Steirische Lausbubengeschichten. Martin Eichtinger

Steirische Lausbubengeschichten - Martin Eichtinger


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insbesondere Firmenkataloge in ganz hervorragender Weise für die Produktion unserer Geschosse, die wir uns zu beschaffen wussten. Jedes Frühjahr und jeden Herbst fand in Graz die Große Messe statt. Der Messebesuch war schon wegen des Vergnügungsparks ein Pflichttermin für uns Kinder. Auch die Eltern gingen gerne auf die Messe. Mein Vater war ständig auf der Suche nach Verbesserungen für das Weitersfelder Haus und ein begeisterter Hobby-Handwerker und Gärtner. Da es damals noch keine großen Baumärkte gab, war die Messe der perfekte Ort für ihn. Auch im Bereich der Elektronik und der Wohnungs- und Kücheneinrichtung zeigte die Messe jedes Jahr die neuesten Produkte und das oft mit einem Messesonderangebot und besonders günstigen Einführungspreisen.

      Wir wanderten durch die Messehallen und sammelten so viele Kataloge, wie wir nur tragen konnten. Und dann hatten wir die Abende während des Schuljahres, an denen wir in weiser Voraussicht unserer „Notwendigkeiten“ in den Sommerferien an der U-Hakerl-Produktion arbeiten konnten. Die fertigen U-Hakerln wurden in Kakao-Dosen gelagert, über ihren Bestand wurde sorgfältig Buch geführt.

      Im darauf folgenden Sommer waren wir besser als je zuvor „gerüstet“. Ein genauer Plan zeigte, an welchen Stellen des Heubodens Lager mit U-Hakerln versteckt waren, so dass wir jederzeit „nachladen“ und die „angreifende“ Frau Sirk und ihre Magd beschießen konnten. Oftmals wurde auch meine Mutter versehentlich beschossen, wenn sie kam, um uns von der Burg zum Essen zu holen.

      Georg war der Wagemutigste von uns vieren. Er hatte auch das beste Balancegefühl und war schwindelfrei. Er war der erste, der auch auf noch so schmalen Brettern über die schwindelnden Tiefen unseres Heubodens balancierte und er erkletterte die schwierigsten Auf- und Abstiege unserer Burg.

      Von unserer Burg waren es nur etwa hundert Meter bis zum Mühlgang, der das Grundstück von Frau Sirf begrenzte und ruhig dahin floss. In diesem Abschnitt hatte Vater schon öfters Karpfen gefangen, die den ruhig fließenden, ja teilweise stehenden Mühlgang liebten.

      Ging man entlang des Flusses weiter westwärts, so wurde er schmäler und floss viel schneller. In diesem Abschnitt bis zur Insel im Fluss, die nur mehr einen halben Kilometer von der Überfuhr entfernt war, waren die Ufer mit dichtem Unterholz bewachsen. Mannshohe Brennnesseln machten ein Durchkommen schwierig. Das stark verwachsene Flussufer hatte dazu geführt, dass die Bauern diesen Teil des Waldes nicht bewirtschafteten. Vom Sturm geknickte Bäume lagen kreuz und quer am Boden, einzelne Bäume waren über den Mühlgang gestürzt und lagen auf dem anderen Ufer auf.

      Wir führten ein genaues Verzeichnis der Bäume, die auf diese Weise natürliche Brücken über die Fluten boten. Die meisten von ihnen waren noch immer stark bewachsen, was ein Darüberklettern sehr schwierig machte. Wolfgang und ich hatten in solchen Fällen Mühe, die Balance zu halten. Und nicht selten mussten wir umkehren und heimgehen oder heimradeln, weil einer von uns ins Wasser gefallen und durch und durch nass geworden war.

      Georg bestand jede Mutprobe. Er konnte auch dort über einen Baum das andere Ufer erreichen, wo der Baum auf einer Uferseite am Boden lag, auf der anderen Seite jedoch auf halber Baumhöhe in einen anderen Baum gefallen und hängen geblieben war. Das bedeutete, dass der Baum schräg nach oben wies. Damit war es eine doppelte Herausforderung: Die Bäume waren nie stärker als zwanzig Zentimeter im Durchmesser, also gerade einmal einen Fuß breit; zum anderen ging es steil bergauf, was den Halt weiter erschwerte.

      Am Heuboden schienen schmale Übergänge noch viel schwieriger. Der Blick nach unten auf den Erd- oder Steinboden ließ uns erschaudern. Wir wagten nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn wir hinunter fielen.

      Eines Abends beschlossen wir, in unserer Burg zu übernachten. Wir hatten schon einige Decken und Pölster in unser Versteck gebracht und nahmen noch Schlafsäcke mit, die wir von den Eltern geschenkt bekommen hatten. Sie waren für sehr tiefe Temperaturen gedacht und würden unser Nachtlager angenehm warm machen. Wir machten uns Brote für die Nacht und Mutter füllte heißen Tee in zwei Thermosflaschen ein. Dazu nahmen wir Taschenlampen mit. Offenes Licht oder Streichhölzer waren streng verboten, da das trockene Heu sofort Feuer fangen würde.

      Als wir mit Sack und Pack am Bauernhaus von Frau Sirf vorbeigingen, schlug Sinta an. Frau Sirfs Schäferhund hatte uns sicher erkannt, aber als gute Hündin wollte sie unseren nächtlichen Besuch melden. Frau Sirf erschien im Schlafmantel in der Haustüre. Wir fragten sie, ob es ihr etwas ausmachen würde, wenn wir die Nacht am Heuboden verbrächten und sie antwortete: „Nein, nein. Aber traut’s eng wirkli? Um Mitternacht hebt ja die Geisterstund’ an und da tat i mi scho sehr füachten!“ Wir lachten und wünschten eine gute Nacht.

      Wir kletterten über die Leiter auf den Heuboden, weil wir im Dunkeln nicht einen unserer gefährlicheren Aufstiege benützen wollten. Auch wäre das mit den vielen Sachen, die wir trugen, sehr schwierig gewesen.

      In der Nähe der Giebelluke richteten wir das Lager ein. So hatten wir das Gefühl, in dem durch den Spalt in der Giebeltüre hereindringenden Licht mehr sehen zu können. Wir breiteten Decken auf, legten die Schlafsäcke eng nebeneinander und alle Taschen und Rucksäcke mit der Jause rund um uns. Alles sollte in Griffweite sein, wenn wir dann in den Schlafsäcken sein würden. Max trieb uns fast zum Wahnsinn, als er erklärte, dass er noch einmal über die Leiter hinuntersteigen und aufs Klo gehen müsse.

      Wir lagen schon in den Schlafsäcken, als er endlich über die Leiter wieder herauf kam. Für ihn gab es daher nur mehr einen der Randplätze, die in der Dunkelheit und angesichts der verschiedenen Geräusche am Heuboden nicht so attraktiv waren. Ich war froh, in der Mitte liegen zu können.

      Das Einschlafen fiel uns schwer. Es musste etwa elf Uhr abends gewesen sein und wir waren vom Herumtollen während des Tages sehr müde. Aber irgendetwas passte immer gerade dann nicht, wenn ich knapp am Einschlafen war. Das Heu kitzelte in der Nase, unser Untergrund war uneben und ich rutschte mehrmals nach links, wo Georg lag. Nach einiger Zeit bekam ich Hunger und Durst. Wir hatten nichts zu Abend gegessen, weil wir dies doch in romantischer Weise im Heu tun wollten. Aber keiner wollte den Schlafsack aufmachen und das Essen aus den Säcken holen.

      So blieb auch ich liegen und dachte gerade daran, was für leckere Brote Mutter uns mitgegeben hatte, als die Glocke des Kirchstöckls im Dorf Mitternacht schlug. Mein Mittelplatz auf den Decken wurde mir mit jeder Sekunde sympathischer, vor allem als Max erklärte, dass nunmehr die Geisterstunde begonnen habe. So ein Blödsinn dachte ich und wollte demonstrativ einschlafen, doch es gelang mir nicht.

      Es mochten weitere zwanzig Minuten vergangen sein. Wir hatten längst zu reden aufgehört. Max schien zu schlafen. Auch sonst war alles ruhig. Da sah ich aus meinem Augenwinkel, wie sich die Leiter, die vom Raum neben den Ställen heraufführte, zu bewegen begann. Ich rieb mir die Augen und schaute nochmals angestrengt zur Leiter. Ja, sie bewegte sich. Zentimeterweise rückte sie seitlich. Ich wollte schon schreien, riss mich dann aber zusammen und stieß Max neben mir an. Auch Max hatte nicht geschlafen und blickte entsetzt auf die Leiter. Ich stieß Georg an, der jedoch nicht reagierte.

      Und plötzlich erschien eine weiße Gestalt auf der Leiter. Zuerst der Kopf, dann die Schultern. Ich schrie wie am Spieß und alle vier sprangen wir in unseren Schlafsäcken auf, nur um gleich darauf zu stolpern und übereinander zu fallen. Wir waren vor Angst außer Rand und Band. Die weiße Gestalt hatte in der Zwischenzeit den Heuboden betreten und kam in der Dunkelheit auf uns zu. Max schaltete seine Taschenlampe an und wie aus einem Mund schrien Wolfgang und Georg: „Es ist Lina!“ Und da sah ich, was sie gesehen hatten: die großen schweren Stiefel, die Lina tagsüber trug und die jetzt unter einem weißen Leintuch hervorlugten. Lina machte einen Schritt zurück und stieg eilig die Leiter hinab.

      Wir öffneten die Dachluke gerade rechtzeitig, um sie im Hof zum Haus laufen zu sehen. Da konnten wir endlich herzhaft lachen. Gerne hätten wir ihr von oben ein paar U-Hakerln nachgeschossen, doch sie war schon zu weit weg.

      Es dauerte sehr lange, bis wir in dieser Nacht einschlafen konnten. Ich konnte meine Augen nicht von der Leiter lassen und war erst ruhiger, als die Glocke des Kirchstöckls ein Uhr schlug. Am nächsten Tag beschwerten wir uns bei Frau Sirf, dass Lina uns so erschreckt hatte. Frau Sirf erklärte felsenfest, dass das nicht stimmen könne. Lina schlafe doch


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