Getrieben - Adoptiv-Knilch packt aus. Peter Weidlich

Getrieben - Adoptiv-Knilch packt aus - Peter Weidlich


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ist ja zu, dachte ich. Plötzlich kam er mir schnurstracks entgegen, der Pulverschnee stob auf, machte einen Bogen um mich und bremste abrupt, die Vorderläufe in den Schnee gerammt:

       „Wauwuffwuff!“

       Meine Schwester fiel vor Schreck vom Schlitten.

       Der Bernhardiner drehte sich ab und trottete wieder zurück. Ich meinte, sein Lachen gesehen zu haben.

      Menschen, die Tiere mögen, können nicht schlecht sein, sagt man. Das muss wohl auch Coco empfunden haben. Er musste ins Heim, seine Mutter wollte es auch, weil sie mit ihren vier Kindern als Alleinerziehende total überfordert war und Hilfe einforderte, so der Vermerk des Jugendamtes.

      Beide saßen im Wohnzimmer, Mutter mit verheultem Gesicht, Sohn Coco, gerade mal 10 Jahre alt, begriff die Welt nicht mehr. Hier sollte er bleiben, weit weg von seiner Mama? Niemals! Er umklammerte ihr Bein, versteckte sein Gesicht hinter ihrem Rücken. Als ich die beiden sah, eine Einheit, die zerrissen werden sollte, und die Erklärungsversuche der Mutter hörte, von denen ihr Sohn nichts wissen wollte, fühlte ich mich total fehl am Platz. Ich holte Minka und Bessy, zwei Große Münsterländer-Hündinnen, die vom Welpen-Alter an in unserer Einrichtung als Spielgefährten der Kinder lebten, und ließ sie, wie aus Versehen, in das Wohnzimmer.

      Ich sah, wie die Hunde den Jungen mit seiner Mutter freudig stupsten, beide ausgiebig beschnüffelten und sich streicheln ließen. Ich verließ das Zimmer.

      Nach einer halben Stunde kam die Mutter in die Küche und erklärte, dass ihr Sohn bei uns bleiben wolle.

      Coco absolvierte die Hauptschule und eine Berufsausbildung mit Bravour. Er legte sich, aus der Heimerziehung entlassen, einen Terrier-Welpen zu, den er zu seiner Arbeitsstelle mitbringen durfte.

      „Jagd ohne Hund ist schund“, heißt es in Jägerkreisen. Als Jungjäger, der gerade die Jägerprüfung bestanden hat, wurde ich zur Treibjagd im Münsterland auf Niederwild eingeladen. Das Treffen der Jäger mit ihren Jagdhunden war auf einem Bauernhof. Während der Begrüßung durch die Jagdhornbläser bemerkte ich einen ‚mitsingenden‘ Jagdhund, einen ‚Kleinen Münsterländer‘, schwarz-braun, in einem Zwinger auf seinen Hinter-Läufen sitzend. Der Zwinger, zwei bis drei Quadratmeter groß, ohne Auslauf, windschiefe, verrottete Hütte, verdreckte Wasserschale. Der Hund hockte in seinen Fäkalien und guckte traurig zu uns hinüber. Ich spürte einen schrecklichen Stich, als ich dieses Elend begriff. Und ich traute mich nicht, etwas zu sagen, den Halter anzugreifen, ihn zur Rede zu stellen, dieses Martyrium des Hundes zu beenden. Ich schwieg, ich wollte ja wieder eingeladen werden. Ich schämte mich meiner Feigheit.

      Einige Tage später erfuhr ich, dass ein Jäger verstorben sei und seine Frau einen Jagdhund abzugeben hätte. Meine Frau, ebenfalls Jägerin, und ich besuchten den Hund, ein großer Deutsch-Langhaar-Rüde. Er sah uns Rute wedelnd aus glanzlosen Augen an. Sein ein Quadratmeter kleiner Zwinger mit einer kleinen Hütte war total verdreckt. Sein stumpfes Fell ließ nichts Gutes ahnen: Keine Impfungen, keine Wurmkur, nichts. Der Hund ist nur zur Jagd aus dem Zwinger geholt worden. Wir verfluchten diese Jäger und nahmen uns vor, nie wieder zu schweigen.

      Chico lebte von nun an in unserem Kinderheim, gedieh prächtig und schüttelte den Kopf, wenn er neben mir bei der Taubenjagd saß und feststellte, dass Herrchen mal wieder vorbeigeschossen hatte. Frauchen zog er einen von ihr erlegten Rehbock aus den Brennnesseln, so stark war er, so aktiv, eben ein leidenschaftlicher Jagdgehilfe.

      Nach Jahren lag er in der Küche und schnappte nach vorbeieilenden Kindern. Wir wunderten uns, weil er das nie getan hatte. Schnell begriffen wir, dass ihm der Rücken zu schaffen machen musste, denn er sprang auch nicht mehr in den Kofferraum des Geländewagens. Der Tierarzt bestätigte unseren Verdacht.

      Eine Goldkugel-Implantation am Rückgrat, vereinfacht ausgedrückt, beendete sofort die Schmerzen. Chico war wieder der alte.

      Ihm zum Vergnügen und den Kindern als Spielkameradin kauften wir einen Airedale-Terrier-Welpen, und tauften sie auf den Namen Kaja. Sie wuchs heran, tollte mit den Kindern um die Wette und beteiligte sich an der Erziehungsaufgabe. Sie knurrte böse, wenn zwei Jungen sich ernsthaft prügeln wollten oder gab Laut, wenn sie beim Angeln an der Ems waren und Fremde hinzukamen. Sie vertrieb Nutrias oder Wanderratten, die den Anglern zu nahe kamen.

      Als beide älter und ruhiger wurden, kauften wir einen zur Jagd ausgebildeten Jagdhund, eine ein Jahr junge Deutsch-Drahthaar-Hündin. Afra zeigte bereits vom zweiten Tag an ihren Jagdtrieb, aber auch, wie intensiv sie abgerichtet worden sein musste, denn: Herumtollen oder spielen mit Bällen oder Stofftieren kannte sie nicht. Leider! Beute machen, ihrem Herrchen bringen, das hatte man ihr eingeschärft.

      Ich hörte ein beständiges, energisches Jiff, Jiff, Jiff …

      Afra schwamm im vierhundert Quadratmeter großen Teich des Nachbarn hinter einer Ente her. Die machte sich, so bemerkte ich mitleidsvoll, einen Spaß mit Afra. Sie paddelte vor ihr her Richtung Ufer, schwang sich in die Lüfte und fiel am anderen Ende des Teiches wieder ein. Afra drehte sich um, steuerte auf sie zu, das Spiel wiederholte sich bestimmt zehn Mal. Ich stand am Ufer und rief, flehte, schrie, nichts: Afra immer hinterher, vor der grinsenden Ente. Der Nachbar, aufgeschreckt von dem Lärm, sah das Szenario, holte seine Flinte und schoss die Ente. Afra nahm sie behutsam in ihren Fang, schwamm ans Ufer und brachte sie mir, Schwänzchen zitternd. Eine Woche später ein Geschrei und Gegackere unter dem Hühnervolk, das im maschendrahtumzäunten Auslauf nach Regenwürmern scharrte. Aufgescheucht rannte ich zum Auslauf des Hühnerstalls und sah mit Schrecken, wie Afra freudestrahlend hinter einem Huhn her hetzte, es packte und kurzerhand tot biss. Mit Entsetzen stellte sie fest, dass im Auslauf bereits über zehn tote Hühner lagen. Mein Aufschrei:

      „Aus, Afra, aus! Hör’ auf! Hierher!“ nützte nichts, er schien Afra eher anzuspornen. Ich versuchte, über den einmetersechzighohen Zaun zu steigen, schimpfte, trat aus lauter Verzweiflung den Zaun nieder und erwischte Afra am Halsband.

      „Was hast du?“, fragten Afras Augen ohne eine Spur von Unrechtsbewusstsein. „Ich habe sie dir gefangen, die Beute gehört dir, das ist doch meine Aufgabe!“

      Ein schlimmes Ereignis vertiefte die Beziehung zwischen mir und Afra:

      Pastor Heinrich war mit seinem fünfjährigen Griffon bei uns zu Besuch. Afra und dieser struppige Hund tobten durch den Garten. Wir stellten fest, dass sie sich vertrugen und nahmen zum Kaffeetrinken Platz auf der Terrasse.

      Auf einmal hörte ich ein herzzerreißendes, tierisches Aufheulen. Ich stürmte in die Richtung des Schreis, vernahm ein verhaltenes Wimmern und ein ätzendes Schnaufen. Mir stockte der Atem: Der Griffon hatte Afra bestiegen, sie hingen verkoppelt zusammen, sein Hunde-Glied war stark geschwollen. Afra, anderthalb Jahre alt und außerhalb der Hitze, stand vor mir. Sie sah mich an. Ihr Blick total verstört. Mich trafen Blitze, die schrien:

      „Warum hilfst du mir nicht? Reiß ihn weg!“

      Es geht nicht, schluckte Ich, sonst könntest du innerlich verbluten!

      Der Glanz in ihren Augen brach. Tränen. Stummes Leiden.

      Der Schwellkörper ließ nach, Afra löste sich. Wir fuhren zum Tierarzt, der die innerlichen Verletzungen behandelte.

      Die nächstfolgenden Tage verkroch sich Afra unter dem Küchentisch oder suchte die Nähe von uns.

      Seit diesem Ereignis hasste sie alle großen Rüden!

      Nach einigen Jahren mussten wir Chico in die ewigen Jagdgründe schicken. In den Armen meiner Frau starb er, ein starker, gutmütiger Rüde, der die letzten Jahre treu seinem Frauchen gefolgt war und nun altersmüde, mit Medikamenten betäubt, die Augen für immer verschloss.

      Kaja und Afra verstanden sich recht gut, auch, nachdem ihr väterlicher Opa verstorben war.

      Nach weiteren Jahren mussten wir Kaja, mittlerweile eine ältere Dame geworden, von ihren Krebs-Schmerzen und ihrer Altersdemenz auf Anraten des Arztes erlösen. Wieder eine treue Begleiterin weniger. Wir konzentrierten uns nun allein auf Afra.

      Afra


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