Getrieben - Adoptiv-Knilch packt aus. Peter Weidlich
der Zuschauer.
Afra lag im Körbchen nahe Frauchens Bett-Seite. Nachts um halb zwei stand Afra auf, schüttelte sich, klapperte mit den Zähnen, stöhnte zuerst leise, dann lauter werdend, kratzte sich hinterm Ohr, gähnte vernehmlich laut – immer mit dem Blick in meine Richtung, ob ich etwas hören und reagieren würde. Als ich die Bettdecke zurückschlug und murmelte: „Ja, ist gut, ich komme ja schon“, sprang sie freudestrahlend um das Bett, stupste mich an und lief vor mir die Treppe hinunter zur Terrassentür. Ich stolperte hinterher, blind, weil ich keine Lust gehabt hatte, meine Brille aufzusetzen. Ich öffnete die Tür und entließ Afra in den Garten.
Sie wollte immer nachts einmal raus. Nicht nur, um vierzehnmal zu pinkeln oder eventuell ein klitzekleines Häufchen zu machen, sondern hauptsächlich, um die Kaninchen in ihre Baue zu jagen. Wenn sie dann den halben Teich leergesoffen hat, kommt sie mit tropfendem Drahthaar-Bart an die Küchentür, klopft mit ihrer Pfote an die Scheibe und bittet um Einlass.
Ich war in dieser Zeit auf der Besuchertoilette, hatte das Außen-Licht zum Teich angeknipst, damit Madame Afra nicht hineinfällt und hatte mir ein Glas Wasser einverleibt, alles ohne Brille!
Es kratzt an der Scheibe. Ich öffne die Tür. Afra eilt durch die Küche die Treppe hinauf in ihr Körbchen. Ich taste mich in mein Bett. Gegen vier Uhr wache ich auf. „Was stinkt hier so tierisch?“, frage ich, mir die Augen reibend und die Luft anhaltend, „hat Afra irgendwohin gemacht?“ In diesem Augenblick springt Afra wie vom Blitz getroffen aus ihrem Körbchen, rennt aufgeregt um das Bett und beißt in etwas Rundes. Ich katapultiere mich aus den Federn, mache das Licht an und sehe das stinkende Etwas, was sich unter der Kommode verabschieden will, aber gerade noch von Afra geschnappt wird: Ein Igel, dick, stinkend, verlaust, den Afra im Garten entdeckt und als Beute in ihr Körbchen getragen hat. Und diese Beute will sich mitten in der Nacht verabschieden? Null Chance, bei Afra.
Ich brauchte eine verständnisvolle Ansprache und diverse Versprechungen hinsichtlich delikater Leckerlies, damit Afra ihren Fang gnädiger Weise öffnete und ich mittels eines Handtuches den Igel wieder in den Garten tragen konnte. Am nächsten Morgen war der Igel fort, sein Gestank aber noch lange in den Nasen.
Afra, die als Jagdhündin ihrer Bestimmung nach hätte zur Jagd eingesetzt werden sollen, nahm ihre Aufgabe als eine überaus wachsame Haushündin wahr, bei Postboten nicht ganz so beliebt, war aber der Schrecken von etwaigen Einbrechern. Sie wollte ihr Frauchen und ihr Herrchen absolut bewachen. Wenn Frauchen ihr Jagdhorn an die Lippen nahm und Jagdsignale blies, sang sie mit, vielleicht ein wenig wehmütig in Erinnerung an viele Jagderlebnisse, die sie mit Herrchen und Frauchen erlebt hatte.
Nach ihrem Ableben im Alter von vierzehn Jahren, also achtundneunzig Hundejahren, beerdigten wir sie im Wald ihrer Frauchen-Familie.
Ohne Hund zu leben, hielt ich, seit mehreren Jahren Rentner, wirklich nicht aus, zumal meine Frau, voll berufstätig, den ganzen Tag außer Haus war. Wieder einen großen Hund? Nein! Eine kleine Hündin, wie unser Tierarzt sie hat, ja.
Blick ins Internet: Tatsächlich, unglaublich niedliche Welpen im Angebot. Jetzt als Rentner habe ich viel mehr Zeit, mich um ein solch kleines Wesen zu kümmern, dachte ich, mehr als Heimleiter damals, als die Sozialisation der mir anvertrauten Kinder und Jugendlichen Vorrang hatte.
Duisburg-Meiderich. Acht Wochen alt, entwurmt, geimpft, zweitletzte vom Wurf: Noch namenlos. Sie streckte sich uns aus der Wurfkiste entgegen, kuschelte sich in Frauchens Hand, schnupperte.
Tierarzt Aloys’ blitzschnelle Untersuchung. Er hatte uns begleitet, war neugierig auf das kleine Wesen.
„Wenn ihr sie nicht haben wollt, nehme ich sie, Emma wird sich freuen.“ Emma war seine ältere Zwergschnautzer-Hündin.
Alles in Ordnung, signalisierte er. Ich blickte in ihr Gesicht, sah die dunkle Fellfärbung um das Näschen, die fast weißen Haare drumherum, die bernsteinglänzenden Äugelein, die kleinen Pfötchen und hatte sofort das Verlangen, dieses kleine Bündel beschützen zu wollen. Große Hunde passen auf dich auf, kleine Hunde musst du behüten, dachte ich spontan.
Auf der Rückfahrt kuschelte sie sich in meinen Arm, schmiegte ihr Köpfchen in meine Hand, zufrieden andeutend: Zu euch wollte ich. Die Trennung von der Mutter schien ihr nichts auszumachen. Wir waren total irritiert. Wir hatten damit gerechnet, dass sie weinen würde, Hunde können weinen, aber nichts Derartiges geschah. Wie selbstverständlich ging sie mit uns. Völlig unbefangen, voller Zutrauen, im Gegensatz zu mir damals, als ich meinen neuen Eltern folgte.
Zuhause stellten wir einen rechteckigen, hohen weichgepolsterten Korbkoffer ohne Deckel direkt neben unser Bett. Dahinein setzten wir sie. Sofort streckte sich der kleine Körper zu voller Länge, die Pfoten erreichten gerade den oberen Rand. Sie versuchte, hoch zu klettern. Plumps, lag sie. Ein neuer Versuch. Mehr Schwung, wieder nichts. Sie gab nicht auf, beim fünften Mal erschien ihr Köpfchen über dem Kofferrand und plumps, lag sie in unserem Bett. Wir strahlten, als sie sich zwischen uns einrollte und genüsslich die Äugelein schloss. Jetzt hatte sie ganz gewonnen, ganz nahe bei uns, als ob es vorherbestimmt gewesen sei.
Den Blechnäpfchen, eines mit Wasser, das andere mit Welpenfutter gefüllt, näherte sie sich am nächsten Morgen ganz vorsichtig, eher noch abweisend, als ob von ihnen eine Gefahr ausginge. Ob sie den anderen im Rudel immer den Vortritt lassen musste, überlegte ich, würden die Blechgefäße sie an Rangkämpfe erinnern? Also tauschte ich die Blechnäpfe mit Keramikschüsseln aus. Siehe da, sofort nahm sie das Futter und Wasser an. Ich strahlte: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt!
Florentine, genannt Flo oder Flöchen, wuchs heran, gewöhnte sich an unseren Tagesablauf und tat alles, um geliebt zu werden. Sie zeigte an, wann sie in den Garten musste, verstand jedes Wort und wusste, wann sie zu gehorchen hatte. Zuerst an der Schleppleine, spazierten Frauchen und sie durch den Buchenberg-Wald. Sie verstand, nicht vom Weg ins Unterholz laufen zu dürfen, weil dort viele Gefahren lauerten. Wenn Jogger kamen oder Radfahrer hieß der Befehl „Stopp“, sich sofort auf den Po zu setzen und sitzen zu bleiben. Nach wenigen Wochen las sie ohne Leine die ‚Zeitung‘, höchstens zehn Schritte voraus.
Unser Grundstück war eingezäunt. So war es Flo verwehrt, eine überaus Neugierige, ihre nähere Umgebung außerhalb zu erkunden. Zur Abwechslung bauten sich Wildkaninchen vor den Terrassenfenstern auf, kratzten sich, jagten einander und grinsten in Richtung Flo. Sie stand am Fenster, zitternd vor Erregung, in höchsten Tönen bellend und bittend, doch endlich die Tür geöffnet zu bekommen. Kaum kam ich ihrem Wunsch nach, stob sie hinter den davonrasenden Kaninchen hinter her. Kurz, bevor sie hätte zupacken können, machte sie einen Bocksprung und blitzschnell verschwanden die Tiere in ihren unterirdischen Bauen, die sie sich in die Lärmschutzwand gebuddelt hatten. Das war der Beweis für mich, dass Flo eigentlich nur mit ihnen spielen wollte. Das begriffen die jungen und älteren Exemplare nicht, die sich an unseren Stauden satt fraßen und die herabhängenden Zweige der Trauerweiden in achtzig Zentimeterhöhe rundum kahlrasierten.
Neue Nachbarn zogen neben uns ein. Ein drolliger schwarzer Mops lugte durch den Maschendrahtzaun zu uns hinüber. Nase an Nase begrüßten sie sich. An einer Stelle zum Nachbarn öffnete ich den Zaun, damit die beiden Hündinnen miteinander toben konnten. Der Mops drückte eines Tages den Zaun zur Straße hin nach oben, weil auf der anderen Zaunseite ein fremder Hund zur Begrüßung bellte, womöglich auch aufforderte, die Welt zu erkunden. Neugierig wie Flo ist, zwängte sie sich unter dem Draht hindurch und eilte dem fremden Hund hinterher. Der rannte wohl zu seinem Herrchen, Flo hinterher.
Ich kam aus der Dusche und rief sie. Sie kam nicht, stattdessen der schwarze Mops, irritiert. Ich suchte unter allen Sträuchern. Hoffentlich hat sie nicht wieder einen epileptischen Anfall wie vor einigen Monaten, hoffte ich. Damals lag sie wie Tod auf dem Rasen, atmete kaum, die Augen geschlossen. In Panik rief ich den Tierarzt an. In meinen Armen liegend, erwartete ich ihn. Nach etwa zehn Minuten, kurz bevor der Doc kam, rührte sie sich wieder, hob ihren Kopf, sah mich aus langsam erwachenden Augen an. Der Doc diagnostizierte einen epileptischen Anfall, der während der ersten Hitze vorkommen könne. Seitdem hatte sie nie wieder einen.
Ich schwang mich aufs Fahrrad und fuhr unsere Siedlung ab. Nichts. Zeitgleich kam meine Frau von der Arbeit zurück. Aufgelöst