Psycho im Märchenwald. Sebastian Bartoschek

Psycho im Märchenwald - Sebastian Bartoschek


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von der Fee bestraft, bevor sich die beiden Liebenden wiederfinden.

      Mit der Einführung von Heiratsversprechen, Frömmigkeit und Streichung der Schwangerschaftshinweise hat mal wieder die bürgerliche Moral bei der Umarbeitung der Märchen zugeschlagen. Und natürlich der Wunsch Wilhelms, die Geschichten für Kinder passender zu gestalten.

      Laut den Anmerkungen halten sich die Brüder Grimm bei der Aufzeichnung des Märchens an eine Fassung von Friedrich Schulz aus seinen „Kleinen Romanen“, vermuten aber, dass hinter dem Ganzen eine mündliche Erzählung steckt. Wenn es ein rein schriftliches Phänomen gewesen wäre, hätte es ja eigentlich auch in der Sammlung von Volksmärchen nichts zu suchen gehabt. Schulz wiederum, so stellt Max Lüthi fest1, übernimmt fast vollständig eine französische Version, nämlich Persinette von Charlotte-Rose de Caumont de La Force. Diese Erzählung stammt aus dem Jahr 1697. Mademoiselle de La Force behauptete steif und fest, dass sie die Urheberin der Geschichte sei, viel eher hat sie sich jedoch bei Giambattista Basile und seinem Pentamerone von 1634 bedient. Dort gibt es die Geschichte der Petrosinella, die als frühes Rapunzel gehandelt wird. Die Grundlage für all diese Erzählungen bietet jedoch ein französisches Volksmärchen.

      Wie der Name schon vermuten lässt und wie es ja auch schon anklang, ist die besagte Pflanze in diesen beiden Fällen die Petersilie. Basiles Geschichte ist wesentlich launiger erzählt, als das Märchen, das wir heute aus den KHM kennen. Die Begegnung des Prinzen mit Petrosinella soll an dieser Stelle Ihnen, liebe Leser, nicht vorenthalten werden.

      So geschah es nun einmal, daß, als Petrosinella eines Tages während der Abwesenheit der Hexe den Kopf aus jener Öffnung hinaussteckte und ihre Flechten in der Sonne erglänzen ließ, der Sohn eines Prinzen vorüberkam, welcher beim Anblick dieser zwei goldenen Standarten, welche die Herzen zur Anwerbung unter Amors Fahnen herbeiriefen, und des unter den herrlich schimmernden Wellen hervorschauenden Sirenenangesichts sich in so hohe Schönheit auf das sterblichste verliebte. Nachdem er ihr nun eine Bittschrift von Seufzern zugesandt, wurde von ihr beschlossen, ihn zu Gnaden anzunehmen, und der Handel ging so rasch vonstatten, daß der Prinz freundliches Kopfnicken und Kußhände, verliebte Blicke und Verbeugungen, Danksagungen und Anerbietungen, Hoffnungen und Versprechungen, kosende Worte und Schmeicheleien in großer Menge zugeworfen erhielt. Als sie dies aber so mehrere Tage wiederholt hatten, wurden sie dermaßen miteinander vertraut, daß sie eine nähere Zusammenkunft miteinander verabredeten, und zwar sollte diese des Nachts, wann der Mond mit den Sternen Verstecken spielte, stattfinden, Petrosinella aber der Hexe einen Schlaftrunk eingeben und den Prinzen mit ihren Haaren emporziehen. Sobald dieser Verabredung gemäß die bestimmte Stunde erschienen war und der Prinz sich nach dem Turm begeben hatte, senkten sich auf einen Pfiff von ihm die Flechten herab, welche er rasch mit beiden Händen ergriff und nun rief: »Zieh!« Oben angelangt, kroch er durch das Fensterchen in die Stube, genoß in reichem Maß von jener Petersilienbrühe Amors und stieg, ehe noch der Sonnengott seine Rosse durch den Reifen des Tierkreises springen lehrte, wieder auf der nämlichen Goldleiter hinab, um nach Hause zurückzukehren.

      Von Heiratsbekundungen ist bei Basile keine Rede, stattdessen gibt es ein dezent-barockes, vergnügliches Stelldichein. Allerdings fehlt auch der Hinweis auf eine Schwangerschaft der Heldin. In der italienischen Version wird das junge Paar von einer „Gevatterin“ verpfiffen, kann aber durch eine List aus dem Turm fliehen. Die Hexe verfolgt die beiden und wird von ihnen mit Hilfe von drei entwendeten Galläpfeln, die sich, wenn geworfen, in wilde Tiere verwandeln, aufgehalten.

      Die Motive des Märchens, zum einen das Weggeben des ungeborenen Kindes, um Schwangerschaftsgelüste zu befriedigen oder Wünsche erfüllt zu bekommen, zum anderen die „Jungfrau“ im Turm, sind in wesentlich älteren Erzählungen ganz unterschiedlicher Kulturkreise zu finden.

      Ersteres spielt zum Beispiel in einer altnordeuropäischen Geschichte von Odin und Signy eine zentrale Rolle. Die schwangere Signy verspricht dem Gott ihr Kind als Gegenleistung für die Fähigkeit, das beste Bier brauen zu können. Auch in vielen anderen Märchen kommt das Motiv vor, man denke da nur an Rumpelstilzchen.

      Das Motiv „Jungfrau im Turm“, unter dem RAPUNZEL auch im Aarne-Thompson-Uther-Index gelistet ist, taucht bereits in der griechischen Mythologie auf. Der König Akrisios fürchtet einen Orakelspruch, nach dem er keine männlichen Erben haben würde, sein Enkel ihm aber zum Verhängnis werde. Daraufhin sperrt er seine Tochter Danae in ein Verließ bzw. einen Turm, um auf Nummer sicher zu gehen. Zeus entbrennt jedoch in Liebe zu dem Mädchen und verschafft sich trotz des Hindernisses – ganz romantisch als goldener Regen – Zugang zu ihr. Aus der Verbindung geht Perseus hervor.

      RAPUNZEL ist ein schönes Beispiel dafür, dass die Märchen der Brüder Grimm nicht ursprünglich und in erster Linie für Kinder bestimmt waren. Zu den Geschichten für die netten Kleinen mussten sie erst noch durch Wilhelms (äußerst erfolgreiche) Überarbeitung gemacht werden.

       Liebe heilt ausgestochene Augen

      Die wichtigste Frage vorweg: was ist eine Rapunzel. Ich wusste es nicht. Es ist schlicht eine bestimmte Salatart. Und wuchs also im Garten einer Hexe. Falsch, einer Zauberin. Es ist interessant, dass die Alte in diesem Märchen nicht als Hexe sondern als Zauberin bezeichnet wird, denn dadurch erschließt sich die Möglichkeit sie nicht rundherum böse finden zu müssen. So erklärt sich wohl auch, dass die Eltern Rapunzel2 ohne Murren und Knurren abgeben als sie zwölf wird. Keine dramatischen Rettungsversuche, kein schlechtes Gewissen über den seltsamen Deal „Kind gegen Salat“. Amüsant, wenn auch gänzlich unpsychologisch, finde ich im Übrigen die Tatsache, dass in gewisser Weise hier berichtet wird, dass Frauen, so schwanger, seltsame Verlangenszustände entwickeln und ihre Männer gut daran tun, eben jenen zu entsprechen.

      Dass Rapunzel im Alter von gerade zwölf Jahren in ihren Turm verfrachtet wird, kann sicherlich eine wunderbare Zahlensymbolik sein, aber nicht nur dem Entwicklungspsychologen dämmert, dass das Mädchen vor ihrer ersten Regel, oder um ein Fremdwort einzuschmeissen, ihrer Menarche, ihr neues und sicher abgeschlossenes Heim bezieht. Übrigens: während Rapunzel sich Gedanken darüber macht, wie sie aus dem Turm herausgelangt, scheint sie nicht der Frage nachgegangen zu sein, wie sie erstmal in den Turm hineingelangt ist – aber das nur am Rande. Rapunzel ist aber nicht nur „das schönste Kind unter der Sonne“, sondern leider auch nicht die hellste Kerze auf der Torte. Oder wie wäre sonst zu erklären, dass sie ihrer Ziehmutter verrät, dass sie regelmäßigen Besuch von einem Königssohn bekommt? Vielleicht so, dass Rapunzel weiß, dass sie gegen die Regeln und Konventionen verstoßen hat, immerhin zeigt die folgende Geburt ihrer Kinder, dass sie nicht nur unverheiratet mit dem Königssohn zusammen gesungen hat. Deswegen überrascht es auch nicht, dass die Zauberin von ihr als „gottloses“ Kind spricht, wiederum ein Satz, den man einer bösen Hexe nicht abgenommen hätte.

      Wir lernen bis hierher also: ein Vertrag ist ein Vertrag. Halte dich an das, was dir die Erwachsenen sagen. Lass als junges Mädchen nicht einfach jemanden in deinen Turm3. Wenn Du es doch tust, droht dir Rache und Strafe.

      Aber eben nicht nur dem Mädchen. Und an dieser Stelle ist das Märchen aus heutiger Sicht überraschend unsexistisch. Anders als wir gerne oft suggerieren, wird das Ganze eben nicht nur der Frau angelastet (Verbannung in die Wüste) sondern auch der Mann bekommt seine Strafe (Augen ausgestochen).

      Wieso aber das Happy End?

      Weil es ein Märchen ist, mögen Sie nun entgegnen. Ok, sage ich, aber was ist die Message hinter diesem Happy End? Gibt es ein psychologisches Motiv? Und ich meine eines gefunden zu haben.

      Denn wir alle begehen Fehler. Und es steht uns gut an, für diese Fehler zu leiden – zumindest in einer Geschichte, die eine bestimmte Moral vermitteln soll. Und schauen wir einmal genauer hin, was der Königssohn tut, nachdem ihm die Augen ausgestochen wurden und Rapunzel in die Wüstenei gebracht wurde. Er gibt nicht auf, er zieht sich nicht auf seinen Königshof zurück und versucht dort irgendwie mit seiner Lage klar zu kommen. Nein, er „tat nichts als Jammern und Weinen über den Verlust seiner liebsten Frau“. Wohlgemerkt, er jammert nicht über den Verlust seiner Sehfähigkeit. Er trauert


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