Im Schatten des Wolfes. H.E. Otys

Im Schatten des Wolfes - H.E. Otys


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      »Es sollten ein paar Gliedmaßen weniger brechen nächste Nacht«, scherzte Egill leichthin mit Blick auf die nun ruhige See und die untergehende Sonne, die nur noch wenig Wärme schenkte, jedoch wie siedendes Gold ins Wasser tauchte.

      »Es hätten weniger sterben sollen letzte Nacht.« Wulf konnte darüber nicht lachen. Er sah es Egill nach, doch er dachte auch an die Männer, die in der Nacht ertrunken oder mit dem Schiff zerschellt waren.

      Wulf schärfte den Blick etwas, als er in der Ferne einen Punkt ausmachte. Es war ein heller Punkt, als schwämme ein Wassergeist in der Gold triefenden See. Die Strömung, der sie seit dem späten Morgen folgten, brachte sie dem Wassergeist näher. Egill und einige andere an der Reling entdeckten ihn wenig später auch.

      »Es hätten weniger sterben sollen«, wiederholte Wulf seine Worte, als sie die Konturen eines leblosen Körpers erkannten.

      »Nun doch eine Leiche, die wir bestatten müssen«, murrte Egill.

      Als der Körper näher an sie heran getrieben wurde, glaubte Wulf wiederum, dass die Geister ein Spiel mit ihnen trieben. Eine Frau.

      »Eine Sklavin«, stieß Egill wütend hervor, »und du bedauerst sie noch. Die Fische sollen ihre Körper zerfressen, damit man ihnen in Walhalla den Einlass verwehrt.«

      Wulf widerte der Gedanke an, dass das Westdorf noch immer mit Sklaven handelte. Vor allem mit Frauen, da es unter ihnen nicht genug gab. Die rauen Sitten dort, obwohl der rechtmäßige König über sie herrschte, führten zu Widerstand bei den Frauen und viele ergriffen die Flucht. Nur wenige Kinder wurden geboren, und, als sei es ein Omen, vor allem Jungen. Seit Jahren sprach man hinter vorgehaltener Hand von einem Fluch. Und seit langer Zeit wurden die Wälder im Westen von den Frauen der anderen Dörfer gemieden, da sie dort Freiwild waren. Sie wollten nicht ins Westdorf entführt werden, wo man sie schwängern würde, um sie an einer Rückkehr zu hindern.

      Die tote Wassernixe trieb nahe genug, um sie aus dem nassen Grab zu holen. Egill deutete einer weiteren Wache, ein Seil zu bringen. Wulf wollte es herablassen, sah hinab auf das weiße Gesicht der Toten, als sie unvermittelt die Augen aufschlug.

      Robyns Aufschrei ließ die Männer an Deck einen Moment zögern. Noch im Schreien schob sich Robyn von der schmalen Planke, auf der sie stundenlang getrieben war, gehofft hatte, Gott möge sie holen. Ihre Beine gehorchten ihr nur noch unter Aufbringung all ihrer Kräfte, sie waren taub gefroren im eisigen Wasser. Doch sie schwamm, halb unter Wasser, nach Luft ringend, nur um den Nordmännern zu entkommen. Sie ruderte halb wahnsinnig, verlor für einige Augenblicke nahezu die Besinnung, sah sich plötzlich als Kind, es war heiß, unendlich heiß ...

       Sie hatten das Mädchen im Morgengrauen geraubt. Es war ihnen ein Leichtes. Sie hatten genau gewusst, wann die Kleine aus dem Zelt treten würde, um die Fohlen der Sarazenenpferde zu streicheln, so wie sie es jeden Tag tat. Sie hatte sie nicht einmal kommen hören, geschweige denn erkannt.

       Ihre Anordnungen, was aus ihr werden sollte, ließen keine Zweifel zu. Drei Tage hindurch ritten sie durch die karge Steinwüste, jagten ihre Tiere bis zur Erschöpfung in einen entlegenen Winkel des Byzantinischen Reiches.

       Das Mädchen weinte still, wehrte sich aber nicht. Sie verstand nicht; vier Jahre waren zuwenig, um die Tragweite dessen zu erfassen, was die Männer im Begriff waren zu tun. Alles, was sie sah, waren Felsformationen, heißer kalkweißer, zuweilen blassgelber Sand und die unerbittliche Sonne. Die Männer sprachen nicht mit ihr, nicht untereinander. Nur manchmal rasteten sie, dann hetzten sie wieder Stunde um Stunde.

       Wo war ihr Vater? Warum ließ er dies mit ihr geschehen? Sie meinte ihn zu vermissen, aber war sich nicht sicher. Zu streng, zu kühl war er ihr gegenüber. Auch das verstand sie nicht. Vielleicht hatte er den Männern geheißen, sie fortzubringen.

       Ihre helle unbedeckte Haut war verbrannt, sie wollte weinen, aber irgendwann waren die Tränen versiegt. Ihre Kehle kratzte, sie fühlte ihre Augen zuklappen, ein Reflex, alles drehte sich. Ein Ruck ging durch den Pferdekörper.

       Sie ließen sie auf den harten Steinboden fallen. Es schien ihnen die geeignete Stelle, um sich von ihr zu trennen. Es war ihnen strengstens untersagt worden, Hand an sie zu legen. Sie würden sie ihrem Schicksal überlassen, einem unentrinnbaren Schicksal, aber sie selbst durften es nicht wagen, ihr Leben zu nehmen.

       Nach all der Zeit schluchzte sie laut vernehmbar in der Ödnis aus Stein und Felsen und zeigte endlich eine Regung. Ihre Knie und Ellenbogen bluteten durch den Aufschlag. Ihr zuckender Körper lag zusammengekrümmt auf dem heißen Boden.

       Erstaunt blickte sie dann auf, blinzelte in die Sonne, als die drei Männer von ihren Pferden stiegen. Sie sanken vor ihr auf ein Knie, neigten ihre Köpfe und eine Stimme rauschte an ihr vorüber, sprach Worte ihrer Zunge, die ihr aber fremd blieben.

       »Mögen die Götter uns verzeihen, kleine Prinzessin.«

       Sie schluchzte weiter, als sie längst fort waren. Schluchzte in der Glut des sterbenden Tages, schluchzte in der eiskalten Dunkelheit, tat es noch, als sich Schritte näherten ...

      Robyn atmete schwer, als sie es schaffte, erneut die Oberfläche zu durchstoßen. Sie trat das Wasser mit all ihrer Macht, tat einen langen Luftzug, da sie nicht verhindern konnte, dass sie wiederum absank. Einige Züge kämpfte sie sich unter Wasser hindurch, weg vom Schiff, weg von den Sklaventreibern, weg von Gefangennahme, von Gewalt, Schmerz, Verdammnis.

      Als sie das nächste Mal auftauchte, wagte sie einen Blick zurück. Sie erschrak wimmernd, als sie den Hünen, in dessen Augen sie zuerst geblickt hatte, an der Reling hantieren sah. Scheinbar hatte er Mantel und Schuhe abgelegt. Sie drehte sich um, verschluckte sich, hustete im Untergehen, hörte das unverkennbare Geräusch eines ins Wasser eintauchenden Menschen hinter sich. Sie konnte nicht mehr schreien, niemand würde sie unter Wasser hören.

      Etwas umfasste ihr Fußgelenk. Ihr Strampeln konnte dem eisernen Griff nichts entgegensetzen. Ein Schwall Wasser rauschte ihre Kehle hinunter, das Salz brannte in ihren Augen, als sie sie erschreckt aufriss, nach oben blickte, spürte, dass sie die Oberfläche nicht mehr selbst erreichen würde. Ein Arm umfasste ihre Taille. Sie spürte, dass ihre Gliedmaßen endgültig ihrem Willen entzogen wurden ...

       Fast wäre sie am Tisch eingenickt, doch während ihr Kopf nach vorn sackte, erwachte sie, fuhr auf und umklammerte kurz die Tischkante.

       Ath lächelte ob ihres Anblickes. Er stand im Schatten des hinteren Zeltes, betrachtete liebevoll die vom Kerzenschein umschienenen Konturen seiner Tochter. Sie hatte an einigen Papieren gearbeitet und darüber die Zeit vergessen. Er hatte ihr gesagt, sie solle sich Zeit für sich nehmen, aber das Mädchen teilte die Arbeitsmoral ihres Vaters. Die Rechnungen hätten auch noch Zeit bis morgen gehabt, aber nicht in ihren Augen.

       Ath überlegte kurz. Er erinnerte sich an das kleine Mädchen in der Steinwüste. Über zwölf Jahre war es her. Zwölf Jahre des Vaterglücks, zwölf Jahre, in denen sie sein Leben erhellt hatte, in denen er Worte hörte, die er längst vergessen zu haben schien, hatte vergessen wollen. Einige Monate dauerte es, ehe sie anfing zu sprechen, seine Sprache lernte, ihn Vater nannte. Selbst kinderlos, weil seine Frau im Kindsbett gestorben war, liebte er das Kind wie sein eigenes. Woher sie kam, wer sie war, wie sie wirklich geheißen hatte, ob sie sich noch an etwas erinnerte - Ath hatte sich diese Fragen tausendmal gestellt. Sie hatte es nicht wissen wollen. Sie hatten Byzanz noch zweimal besucht seitdem, aber es hatte sie nicht sonderlich gestört. Er sei ihr Vater, nichts anderes zählte für sie. So oft er sie danach gefragt hatte, hatte sie ihm dieselbe Antwort gegeben.

       Sie hatten bemerkt, dass sie keinerlei Schwierigkeiten hatte, der nordischen Zunge zu folgen. Ath schätzte deshalb, dass sie vielleicht zu den vielen Nordmännern gehört hatte, die hier in Byzanz genau wie er Handel betrieben hatten. Ihre helle Haut und die gleichfalls hellen braunen Haare sprachen dafür. Trotzdem hatte sie wenig Interesse gezeigt, dem


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