Getrieben - Adoptiv-Knilch packt aus. Peter Weidlich
aber sagen: Na bitte, da haben wir’s! Manche Erwachsenen haben geradezu mit Wonne – und ohne ihn daran zu hindern! – den Knilch bei seinen schlimmen Streichen beobachtet. Und wenn meine Frau oder ich auf den Hof kamen, um nach ihm zu sehen, wiesen sie selbstzufrieden auf ihn hin und sagten: „Da! Sehen Sie ihn sich nur an! Er ist gerade wieder dabei!“ Es war ihnen eine Lust, uns zu ‚beweisen‘, dass er nichts tauge.3
Als ich diesen Absatz vor einigen Tagen las, um meine Vergangenheit aufzufrischen, musste ich an die Kinderheim-Kinder denken, die Ähnliches haben durchleben müssen: Einmal Heimkind, immer Heimkind. Diesen Teufelskreis zu durchbrechen und dennoch zu seinem ES zu stehen, erfordert gelebte Kompensation.
Dem ICH, durch die Trennung von der Mutter und der daraus resultierenden Objektkonstanz, aus den Augen, aus dem Sinn, fehlt das Urvertrauen und die sichere Bindung an die Mutter, eine Mutter, die füttert, badet, streichelt und damit das Gefühl vermittelt, in der Welt willkommen und angenommen zu sein. Wenn dieses ‚Bild‘ von einer Mutter, im kindlichen Gedächtnis und Herzen verankert, zerstört wird, sind Bindungsstörungen die Folge.
Das ES mit seiner Triebhaftigkeit, mit seinen Antrieben, mit seinem Drang nach Bedürfnisbefriedigung und seiner Suche nach Anerkennung macht einerseits das zurzeit von unserer Gesellschaft geforderte Alleinstellungsmerkmal aus, andererseits zwang mich diese Manie, immer wieder Neues zu beginnen.
Kann dieser Antrieb, besser, schneller zu sein als andere, schier unlösbare Herausforderungen angehen und meistern zu wollen, ein Beweis dafür sein, ein zerstörtes Selbstwertgefühl wieder herzustellen? Sich gegen den Makel eines ‚Bastards‘ aufzulehnen? Wie kleine Menschen, die unter ihrer Größe leiden und ihren Minderwertigkeitskomplex mit intrigantem Verhalten oder unmenschlicher Härte oder grandioser Leistung wettmachen wollen? Ein kompensierendes ÜBERICH will erfahren werden, mittels Versuch und Irrtum, durch Ge- und Verbote oder über eingebleute Züchtigungen, wie man früher dachte und handelte.
Hat ein Adoptivkind, abgestoßen von seinen Eltern, egal aus welchen Gründen, ein Bastard eben, ein Recht auf Leben, ein Recht auf Anerkennung, ein Recht auf Liebe?
Diese Frage der Existenzberechtigung stellt sich zunächst kein Kind, das als leibliches Kind aufwächst oder dem die Tatsache verschwiegen wird, adoptiert worden zu sein, es sei denn, Umweltfaktoren bedrohen sein Leben.
Ich stellte mir, je älter ich wurde, immer wieder diese Fragen und beantwortete sie mit verstärkten Antriebshandlungen in jeglicher Hinsicht, mit wechselndem Erfolg:
Mutter bat mich, ich war voll in der Pubertät, das Kartoffelfeld umzugraben, weil sie die Saatkartoffeln legen wollte. Ich grub wie ein Besessener. Plötzlich, völlig losgelöst, packte ich den Spaten mit beiden Händen und wirbelte ihn um mich herum. Dass sich meine kleine Schwester aufgrund meiner Fluggeräusche interessiert näherte, bemerkte ich nicht. Aber mein Vater sah aus seinem Fenster die Gefahr und brüllte. Erschrocken brach ich den Hubschrauberflug ab. Von diesem Augenblick an geschah etwas in mir. Ich nahm mir vor, „triebgesteuerte“ Eingebungen in nutzbringende Antriebe umzuwandeln, was mir nicht immer gelang.
Denkaufgaben einfachster Art hingegen, wie ein einfaches Legespiel, Klötze zu Märchenbildern zusammenstellen, mit einem Stabilbaukasten einen Kran zusammenzusetzen oder mit Holz-Bauklötzen Häuser zu bauen, erschöpften mich damals. Ich schmiegte meinen Kopf an meine Mutter, fassungslos darüber, nach einer halben Stunde bereits keine Motivation mehr zu haben.
Dank unermüdlicher Hilfestellung und tagtäglicher Forderung begriff ich den Sinn dieser Spielangebote. Ein Verkehrsteppich mit aufgemalten Straßen, Schildern und einigen Spielautos sollte mich animieren, Vater hatte gerade unseren ersten VW erstanden, Verkehrsregeln zu begreifen. Er hatte meine ständigen Fragen wahrscheinlich satt.
Ich merkte, dass ich meinen Verstand tatsächlich gebrauchen konnte und begann, es fing mit Angelbüchern an, nachzulesen, wie und wann ein Aal zu fangen sei, wie man ihn töten und räuchern könne. Später verschlang ich alle Karl-May-Bücher, litt mit Tom Sawyer und Huckleberry Finn und begriff, wiederum Jahre später, dass jedes Wort bei mathematischen Textaufgaben eine bestimmte Bedeutung hatte.
Kriegsgräberpflege in Frankreich. Man suchte junge Leute, die einen Teil ihrer Ferien mit sinnvoller Arbeit verbringen wollten. Auf meinen Wunsch meldeten mich meine Eltern an. Es ging nach Amiens.4
1961 begann der Volksbund damit, die deutschen Toten aus Grablagen in den umliegenden Départements zu bergen. Zweiundzwanzig Kilometer nordwestlich von Amiens legte er den Friedhof Bourdon als zentralen Sammelfriedhof an. Meine Aufgabe und die anderer Jugendlicher war, jeden Vormittag ein großes Stück Land umzugraben, drei Wochen lang. Harte Arbeit, herrlich. Ich war nicht zu bremsen. Als Dank durfte ich am Sonntag als Messdiener in der Kathedrale von Amiens dienen und wurde anschließend vom Pfarrer zum Mittagessen eingeladen. Ich wusste nicht, dass Franzosen zum Essen Wein trinken. Unbekannt war mir, welche Wirkung der Wein erzielte. Total betrunken, leise, zufrieden vor mich hin lallend, wurde ich ins Lager zurückgebracht.
Neben meiner hauptberuflichen Tätigkeit in der Kita Jahre später kümmerte ich mich ehrenamtlich um den Aufbau des Malteser-Hilfsdienstes in Braunschweig. Bisher war der Kurs „Sofortmaßnahmen am Unfallort“ für Führerscheinanwärter angeboten worden. Ich wollte mehr.
Meine Beobachtungen und Befragungen ergaben, dass der Krankentransport in Verbindung mit dem Rettungsdienst von den anderen drei Vereinen, Rotes Kreuz, Arbeiter-Samariter-Bund und Johanniter-Unfall-Hilfe durchgeführt wurde. Sie kämpften als Konkurrenten um jeden Transport. Damals gab es keine gemeinsame Rettungsleitstelle, die alle Einsätze koordinierte, wie heute.
Ich fragte zwei Sanitäter, warum sie den stark blutenden Unfall-Patienten nicht richtig ‚angefasst‘ hätten mit stabiler Seitenlage und direkter Wundversorgung. „Wir sind doch nicht verrückt. Wir haben nur eine Uniform, die können wir nicht einsauen!“ Zusätzlich stellte ich fest, dass die Kranken oder Verletzten am Krankenhaus-Eingang abgegeben wurden, damit man schnell den nächsten Transport übernehmen konnte.
Über die Hauptzentrale des Malteser-Hilfsdienstes orderte ich einen Krankenwagen und ließ Ehrenamtliche zu Sanitätern ausbilden. Sie erhielten weiße Kittel und die Anweisung, Schwerkranke oder Verunfallte direkt zu versorgen und sie bis in den OP-Bereich des Krankenhauses zu bringen. Innerhalb weniger Wochen hatten wir die meisten Krankentransporte nach dem Roten Kreuz!
Das brachte Rudi auf den Plan. Er rief mich an und fragte, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm einen Flugrettungsdienst für den Harz-Heide-Raum zu organisieren. Er habe als Testpilot der Freiwilligen Feuerwehr Niedersachsens gearbeitet und sich aus zwei Hubschraubern einen zusammengebaut, der einsatzfähig sei.
Tolle Idee. Der Malteser-Hilfsdienst hatte kein Interesse, mit zu machen. Vielleicht ahnten die Verantwortlichen, welche Schwierigkeiten auf sie zukommen würden. Mich reizte es, naiv aktiv, wie ich war:
Innerhalb von acht Wochen hatte ich ein Team von ehrenamtlichen Sanitätern, drei Unfall-Ärzten und zwei Piloten zusammengestellt und einen Flugrettungsverein gegründet, als gemeinnützig anerkannt. Räume für das Einsatzteam und der Hubschrauber-Landeplatz standen im Krankenhaus Salzdahlumer Straße bereit. Die Firma Draeger stellte die notwendigen Geräte im Hubschrauber zur Verfügung. Der Oberbürgermeister der Stadt hatte seine ideelle Unterstützung zugesagt, eine Versicherungsgesellschaft begann mit der Beschriftung des Hubschraubers.
Wir trafen uns mit einem Mann vom Fach, um ihm unser Konzept vorzustellen. Er hatte sich einen Namen gemacht mit Notrufsäulen entlang der Autobahnen und mit der Flugrettung bundesweit. Für den Einsatz des Hubschraubers am Unfallort, so erklärten wir ihm, bekam man von der jeweiligen Krankenkasse achthundert DM, für die Verbringung des Notarztes zusätzlich achthundertfünfzig DM, zusammen pro Einsatz eintausendsechshundertfünfzig DM. Für die Wartung des Hubschraubers hätten wir eintausend DM im Monat aufbringen müssen. Da alle ehrenamtlich tätig waren, wären geringe Sachkosten angefallen. Folglich kein Zuschuss-Unternehmen, im Gegensatz zu einem Flugrettungsverein, der nur mit hoher staatlicher Subvention wie Spenden existieren konnte.
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