Getrieben - Adoptiv-Knilch packt aus. Peter Weidlich
diesen neuen Eltern gegenüber entwickeln, und gleichzeitig zutiefst wütend sein auf die leiblichen? Dieser Spagat an Empfindungen wird heftiger, je älter sie werden.
Im Laufe meiner Heimleitertätigkeit habe ich Adoptiv-Eltern kennengelernt, die die ersten Jahre als Beglückend empfunden haben, später trotz unsäglicher Mühen an dieser Aufgabe und ihren Wunschvorstellungen verzweifelt, oft auch gescheitert sind.
Wie begeistert haben sie die ersten Monate beschrieben, wenn ihnen ihre Kinder mit wachsamen Augen gefolgt sind, jede Nuance ihres Tonfalls registrierend, und lautstark Bedürfnisse durchsetzen konnten. Konflikthafter wurde es, als sie älter und eigensinniger wurden und während der Pubertät Vergleiche zogen zwischen ihren neuen Eltern und ihren oftmals unbekannten Leiblichen, aus Sehnsucht glorifiziert und unantastbar.
Was geht in Adoptiv-Eltern und ihren Anvertrauten vor, habe ich mich gefragt, wenn das Kind zum Nachbarn schleicht, barfuß im Winter, zitternd vor Kälte, und um Süßigkeit bettelt, weil es nichts dergleichen bekommt, nur normales Essen? Wenn es sich nach Jahren mit der Clique ins Koma säuft oder total zukifft, weil keiner es versteht? Wenn die Eltern sich scheiden lassen, weil sie der Lebens-Aufgabe nicht mehr gewachsen sind, das Adoptivkind alle Anstrengungen unternimmt, beide wieder zusammenzubringen und nach dem Misslingen Vater, Mutter oder sich selbst umzubringen trachtet? Wenn die Erwartungen des Kindes übermächtig und unerfüllbar werden, besonders, wenn leibliche Kinder ihnen als Konkurrenten die Rangfolge streitig machen? Wenn sie trotz aller Fürsorge und Hingabe einen kriminellen Weg einschlagen mit der Begründung, eine schwere Kindheit ohne Liebe und Verständnis gehabt zu haben?
Albert und Dorothea haben eine mittlerweile verheiratete Tochter mit einer Behinderung, einen gesunden Sohn, der sich als Geschäftsnachfolger bewährt und einen Adoptiv-Sohn, der ihnen allen das Zusammenleben zur Hölle macht.
Geplant war, diesem Jungen eine liebevolle Nestwärme, gute Erziehung und zukunftsorientierte Bildung zu bieten. Um das Leben der Tochter zu bereichern, organisierten die Eltern Spenden-Aktionen zugunsten des Behinderten-Vereins, in dem ihre Tochter gefördert wurde. Ihrem Sohn ermöglichten sie, die Meisterprüfung zu absolvieren, um ihren Betrieb übernehmen zu können. Sie hatten die besten Vorstellungen, ihren Kindern neben der liebevollen Fürsorge, einer intensiven Förderung und einer kontinuierlichen Präsenz den Grundstein für ein angenehmes Leben zu legen.
Die Realität brachte die Familie an den Rand der Verzweiflung. Konkurrierendes Verhalten zwischen den Söhnen, angereichert von Vorwürfen beider Jungen, benachteiligt zu werden, führte zu massiven Auseinandersetzungen innerhalb der Familie. Der eine, angepasst und strebsam, der andere verhaltensgestört und kriminell.
Irgendwann konnten sie die Vorwürfe nicht mehr ertragen, ihren leiblichen Sohn mehr zu lieben, ständig vorzuziehen, ihn aber, den Angenommenen, trotz seiner schwierigen Kindheit und seiner Verhaltensweisen, für die er nichts könne, im Grunde ihres Herzens abzulehnen.
Schlussendlich festigte sich die Ablehnung des adoptierten Jungen und provozierte einen Teufelskreis, der immer unerträglicher wurde und trotz professioneller Beratung eskalierte. Nach unendlich vielen inneren und äußeren Kämpfen wurde die Beziehung gekappt. Tiefe Verletzungen führten zur Desillusionierung und der Resonanz: Nie wieder eine Adoption!
Christian, bereits etwas reiferen Alters, sinnierte während unseres Gesprächs über den Wert einer Adoption allgemein und ob er so ein kleines Kind wirklich lieben könnte. Er hatte bereits drei leibliche, die bei seiner ersten Frau lebten oder bereits mit Partnern verbandelt waren. Aber ein völlig fremdes Kind, gerade ein Jahr alt, eine Brasilianerin, mit Feuer im Blut wie seine zweite Angetraute?
Ich hörte ihm zu, als er begeistert und dennoch vorsichtig von der bevorstehenden Adoption sprach.
„Für das hiesige Jugendamt bin ich zu alt, aber nicht zu alt für meine Frau. Und sie wünscht sich unbedingt ein Kind. Was machen da die zwanzig Jahre Unterschied? Sie kann keine Kinder bekommen. Also, haben wir uns an Pater Walfried in Rio gewandt. Er leitet dort ein Waisenhaus. Dahin geht’s in einer Woche!“
So ähnlich muss es gewesen sein, als meine Eltern kurz vor meiner Adoption standen, dachte ich. Und dann kam ich, kein Säugling mehr, sondern ein Stromer, ein Stempelwüstling.
Christian sah das Wasser in meinen Augen, fragte erschrocken, was los sei. Ich erzählte ihm meine Geschichte.
Interessiert, mit einem Adoptivkind reden zu können, dessen Befindlichkeiten aus erster Hand erzählt zu bekommen, stellte er Fragen über Fragen, die seine Ur-Ängste oder Unsicherheiten abbauen sollten.
Eine Woche später brachten wir ihn mit seiner Frau zum Flughafen. Ein Teddy für Christina sollte sie begleiten.
Er flüsterte mir ins Ohr, als sie nach drei Wochen mit ihrem Schatz die Ankunftshalle betraten:
„Als die Kleine mir am Bart zupfte und mit großen dunklen Augen in mein Innerstes schaute, sagte ich: »In Ordnung. Du hast gewonnen«. Und ob du es glaubst oder nicht, ich werde wieder jung!“
Monate später sprach ihn ein Kunde an. Er hatte das dunkelhäutige Kind wahrgenommen und begriffen, dass es adoptiert sei. „Sie sind wirklich mutig, wissen Sie. Einfach so ein Kind anzunehmen, ohne zu wissen, welche Gene in ihm steckt!“
Christian packte den Kunden am Kragen, zerrte ihn vor einen Spiegel und fauchte: „Welche Gene sehen Sie jetzt? Wissen Sie, welche in Ihnen stecken und Sie beeinflussen?“
Wenige Monate später stoppte ein Ehepaar seinen Kinderwagen vor seinem Geschäft. Herein kam es mit einem Säugling, schokofarben, am Schnuller saugend.
„Sie hatten Recht, damals, egal, was für Gene es hat, es kommt darauf an, wie wir unser gemeinsames Leben gestalten!“
Das Zusammenleben mit meinen Adoptiv-Eltern mag ein Beispiel einer ‚gelungenen Adoption‘ sein und Mut machen.
VON WALD UND TIER GEPRÄGT
Verantwortung
Direkt hinter dem Gutshof, in dem wir zuoberst wohnten, erstreckte sich der Hochwald mit für mich seltenen Geheimnissen. An einer ganz bestimmten Stelle, höher gelegen zwischen alten Buchen, ein steiniger, niedriger, mit Moos bewachsener Wall. Neugierig rollte ich einen der größeren Steine zu Seite und erschrak: Etwas Gelb-schwarzes glotzte mich aus kugelrunden, dunklen Augen an. Statt zu fliehen, fiepte es, vermischt mit einem hellen Knurren. Vorsichtig streckte ich meine Hand aus und schob es mit der anderen auf meine Handfläche. Das kleine Wesen musste ich meinem Vater zeigen. Es machte immer noch keine Anstalten, weg zu laufen. In meiner Handkugel beschützt, eilte ich den Hang hinunter nach Hause. Stolz zeigte ich Vater meine Entdeckung. Er runzelte die Stirn und klärte mich auf: Ein Feuersalamander, streng geschützt, die Haut scheide ein Gift aus, deswegen nie anfassen! Vorsichtig nahm er ein Geschirrtuch, wickelte das winzige Reptil hinein, und gemeinsam brachten wir es wieder an den Fundort, den ich mir gemerkt hatte.
Jahre später, als einige Kinder in meinem Kinderheim von Salamander-Schuhen schwärmten, erzählte ich ihnen diese Geschichte und prahlte damit, diesen Fundort wieder zu finden.
„Das wollen wir sehen“, forderten sie mich heraus.
An einem Wochenende darauf fuhr ich mit zwei Mädchen und zwei Jungen in das Weserbergland bei Trendelburg, führte sie zu der Stelle und – tatsächlich fanden wir unter demselben großen Stein mehrere Feuersalamander.
„Cool. Sind die süß!“ Anerkennendes Schulterklopfen.
Es faszinierte mich, mit meinem neuen Vater an einem mit Wasser gefüllten Bombentrichter aus dem zweiten Weltkrieg den Unkenrufen zu lauschen, die wie fernes Glockengeläut aus der Tiefe des Kraters drangen, geheimnisvoll und spannend zugleich. Mein Vater liebte den Wald mit seinem würzigen Geruch nach Harz und feuchtem Moos, nach vermodertem Holz und frischem Grün. Und seinen Früchten, die besonders in der Nachkriegszeit gefragt waren: Pilze aller Arten, Bucheckern, Brennnesseln als Spinat, Blau-, Preisel-, Himbeeren, wilde Erdbeeren zwischen