Die Geburt der Eidechse. Werner Posselt

Die Geburt der Eidechse - Werner Posselt


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geklaut, aber die waren zugeschweißt, damit hätte man noch nicht mal mehr in die Luft schießen können. Wer die geklaut hat, dem fehlt ein Rad am Wagen. Nein, mit solchem Dreck würde ich nie handeln!

      Letztens, während ich aufbaute, kam die Porzellan-Hilde zu mir. Die verscheuert alte Kaffeekannen und Kram aus Haushaltsauflösungen und fragt, ob ich schon wüsste, dass der Bücher-Bolle den Krebs hätte.

      „Nee“, sage ich, überrascht und erstaunt, „der ist doch heute gar nicht hier!“

      „Eben“, sagt sie, „das ist doch wegen dem Krebs! Magenkrebs!“

      Ich bin erschüttert, echt! Der Bücher-Bolle und Magenkrebs.

      Sie hält die Hand halb vor den Mund und sagt: „Schlimm, schlimm, das weeß ich von meine Schwester. Aber die hats jeschafft.“

      „Und wer weiß noch davon?“, frage ich.

      „Na, alle doch“, sagt sie und geht mit bekümmertem Gesicht weiter.

      Und ich packe weiter aus und denke an Bolle. Seit über dreißig Jahren kenne ich ihn. Ich war mal sein Ausbilder. Er war Lehrling in meiner alten Firma. Fleißig, gutwillig, freundlich, jetzt, wie so viele, Hartzvierer.

      Auf dem Trödelmarkt haben wir uns wiedergetroffen, mit großer Freude und großem Hallo, und ich bot ihm gleich das Du an. Es fiel ihm anfangs schwer, sich dazu durchzuringen, aber es klappte bald und wir waren oft Standnachbarn.

      Er handelt hauptsächlich mit Büchern, doch hat er auch allerlei anderen Krimskrams. Manchmal ging ich zu ihm, um mich beraten zu lassen, und hatte er eine alte Uhr, fragte er mich, was man dafür nehmen könnte. Auch kauften wir zu günstigen Preisen voneinander ab. Dies gilt aber für alle Händler hier: Man kauft und verkauft untereinander zu Vorzugspreisen und überhaupt, man tut sich jeden Gefallen. Muss man seinen Stand aus irgendeinem Grund mal verlassen, etwa um selbst einen kurzen Bummel zu machen oder eine zu rauchen, dann passen die anderen auf. Hier gibt jeder und nimmt jeder, so wie es angebracht ist, und die Händler sind untereinander ehrlich bis auf die Knochen. Und der Spaß kommt auch nicht zu kurz, auch wenn es mal nicht so läuft, weil die Leute zu geizig, zu dumm oder auch zu klug sind, je nachdem. Man freut sich über die Verkaufserfolge der anderen, allerdings sollten diese nicht zu groß sein, denn der Neid ist eine gefährliche Natter. Das weiß man.

      Und man schimpft über die „Sehleute“, wie man jene bezeichnet, die nur zum Schauen kommen, zum Verdauungsbummel nach dem Kaffeetrinken, um sich die Füße zu vertreten und um klug zu tun. Die bei jeder alten Klamotte ausrufen: „Guck mal, Herbert, so was hatte Tante Gertrud auch, weißt du noch?!“ Also, solche Leute gehen einem gewaltig auf den Keks, grapschen alles an und kaufen nichts. Manchmal reißen sie auch was vom Tisch und wollen es dann nicht bezahlen. Solche hat man eben auch. Doch alles in allem läuft es hier, wie es soll.

      Doch nun hat der Bücher-Bolle plötzlich Magenkrebs, so ein Mist aber auch! Wie alt ist er? Bald fünfzig? Was kann man da tun? Wie soll man sich verhalten, wenn er das nächste Mal wieder da ist? Quatsch, ich werde ihn zu Hause besuchen. Oder ist er im Krankenhaus? Ich werde Harald fragen.

      Und als ich ihn wegen Bolle anspreche, sagt er zu mir: „Das ist sein Platz und der bleibt ihm, bis wir Genaueres wissen. Der Platz bleibt ihm, verstehst du?!“ Er sagt es laut und scharf, als unterstelle er mir, dass ich gegenteiliger Meinung sei, und schaut mich dabei auch noch unfreundlich an. Ich will mich deswegen jetzt aber nicht mit ihm streiten. Er muss mich völlig missverstanden haben. So was kommt eben auch vor.

      Sie verkauft Pflanzen, selbst gezogene. Alle Möglichen. Auch er handelt hier mit alten Werkzeugen, die er sorgfältig aufgearbeitet hat. Von den Märkten her kennen sich die beiden schon länger. Man freut sich, wenn man sich wieder trifft.

      Bei den asiatischen Händlern hat er sich heute einen Pullover gekauft, einen dicken. Den hat er gleich angelassen und geht jetzt zu ihrem Stand, um die Neuanschaffung vorzuführen.

      „Jut ist der“, sagt sie.

      „Ja“, sagt er, „der passt und ist warm. Für fuffzehn Euro hab ich den gekriegt, weil ich och Händler bin.“

      Sie streicht langsam über seinen Arm und meint: „Fühlt sich richtig jut an.“

      Er freut sich, streicht ihr über den Rücken. „Fühlst dich och richtig jut an.“

      „O, danke!“, ruft sie, errötet und kichert ein wenig albern.

      „Jetzt muss ich aber schleunigst einpacken, meine Viecher warten schon.“

      „Schade“, meint sie, „nimm wenigstens die beiden Malven hier noch mit. Die hat man nich so oft. Die blühn schwarz und sin meine letzten.“

      Er will sie ihr bezahlen. Sogleich empört sie sich: „Von dir nehme ich doch keen Jeld nich!“

      Er brummelt: „Danke och“, und geht dann bald.

      Sie ruft ihm noch nach: „Vergiss nich, nächste Woche is wieder in Krempow! Also vergiss es nich, hörste!“

      Ich wollte ihr nur zuhören. Sie nicht belasten mit Fragen. Nach knapp einer Minute hatte ich ihre Demenz erkannt. Ja, sie tat mir leid und ich selbst tat mir auch leid, irgendwie. Warum? Ich weiß es nicht. Vielleicht war ich zu verwirrt, sie so und hier wiederzusehen.

      Eigentlich sah sie ja noch aus wie früher. Nicht ganz, etwas kleiner und schlanker kam sie mir schon vor, natürlich auch älter. Über achtzig musste sie jetzt sein. Nein, man brauchte nicht rätseln, wer sie ist.

      Ihr Gesichtsausdruck war ruhig, verträumter schien sie und sehr gelassen, jedenfalls im ersten Augenblick unseres Wiedersehens.

      Wir kannten uns seit geraumer Zeit. Mehr als vierzig Jahre sind es gewiss. Vor ungefähr zwanzig Jahren war sie mit ihrem Mann, der einmal Bürgermeister in unserem Ort war, nach dessen Berentung in die Kreisstadt gezogen, in einen der modernen Wohnblocks, die man heute allgemein so verachtet. Sie hatten sich gut eingelebt. Einen kleinen Garten hatten sie noch erworben. Doch dann verstarb der Mann ganz plötzlich. Herzschlag und tot.

      Sie traf ich hin und wieder in der Stadt während des Einkaufens und wir unterhielten uns. Sie fragte mich immer aus über das Neueste in Wangenhagen.

      Einmal gestand sie mir, dass sie viel lieber auf dem Dorf geblieben wäre. Damals aber hatte Willi einen Groll gegen die Leute. Er fühlte sich von ihnen zu Unrecht verurteilt, denn er wäre immer für alle da gewesen und hätte geholfen, wo er nur konnte. Es hätte zu seiner Aufgabe als Bürgermeister gehört, dass er dem Rat des Kreises Auskünfte über diese oder jene Familie geben musste wegen deren politischer Zuverlässigkeit. Und manche waren nun mal nicht zuverlässig, das hat er ihnen auch ins Gesicht gesagt.

      Eine andere Zeit war das damals vor mehr als zwanzig Jahren. Jedenfalls war in seiner Amtszeit auf sein Betreiben im Dorf viel Gutes entstanden. Das beste Beispiel war die neue Mehrzweckhalle mit der Gaststätte, wo er mächtig tricksen musste wegen der Baugenehmigung. Für sein Dorf hatte er sich immer an der Grenze der Legalität bewegt und manches mit Hilfe alter Beziehungen erfolgreich durchgesetzt.

      Zur Wendezeit hatten sie ihn beschimpft, gerade die, denen er am meisten unter die Arme gegriffen hatte. „Rote Sau!“ und „Kommunistenschwein!“ haben sie geschrien und sich hinter der großen Hecke versteckt, die Schisser. Und keiner hatte denen Einhalt geboten, diesen „friedlichen Revolutionären“, die nicht überall und immer wie die Weihnachtsengel mit Kerzen daherkamen.

      Alle seine ehemaligen Genossen hatten sich geduckt und verkrochen aus Schuld und Angst und Scham. Nein, er wollte mit diesem Dorf nichts mehr zu schaffen haben und er ist auch nie wieder, auch nicht besuchsweise, zurückgekommen.

      Sie also, die Frau des ehemaligen Bürgermeisters, hatte noch ein paar Jahre allein in diesem Wohnblock verbracht, dann haben sie ihre


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