Getrieben - Adoptiv-Knilch packt aus. Peter Weidlich

Getrieben - Adoptiv-Knilch packt aus - Peter Weidlich


Скачать книгу
im Herbst.

       Ich habe Vaters bitterenttäuschte Mimik gesehen und mitgelitten: Er briet siegesgewiss selbstgesammelte Steinpilze in Butter, einen prallgefüllten Rucksack voll. Nach dem ersten Bissen wurde alles im Mülleimer entsorgt: Bitterpilze! Sie sehen den Steinpilzen zum Verwechseln ähnlich.

       Als ich auf einem großen Wasserfass sitzen durfte, mit Sirup gefüllt, und handflächenweise diese klebrige Masse herausangeln und schlecken konnte, war die Welt für mich in Ordnung.

       „Der Junge braucht einen Spielkameraden, als Einzelkind wird er verwöhnt! Vielleicht ein Schwesterchen? Dann kann er gleich üben, Rücksicht auf Kleinere oder Jüngere zu nehmen.“

       Schnell wurde der als Sehnsucht empfundene Gedanke meiner Mutter in die Tat umgesetzt. Das Jugendamt stellte ein neun Monate junges Mädchen vor, zur Freude meiner Mutter, weil es nicht so fordernd sein würde wie ich, hoffte sie.

       Sie war der Sonnenschein unserer Familie, fünf Jahre jünger als ich, moppelig, pflegeleicht. Sie hing an mir, ihrem großen Bruder. Den Gedankenblitz wischte ich zur Seite, dass sie eine Konkurrentin sein könnte. Ich war mir der uneingeschränkten Liebe meiner Eltern trotz meiner Wildheit sicher, in der ebenfalls Platz für meine kleine Schwester sein würde.

       Um zu uns gelangen zu können, musste jeder Besucher die Verschachtelung vieler Treppen überwinden, bis er zur sogenannten Falltreppe kam, die in Ermangelung eines Geländers Abstürze provozierte. Darüber wurde später ein Film gedreht: „Die Falltreppe“ mit Ralf Wolter, bekannt als Sam Hawkens-Darsteller in den Winnetou-Filmen. Er spielte meinen Vater und Arnim Dahl doubelte als Stuntman den Versicherungsvertreter, der die Falltreppe hinunterstürzen musste. Nach drei Treppenstürzen war die Szene im Kasten.

       Ein Jahr später zogen wir um in die Lüneburger Heide, nach Knesebeck, in ein ehemaliges Forsthaus, mitten in einem großen Waldgebiet, genannt ‚Junkernholz‘, vier Kilometer abseits des Dorfes.

       Hier hatte mein Vater sein eigenes Zimmer, in dem er seine Bücher schrieb und seine Texte für Rundfunk und Fernsehen verfasste. Ganz links ein Kanonenofen, an dem ich lernte, wie man mit Reisig und harzigen Tannenzapfen, Minuten später mit Briketts eine angenehme Wärme erzielen konnte. Halblinks ein großer Schreibtisch, mit Bleistiftstummeln in Bleistifthaltern, Radiergummis, eine Adler-Schreibmaschine, Durchschlagpapier, Tischlampe, alter runder Eichenstuhl, rechts flache, gepolsterte Liege als Bett, Stehlampe.

       Der Wald verführte mich zu jeder Jahreszeit. Wenn die Sonne stärker war als der Schnee, die ersten Schneeglöckchen und Krokusse und wiederkehrenden Kraniche den Frühling ankündigten, trieb es mich, den Staub aus den jungen, weichen Haselnusslämmchen zu stupsen, die Veilchen und ein wenig später die Schlüsselblumen als Frühlingsboten für meine Mutter zu pflücken. Das junge Grün der Birken und Buchen, die sich entfaltenden Königsfarne, der hämmernde Specht an knorrigen Kiefern und die Kuckucksrufe lockten mich in die Geheimnisse des Hochwaldes. Wenn ich Rehe und Hirsche in ihren Einständen beobachtete, mit Herzklopfen zu den sich suhlenden Wildschweinen im Schutz der Farnkräuter robbte oder mich ihrem Kessel mit den drolligen Frischlingen näherte und, dem Warnschnaufer der Bache gehorchend, mich schleunigst zurückzog, dann lebte ich glücklich in meiner Welt.

       „Eine Welt, in der alles in Ordnung scheint, in der alles seinen Platz hat zum Wohle des Ganzen“, wie mein Vater es mir in Gegenwart seines Schriftstellerfreundes Manfred Hausmann vermittelte, als dieser ihm seine neuste Erzählung über den besten Fahrer von Edinburgh präsentierte und mir meine erste Angel mit stationärer Rolle schenkte.

       Micki, unsere Airdale-Terrierhündin, und ich saßen fast täglich an der Ise5, beobachteten Barsche und Hechte, die im klaren Wasser auf Beute lauerten.

       Neunaugen faszinierten mich, weil sie sich an größeren Fischen festsaugen, sich Blut und Fleischstücke einverleiben. Spezielle Substanzen in ihrem Speichel hemmen die Blutgerinnung, weshalb bei angegriffenen Fischen keine Blutgerinnsel entstehen. Forscher extrahieren diese Substanz, um sie in der Medizin als Mittel zur Auflösung von Blutgerinnseln zu nutzen.

       Flusskrebse am Uferrand waren leicht zu fangen. Als Vater sie aber lebendig ins kochende Wasser warf, um das weiße Schwanz-Fleisch und das der Scherenmuskeln essen zu können, taten sie mir leid. Ich fing keine mehr.

       Die Miesmuscheln übten einen besonderen Reiz aus, weil ich hin und wieder eine Muschel mit einer Perlmutt-Perle zur Freude meiner Mutter fand.

       Bald wusste ich, mit welchen Ködern man Forellen oder Hechte fangen konnte. Bei Hochwasser war die Ausbeute gut, weil Karpfen und Aale versäumt hatten, sich mit dem abfließenden Wasser in das Flussbett zu retten.

       Satte, Champion reiche Kuhweiden links und rechts der Ise sorgten im Altweibersommer für zentnerschwere Pilzmahlzeiten. Allerdings war höchste Vorsicht geboten: Vorwitzige Knollenblätterpilze, mit denen nicht zu spaßen ist, gesellten sich nahe des Waldrandes zwischen die Wiesenchampignons.

       Als ich als Zwölfjähriger diesen entsetzlichen Traum hatte, stand für mich fest: Tiere werden nicht gequält!

       Ich hatte einen Tag zuvor bei meinen Streifzügen durch den Wald einen riesigen Ameisenhaufen entdeckt. Vater hatte in einem dieser Haufen mit nacktem Po gesessen, um durch die Ameisensäure die Schmerzen an seiner Bandscheibe besser ertragen zu können.

       Dicke Waldameisen krabbelten an meinen nackten Beinen empor, weil ich zu nahe an ihrer Wohnung stand und Arbeitswege blockierte. Als ich herumhampelte und versuchte, die Ameisen wegzuschlagen, bissen sie. Ich packte mir einen Ast und zerstörte den ganzen Haufen.

       „Das habt ihr davon. Warum beißt ihr mich?“, begründete ich mein Tun und lief weiter durch den Wald zur Ise, um die schmerzenden Bisse zu kühlen.

       Nachts im Traum kamen sie. Sie krabbelten unter meine Bettdecke, an meinen Beinen hoch. Mit jedem Biss erinnerten sie mich an meine blöde Tat. Es war so schlimm, dass ich mich auf die Decke legte, um nicht mehr gepiesackt zu werden.

       Als Vater aus seiner Dichterklause zum nahen Waldrand blickte, sah er mich. Ich stand am Maschendrahtzaun und redete mit den fünf Gänsen. Einerseits fand ich sie toll, weil sie lecker schmeckten. Andererseits versuchten sie mir immer in die Hacken zu beißen, wenn sie frei herumliefen und ich mit meiner Mundharmonika auf dem Weg zum Klo war.

       Das Plumps-Klo, ein Donnerbalken aus breiten Brettern mit einem Loch, war in einem der vier Schuppen untergebracht. Um dahin zu kommen, musste ich am offenen Gänsegehege vorbei.

       „So, jetzt zeig’ ich’s euch, ihr kommt zwar sowieso bald in die Pfanne, vorher kommt die Strafe!“

       Ich bewarf sie zielgenau mit Steinen. Sie flatterten schnatternd durchs Gehege und versuchten, meinen Würfen auszuweichen.

       „Peter! Sofort aufhören! Komm in mein Zimmer!“

       Oha, dachte ich, seine Stimme klingt so zornig. Hat er was? Ich hüpfte die Treppe hinauf, klopfte an seine Arbeitszimmertür. Ein hartes „Herein“ hätte mich warnen sollen.

       Da saß ich auf seinem Diwan, zwischen uns sein riesengroßer Arbeitstisch. Er thronte auf seinem Uralt-Stuhl und sah mich strafend an.

       „Warum habe ich dich gerufen?“, fragte er mit milderer Stimme.

       „Weiß nich.“

       „Wie, du weißt es nicht? Du hast Gänse gequält. Mit Steinen beworfen! Habe ich gesehen!“

       „Klar, die beißen mich ja immer. Meine Rache!“


Скачать книгу