiner Schwester.

      Maria staunt: „Wie kommt denn ein Ei hierher? Und wie klein das ist! Zeig mal!“ Vorsichtig mit zwei Fingern übernimmt sie es. Und kaum hat sie es auf ihre Handfläche gelegt, springt es auf und eine winzige Eidechse windet sich heraus.

      „Mann oh!“, ruft Darius und staunt.

      Maria aber sagt: „Oh Gott, wie schön!“ Sie kniet sich auf den Boden und lässt das kleine Wesen aus der Hand gleiten. Beide beobachten, wie es sich davonmacht. Maria sagt noch: „Da ist schon alles dran wie bei einem Menschen, aber Babys müssen erst laufen lernen.“

      Dann eilen sie heim, um es der Mutter zu erzählen. Maria, die schon schreiben kann, will es Papa berichten, der jetzt bei Bremen wohnt, irgendwo, vielleicht.

      Mit Fieber liegt sie im Schlafzimmer. Die Grippe hat sie erwischt. Im Alter kann Grippe besonders gefährlich werden, das weiß sie. Doch sie glaubt, dass nun das Schlimmste überstanden ist, fühlt sich aber sehr geschwächt.

      Viel geschlafen hat sie und gefiebert. Hin und wieder ist sie aufgestanden, hat sich gründlich gewaschen. Und viel getrunken hat sie. Man soll viel trinken, auch das weiß sie.

      Während sie also in ihrem Bett liegt, kommen ihr zwischendurch so manche Gedanken, sehr abstruse zuweilen, die sich in ihren Fieberträumen fortsetzen.

      Das Bett neben ihr ist leer. Es ist Gernots Bett. Er ist vor zwei Jahren nach einem Schlaganfall gestorben und sie brauchte lange Zeit, um sich an das Leben ohne ihn zu gewöhnen. Irgendwie ist er trotzdem immer noch da. Ja, irgendwie.

      Wenn sie vom Bett aus durchs Fenster blickt, sieht sie den oberen Teil des alten Stallgebäudes. Tiere gibt es darin längst nicht mehr, höchstens Mäuse. Inzwischen kennt sie jeden Backstein der Vorderfront. Ihre Augen sind noch recht gut. Auch bei ihrer Mutter waren die Augen bis ins hohe Alter in Ordnung, daran erinnert sie sich. Die war über neunzig, als sie starb, und geistig rege bis zuletzt.

      Sie, Maria, hofft auch darauf, geistig rege zu bleiben. Ihren beiden Töchtern hat sie eingeschärft: „Wenn ihr feststellt, dass ich dement bin, dann bringt mich ins Heim.“ Sie hat zu den Töchtern volles Vertrauen, doch bei ihnen leben und ihnen zur Last fallen? Niemals!

      Nun liegt sie also wach und blickt zum Stalldach und sieht die beiden Bäumchen, die sich in der Dachrinne angesiedelt haben. Gernot hat die Rinne vor sieben Jahren das letzte Mal gesäubert. Inzwischen hat sich da allerhand Kram, meist Laub, angesammelt und ist zu Erde geworden. Ein eigenständiges Biotop hat sich gebildet. Und die beiden Bäumchen scheinen sich dort oben recht wohlzufühlen.

      Das Stämmchen der Birke will schon weiß werden. Die war auch eher da als die kleine Fichte. Eigentlich sehen sie hübsch aus, die beiden, doch sie sind so verschieden. Und sie sinniert weiter: So verschieden waren auch wir, der Gernot und ich. Natürlich sind Mann und Frau immer verschieden, biologisch gesehen. Aber vom Temperament und von der Lebensauffassung her passten wir überhaupt nicht zusammen. Er plagte sich stets mit Selbstvorwürfen, nie war er so richtig mit sich zufrieden, nie war ihm das, was er geschaffen hat, vollkommen genug. Sie hingegen fand kaum einen Mangel an seinen Arbeiten. Und wenn etwas zweckmäßig war, dann war es gut, gut genug.

      Er war einer von denen, die immer bauen und schrauben mussten. Der Baumarkt war sein Paradies. Das ging ihr manchmal ganz schön an die Nerven. Als er mit dreiundsiebzig noch das alte Stallgebäude verklinkern wollte, ist sie ausgerastet. Sie mochte den ganzen Erneuerungswahn, wie er nach dem Umschwung eingesetzt hatte, nicht.

      Am anderen Ende der Stadt hatten sie eine Siedlung hingesetzt. Lauter Klinkerhäuser unterschiedlicher Typen und doch alle wie uniformiert. Die sehen aus wie eine Ansammlung neudeutscher Apotheken. Und auch die Leute dort ähnelten den Apothekern aus dem Werbefernsehen. Um Gottes willen!

      Sie liebte das Vertraute. Und das Stallgebäude war ihr vertraut und das sollte so bleiben. Bei dem Streit hat sie sich mächtig im Ton vergriffen, sich aber durchsetzen können. Kümmelzähler hat sie Gernot genannt und Pinschieter.

      Doch seit diesem Tag war Gernot nicht mehr der alte. Es fraß in ihm. Seine Lebensphilosophie war angeknackst. Schon während des Streites war er erblasst. Dann sagte er nichts mehr und ging für ein paar Stunden aus dem Haus. Und als er wieder zurückkam, war er sehr einsilbig. Das ging noch eine Woche so weiter, dann der Schlaganfall. Sie war nicht zu Hause, hatte auf dem Kreisamt zu tun, musste dort eine Unrichtigkeit aufklären. Und als sie heimkam, lag er im Bad und rührte sich nicht. Der Notarzt stellte den Schlaganfall fest. Auf der Fahrt in die Klinik war Gernot verstorben. Mein Gott, hat sie das damals umgeworfen! Und was hat sie sich für Vorwürfe gemacht.

      Das ist jetzt zwei Jahre her und nun liegt sie hier mit Grippe, allein. Schaut auf die beiden Bäumchen im Dachrinnenbiotop und denkt: Die sind so verschieden wie er und ich und trotzdem sind sie zusammen. Das Schicksal hat sie zusammengetan. Und jetzt stürzen ihr die Tränen aus den Augen, obwohl sie eigentlich nicht so dicht am Wasser gebaut hat. Es ist ihr, als hätte sie jemand in ihrem Kopf angestellt, worüber sie sich hintergründig wundert. Hat sie nicht mit ihrer Trauer längst abgeschlossen? Kann man überhaupt mit seiner Trauer abschließen? Diese Frage geht ihr plötzlich durch den Kopf und sie erinnert sich an so viele Liebenswürdigkeiten, die der Mann ihr entgegengebracht und die sie doch so oft, allzu oft, mit einer gewissen Geringschätzung abgetan hat. All ihre Vorstellungen bei den Renovierungsarbeiten im und am Haus hat er erfüllt und war nie zufrieden, weil er es sich noch besser, noch vollkommener wünschte, ihr zuliebe. Ihr zuliebe oder doch eher sich zuliebe? Das konnte sie nie so recht ergründen. Er handelte eben nach anderen Maßstäben. Sie hat das erst sehr spät erkannt.

      Nun wieder der Blick auf Fichte und Birke. Die leben zwischen Himmel und Erde, denkt sie. Gernot befindet sich unter der Erde und ich noch auf ihr. An Himmel und Hölle glaubt sie nicht, es sei denn als Gleichnis für Freude und Leid. Und der Tod, was ist der? Er ist, wenn man leiden muss, die Erlösung. Davon ist sie fest überzeugt.


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