Getrieben - Adoptiv-Knilch packt aus. Peter Weidlich

Getrieben - Adoptiv-Knilch packt aus - Peter Weidlich


Скачать книгу
ersten sechs Jahre konnte er sich nicht erinnern. Später musste er die Zuneigung seiner Adoptiveltern mit anderen Kindern teilen. Das prägte und sorgte für latente Zweifel an sich selbst und an anderen. Ins Detail mochte er nicht gehen, über ein Schicksal, das viele Adoptivkinder teilen.

      Stattdessen fokussierte er zwei ihm wichtige Fragen:

      „Konnte das Engagement Ihrer Adoptiv-Eltern Ihnen das Gefühl vermitteln, als Mensch wieder wertvoll zu sein?“ Und:

      „Wie hat die Adoption Ihr weiteres Leben als ‚Knilch‘ geprägt?“

      Mit meinen jetzt siebzig Jahren erzähle ich, einfach aus dem ‚Bauch heraus‘, über meine Prägungen in Kindheit und Jugendzeit und ihre Auswirkungen auf berufliche wie gesellschaftspolitische Aktivitäten: Ungeschminkt, authentisch, ohne den Anspruch von Wissenschaftlichkeit, wissend, mit meinen Methoden anstößig und damit angreifbar zu sein.

      Die Beispiele meiner unkonventionellen Pädagogik als Sozialpädagoge im Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen fesseln beide Zuhörer.

      Sie hören zu, eine Kunst, die selten zu beobachten ist.

      Nach mindestens fünfzehn Tassen Kaffee, einer mittelgroßen Pizza für jeden und Plätzchen wie Toffifees verabschieden sie sich nach elf Stunden intensivster Gespräche, wir duzen uns bereits, mit den Worten: „Schreib’ darüber!“

      Und ich fange an …

      EINFACH ANGENOMMEN

       Antriebe

       Vier war ich, im Jahre 1950, die Welt unter einer Baskenmütze hervor taxierend, adoptiert von fremden Menschen, die einen Säugling großziehen wollten im Gegensatz zu einem Vierjährigen, bei dem die Sozialisation bereits abgeschlossen war? Schwer vorstellbar!

       Sie haben mich angenommen!

       Ihre dem Menschen zugewandte positive Grundhaltung, der Mensch, wenn er in die Welt kommt, sei gut, gab meinem Leben entscheidend neue Impulse. Da waren Erwachsene, die auf mein Verhalten reagierten, die mir erklärten, was nach ihrer Meinung in Ordnung war und was ich hätte anders machen müssen. Mir standen persönliche Autoritäten gegenüber, bei denen ich nicht mehr hungern musste, die mit mir spielten, die mir ein Bett in meinem Zimmer gaben und mich vor dem Einschlafen streichelten: Mich, ein wildfremdes Kind. Ich hatte meinen Vater und meine Mutter in meinem Zuhause!

       Als ich sechzehn Jahre alt war, fragte ich meine Eltern, wie ich als kleiner Junge gewesen sei und was sie mit mir erlebt hätten.

       „Du hast auf deinem Pöttchen gesessen, im Flur, und als der Vermieter die Treppe hinaufkam, hast du den erstaunt blickenden Mann mit den Worten begrüßt: Ich wohne nämlich hier!“

       Als ich sie fragend anblickte, übergab mir mein Vater sein 1958 erschienenes Buch „Der Knilch und sein Schwesterchen“: Mein neues Leben als der Knilch.

       Ich fing an zu lesen. Mit jeder Zeile begriff ich, auf welches ‚Abenteuer‘ sich meine Eltern eingelassen hatten.

       Man hatte mir im Heim signalisiert, dass eines Tages meine Eltern kommen und mich mitnehmen würden. Da waren sie nun.

       Im Bahnhofswartesaal der Mann und ich, die Frau nutzte die Wartezeit, bis der Zug uns in mein neues Zuhause bringen würde, um neue Klamotten für mich zu kaufen. Eine Musikdose sollte mich ablenken. Als ich sie linksherum drehte, krachte es in ihr. Wir beobachteten uns, der fremde Mann mich, ich ihn, mit lauernden Blicken. Ich stand auf, fluchtbereit. Er wusste, jetzt beginnt der Ringkampf um die Entscheidung. Ich rannte zur Tür, er hinterher. Er packte mich und dachte: Dieser tierhafte kleine Wilde fügt sich nur körperlicher Überlegenheit, also Gewalt! So war er geprägt, von seinen Eltern, vom Krieg, vom damaligen Mainstream. Widerspenstigen, bockigen Kindern müsse man ihren Willen brechen. „Kinder, die was wollen, kriegen was auf die Bollen!“ „Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, hast du mir zu gehorchen!“

      Wirklich?

      Vierzig Jahre später: Dirk, elf Jahre alt, ein Mündel, abgegeben von leiblichen Eltern zu Pflegeeltern und jetzt von Adoptiv-Eltern zu uns ins Heim. Zu schwierig, bindungsunfähig, aggressiv.

      Die Erzieherin begleitete ihn in sein Zimmer zu seinem Bett und wollte seine wenigen Habseligkeiten aus einer Plastiktüte in seinen Schrank einräumen.

      „Gib’ mir die Tüte“, bat sie. Er wehrte sich: „Meins!“

      Statt ihn einräumen zu lassen, wollte sie ihm die Tüte entreißen. Er schrie auf. „Nein, meins!“ Sie blickte strafend.

      Er rannte zum Fenster, riss die Flügel auf und kletterte auf die Fensterbank. Erschrocken rief sie mich um Hilfe.

      „Dirk will aus dem Fenster springen! Peter, komm’ schnell“, hallte es durch das Treppenhaus.

      Zum Zimmer eilend, nahm ich mir vor, ihn mit einem gewaltigen Satz zum Fenster und beherztem Griff am Springen zu hindern.

      Unsere Blicke kreuzten sich. Statt zum Fenster zu eilen, setzte ich mich auf sein Bett und deutete der Erzieherin, uns allein zu lassen.

      „Ich bin auch ein Adoptivkind!“, flüsterte ich in seine Richtung. „Ich verstehe dich! Was ist passiert?“

      „Sie haben mir immer alles weggenommen! Das sind meine Sachen, die gehören nur mir!“

      „In Ordnung. Zeig’ mir, was du mitgebracht hast!“

      Tränende Augen sahen mich verzweifelt an. Er sprang vom Fensterbrett, brachte die Tüte und zeigte mir seine Schätze.

      So ein kleiner Knirps musste Angst haben, dass ihm sein Miniteddy, die kurze Hose samt Trikot und Fußballschuhe mit drei Streifen weggenommen werden könnten. In seiner Hand hielt er ein zerknittertes Foto, das er zwischen der Unterwäsche versteckt hatte.

      „Meine richtige Mama“, zeigte er mir, „und ich.“

       Wochenlang haben meine Eltern mit mir gerauft und sich gefragt, ob sie mich ‚hinkriegen‘. Nur nicht schlappmachen, war ihre Devise. Wenn einer schlappmachen muss, dann der Knilch!

       „Der muss doch irgendwann müde werden“, stöhnten sie und wanderten mit mir durch den Reinhardswald zum Dornröschenschloss und zurück, fünfundzwanzig Kilometer bergauf, bergab. Sie waren kaputt, ich wollte weiterhin draußen spielen. Heute würde ich als ADHS-Kind2 eingeordnet und medikamentös ruhiggestellt werden.

       Ich war eben zäh.

       Unermüdlich rollte ich die Treppen im Gutshof hinauf und hinunter, kreuz und quer über den Hof, wie eine Achterbahn ohne Bremsen. Hemmungslos tat ich das, wozu es mich trieb, meist ohne Verstand, so las ich über mich.

       Die beste Schule sei die Erfahrung am eigenen Leib, dachte mein Vater und reagierte entsprechend: Als ich einem Jungen Sand ins Gesicht geworfen hatte, nahm er mich mit in die Sandkuhle und bewarf mich mit Sand. Ich muss fürchterlich gebrüllt haben und fand Sandwerfen nicht mehr lustig.

       Spannend fand ich es, Kellerfenster einzutreten und war total geschockt, als mein Vater daraufhin sagte: „Nun pass mal auf, was ich kann!“ Er nahm mein Feuerwehrauto und trat es platt. Das gefiel mir gar nicht.

       Wir hätten es bestimmt leichter gehabt, und erst recht der Knilch, die bösen Triebe umzulenken, wenn nicht die Erwachsenen so verbohrt bei ihrer vorgefassten Meinung geblieben wären. Gerade ein Kind, das seine Eltern nicht mehr hat, braucht doch Vertrauen, Liebe und Schutz viel mehr als ein Kind, das in der natürlichen Geborgenheit bei den eigenen Eltern aufwächst. Denn, spürt es die Geborgenheit und das Vertrauen nicht, verschließt es sich, wird scheu und


Скачать книгу