Psycho im Märchenwald. Sebastian Bartoschek

Psycho im Märchenwald - Sebastian Bartoschek


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Glaube2, normal verteilt sind. Das bedeutet eine mittlere Ausprägung einer Persönlichkeitseigenschaft ist am häufigsten, genau genommen zu knapp 67% vorhanden. Diejenigen Personen, die eine Ausprägung in den extremsten knapp 5% haben, gelten uns dann als psychisch gestört. Und eine solche Persönlichkeitseigenschaft soll auch die „Psychopathie“ sein, die sich eben genau durch das auszeichnet, was „dem Bösen“ am nächsten kommt: die Unfähigkeit, die eigenen Bedürfnisse unterzuordnen, bei maximaler Bereitschaft, sich sein Verlangen zu erfüllen, koste es (die Anderen), was es wolle, gepaart mit emotionaler Kälte und der Fähigkeit, große Brutalität anzuwenden.

      In gewisser Weise haben wir hier einen Streit, den wir öfter in der Psychologie finden, nämlich ob Anlage oder Umwelt das Wesen eines Menschen bestimmt. Was aber hat das mit dem Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“ zu tun? Vielleicht ja nichts, ich glaube aber schon einiges. (Sonst hätte ich Ihnen die ersten beiden Absätze ja wohl kaum zugemutet.)

      Ausgangspunkt meiner Überlegungen war: was ist denn bitte die Stiefmutter für eine doofe Person? Dann fiel mir auf, dass wir über den Vater des Geschwisterpaares gar nichts erfahren. Wirklich nichts. Wir erfahren lediglich, dass die Stiefmutter eine eigene Tochter hatte, die „hässlich war wie die Nacht, und nur ein Auge“ hatte. Nun, Schönheit liegt sicherlich im Auge3 des Betrachters, und davon hat die eben jene Tochter ja nur eines4, wir wissen auch nicht, was mit dem anderen Auge der Tochter passiert ist. Allerdings wirkt es aus unserem heutigen Blickwinkel5 als genetische Komponente, die die Tochter von ihrer bösen Mutter erhalten hat. Also: kein Wort zum Vater. Interessant ist auch, dass die Motivation der Stiefmutter eine andere ist, als bei HÄNSEL UND GRETHEL. Dort werden zwei Kinder ausgesetzt, weil das Essen nicht für alle reichte, auch hier haben wir es mit einer Stiefmutter zu tun6. Während dort jedoch die Stiefmutter und der Vater selbst mit ihrer Entscheidung zu kämpfen haben, liegt der Fall bei BRÜDERCHEN UND SCHWESTERCHEN ganz anders. Wir erfahren, dass die Stiefmutter eine böse Hexe ist, die nachhaltig schaden will – aus „Neid und Mißgunst“. Sie scheint also nicht anders zu können, als böse zu handeln, ein Charakterzug, den wir bei Hexen im Märchen fast ausschließlich antreffen.

      Die Aussage ist klar: es gibt Menschen, die sind einfach nur schlecht. Und auch ihre Nachkommenschaft ist zwangsläufig schlecht. Sie können einfach nicht aus „ihrer Haut“, oder wie wir heute sagen würden: sie tragen stabile Persönlichkeitseigenschaften in sich, die sie vielleicht ein kleines Stückchen, aber nie grundlegend ändern können. Solchen Straftätern attestieren wir heute „schädliche Neigungen“, sie gelten vielen als untherapierbar und werden immer noch „in Sicherungsverwahrung“ gebracht. Medien sprechen von ihnen als „Bestien“, Politiker fordern immer wieder drakonische Strafen für sie. Insofern dürfte das Ende des Märchens manch ein konservatives Politikerherz höher schlagen lassen: die beiden Frauen, Stiefmutter und Tochter, entmenschlicht als Hexe und deren Nachkommenschaft betrachtet werden getötet, aber auch nicht „einfach so“. Vielmehr bemüht sich der Geschichtenerzähler zu betonen, dass „beide vor Gericht“ geführt wurden. Scheinbar war es Menschen stets wichtig zu betonen, wo eigentlich der Unterschied zwischen einem Mord aus niederen Beweggründen und der Tötung von Staatswegen liegt.

      Dass das Märchen generell die Idee einer gegebenen Persönlichkeitsausprägung vertritt, sieht man auch an einer anderen Stelle: die Jagd auf das Reh/ den Bruder. Im ersten Moment fragte ich mich, wieso denn bitte der Bruder/ das Reh nicht einfach seine Hufe still hält und gefälligst im Haus bleibt, wenn die Jagd läuft. Schließlich wissen er und die Schwester doch um die Gefahr. Die Antwort: weil es in seiner Natur liegt. Das Reh scheint das unbändige Bedürfnis zu haben an der Jagd teilzunehmen, auch wenn es seinen Tod bedeuten kann, sonst stürb es „vor Betrübnis“.

      Und schließlich haben wir auch zu Beginn des Märchens erlebt, dass es angeborene Bedürfnisse zu geben scheint, die man nicht einfach überwinden kann. So schafft es das Brüderchen zwar zweimal auf das Trinken zu verzichten, doch muss einfach beim dritten Mal trinken7. Kleines Detail am Rande: das Zurückstellen der eigenen Bedürfnisse glückt nur dem Mann nicht, implizit wird hier die Werthaltung vermittelt, dass eben auch dies gegen die Natur des Mannes wäre.

      Anders als wir mittlerweile aus den Versuchen von Milgram, Zimbardo und Co wissen, lehrt dieses Märchen also nur den Ansatz, dass es das Böse gibt, weil es böse Menschen gibt und diese im Zweifel eben selbst keine Menschen sind, sondern bspw. Hexen. Der Vorteil dieser Sichtweise ist der, dass man eine einfache Trennlinie dafür hat, wer gut ist und wer böse. Gut ist der, der Gutes tut. Dieses simple Credo wird dann noch in einen religiösen Rahmen, wenn auch nur sehr halbherzig, eingebunden, und schließlich werden sowohl Brüderchen als auch Schwesterchen von ihrem Leid erlöst.

      3. Rapunzel

      

s war einmal ein Mann und eine Frau, die wünschten sich schon lange vergeblich ein Kind, endlich machte sich die Frau Hoffnung der liebe Gott werde ihren Wunsch erfüllen. Die Leute hatten in ihrem Hinterhaus ein kleines Fenster, daraus konnte man in einen prächtigen Garten sehen, der voll der schönsten Blumen und Kräuter stand; er war aber von einer hohen Mauer umgeben, und niemand wagte hinein zu gehen, weil er einer Zauberin gehörte, die große Macht hatte und von aller Welt gefürchtet ward. Eines Tags stand die Frau an diesem Fenster und sah in den Garten hinab, da erblickte sie ein Beet, das mit den schönsten Rapunzeln bepflanzt war: und sie sahen so frisch und grün aus, daß sie lüstern ward und das größte Verlangen empfand von den Rapunzeln zu essen. Das Verlangen nahm jeden Tag zu, und da sie wußte daß sie keine davon bekommen konnte, so fiel sie ganz ab, sah blaß und elend aus. Da erschrack der Mann und fragte „was fehlt dir, liebe Frau?“ „Ach,“ antwortete sie, „wenn ich keine Rapunzeln aus dem Garten hinter unserm Hause zu essen kriege, so sterbe ich.“ Der Mann, der sie lieb hatte, dachte „eh du deine Frau sterben lässest, holst du ihr von den Rapunzeln, es mag kosten was es will.“ In der Abenddämmerung stieg er also über die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile eine Hand voll Rapunzeln und brachte sie seiner Frau. Sie machte sich sogleich Salat daraus und aß sie in voller Begierde auf. Sie hatten ihr aber so gut, so gut geschmeckt, daß sie den andern Tag noch dreimal so viel Lust bekam. Sollte sie Ruhe haben, so mußte der Mann noch einmal in den Garten steigen. Er machte sich also in der Abenddämmerung wieder hinab, als er aber die Mauer herabgeklettert war, erschrack er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich stehen. „Wie kannst du es wagen,“ sprach sie mit zornigem Blick, „in meinen Garten zu steigen und wie ein Dieb mir meine Rapunzeln zu stehlen? das soll dir schlecht bekommen.“ „Ach,“ antwortete er, „laßt Gnade für Recht ergehen, ich habe mich nur aus Noth dazu entschlossen: meine Frau hat eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt, und empfindet ein so großes Gelüsten, daß sie sterben würde, wenn sie nicht davon zu essen bekäme.“ Da ließ die Zauberin in ihrem Zorne nach und sprach zu ihm „verhält es sich so, wie du sagst, so will ich dir gestatten Rapunzeln mitzunehmen so viel du willst, allein ich mache eine Bedingung: du mußt mir das Kind geben, das deine Frau zur Welt bringen wird. Es soll ihm gut gehen, und ich will für es sorgen wie eine Mutter.“ Der Mann sagte in der Angst alles zu, und als die Frau in Wochen kam, so erschien sogleich die Zauberin, gab dem Kinde den Namen Rapunzel und nahm es mit sich fort.

       Rapunzel ward das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahre alt war, schloß es die Zauberin in einen Thurm, der in einem Walde lag, und weder Treppe noch Thüre hatte, nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich unten hin, und rief

       „Rapunzel,Rapunzel,

       laß mir dein Haar herunter.“

       Rapunzel hatte lange prächtige Haare, fein wie gesponnen Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhaken, und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief herunter, und die Zauberin stieg daran hinauf.

      


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