Ganz da. Richard Rohr
aus dem Auge deines Mitmenschen zu entfernen!“ (Lukas 6,42). Unsere buddhistischen Freunde haben den Prozess der Balkenentfernung „Linsenputzen“ genannt. Und ich vermute, genau das war es, worauf sich Jesus bezogen hat, wenn er uns zuruft: „Ändert euch!“ (Matthäus 4,17; Markus 1,15).
Mir scheint, wir Menschen sind doppelseitige Spiegel, die sowohl die Innen- als auch die Außenwelt reflektieren. Wir projizieren uns selbst auf Dinge im Außen, die uns ihrerseits unsere eigene sich entfaltende Identität zurückspiegeln. Spiegelung ist die Weise, wie Kontemplative sehen, Subjekt zu Subjekt anstatt Subjekt zu Objekt. Diese Technik ist ein wesentlicher Teil moderner Psychologie und Lebensberatung, und das Muster offenbart sich oft eher in Literatur, Kulturstudien und Anthropologie als in den meisten religiösen Praktiken.
Wir selbst erschaffen einen substantiellen Teil der Bilder und der Bedeutung dessen, was wir sehen – unter Verwendung unserer eigenen Erwartungen, Bedürfnisse, Verletzungen, Zwänge, Vorlieben, Begehrlichkeiten und Prioritätenlisten. Die Psychologie nennt solche verblendenden und fixierenden Muster manchmal „Projektionen“ oder „Reaktionsformate“; in ihrer extremsten Form werden sie sogar als „Selbsttäuschungen“, „Wahn“ oder „Obsession“ bezeichnet. Ohne eine gewisse Wahrnehmung dieser persönlichen Art des Projizierens werden die meisten unserer Beziehungen nicht von Dauer sein, sondern zu einer Anreihung von illusorischen Verblendungen werden. Oder sie werden in völlig unnötigen Feindschaften enden. Ohne reifes Sehen werden wir den Anderen niemals begegnen oder sie wirklich sehen – nämlich als Andere! –, sondern aus unseren jeweiligen inneren Zuständen heraus agieren, wieder und wieder, wie der Hund, der dem eigenen Schwanz nachjagt. Genau dies ist das Endstadium des Narzissmus und die Instabilität jeder Kultur oder Person, die sich nicht selbst reflektiert. Wir müssen uns bewusst sein – geradezu Stunde um Stunde – was unser eigener Speicher enthält, oder wir werden nie das Bedürfnis verspüren, ihn mit einer neuen Art von positivem Fluss zu füllen – geschweige denn jene brackigen oder gar giftigen Quellen zu erkennen, aus denen wir trinken.
Jesus spricht denselben Gedanken an, wenn er sagt: „Wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über“ (Lukas 6,45) oder „das Auge ist das Licht des Leibes“ (Lukas 11,33–36). Wie wir sehen ist, was wir sehen – das ist die ziemlich eindeutige Botschaft Jesu und Buddhas, aber die meisten von uns hatten nie jene reife Wahrnehmung, die psychischen und sogar atomphysikalischen Einsichten, um jene Aussage tatsächlich zu verstehen. Jetzt tun wir es.
Nicht anhaften: Des-Identifikation
Die Wüstenväter und -mütter, die in den ersten Jahrhunderten nach Jesus plötzlich auftauchten, hatten trotz ihrer scheinbaren Primitivität und ihrer radikalen Askese häufig einen erstaunlich klaren Blick für die Verbindung zwischen der sehenden Person und dem Gesehenen – und waren diesbezüglich mit ihrer schlichten Direktheit, ihren Geschichten und Einsichten fast so etwas wie Zen-Buddhisten. Der syrische Diakon Evagrius Ponticus (345–399), der manchmal als Ahnherr dessen bezeichnet wird, was schließlich zum spirituellen typologischen Modell des Enneagramms werden sollte, sagt in der Philokalia: „Wenn die Leidenschaften im nicht-rationalen Teil unserer Natur erregt werden, erlauben sie dem Intellekt nicht, angemessen zu funktionieren“.2 Er und viele andere haben diese Einsicht zur Grundlage ihrer Sicht der Gebetskunst gemacht.
Die Suche nach „Des-Identifikation“ bezog sich für die monastisch lebenden Menschen der frühen Zeit auf jenen Frieden und jene Gelassenheit, die sie durch ihre Tiefenpraxis des sogenannten „Ruhegebets“ entdeckten. Dieses basiert auf Jesu Hinweis, man solle zum Beten in das innere „Kämmerlein“ gehen anstatt „zu plappern wie die Heiden“ (vgl. Matthäus 6,6–8). In dieser frühen Periode verstand man unter „Gebet“ keine irgendwie geartete Verhandlung zwischen Mensch und Gott zum Zweck der Problemlösung. Es ging auch nicht darum, Gott irgendetwas mitzuteilen, sondern darum, „eine andere Denkkappe aufzusetzen“, wie es in meiner Jugend unsere Nonnen auszudrücken pflegten. Anscheinend handelte es sich dabei überhaupt nicht um „Denken“, wie wir das heutzutage verstehen; denn solches Denken ist allzu oft nur eine Reaktion auf den Augenblick oder ein sich ständig wiederholender Kommentar dazu.
Die Wüstenväter und -mütter verstanden Gebet nicht als eine Art Deal, der Gott irgendwie gefallen sollte (jenes funktionalistische problemlösende Verständnis von Gebet, das sich später durchsetzen sollte), sondern als eine Transformation des Bewusstseins der Betenden, das Erwachen eines inneren Dialogs, der von Gottes Seite aus ohnehin niemals aufgehört hatte. Deshalb lädt der Apostel Paulus oft dazu ein, „allezeit“ zu beten (vgl. 1. Thessalonicher 5,17). Einfacher ausgedrückt: Beim Gebet geht es nicht darum, Gottes Auffassung von uns oder irgendeiner anderen Sache zu ändern, sondern Gott zu erlauben, unsere Sicht der direkt vor uns liegenden Realität zu verändern – was wir meist vermeiden oder verwerfen. „Lass dein Opfer vor dem Altar liegen, geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Mitmenschen, und dann komm und bring deine Opfergabe dar!“ (Matthäus 5,24). Brillant! Zu viele von uns unternehmen endlose Versuche, gottgefällig zu beten, während wir immer noch einen Behälter mit abgestandenem Wasser in uns herumschleppen. Doch in diesem alten Sumpf kann nichts Neues oder Gutes passieren.
Die „Des-Identifikation“ von den eigenen Leidenschaften, das „Nicht-Anhaften“, hatte für die Wüstenmütter und -väter den Geschmack von Freiheit und Erlösung – lange Zeit bevor wir zu der Auffassung gelangten, Erlösung bestehe darin, dass wir nach dem Tod in ein Alternativ-Universum versetzt würden. Dabei wird Gott mehr als Partner unseres privaten Evakuierungsplans gesehen – und benutzt – und weniger als Begegnung der Liebe, die den Geist verwandelt und das Herz befreit. Solch Egozentrik zeigt sich in der geringen – falls überhaupt vorhandenen – Sorge vieler Christen um Gerechtigkeit, die Erde oder die Armen. Früchte der Liebe sind bei ihnen oft Fehlanzeige und interessieren viele von ihnen auch nicht sonderlich. So kommt jener „Wahre Gott“, den wir vollmundig proklamieren, in der Schöpfung und in den meisten echten menschlichen Problemen nicht wirklich vor. Meines Erachtens ist diese begrenzte Sicht von Erlösung eine der Hauptursachen von Atheismus, Agnostizismus, der Verachtung organisierter Religion sowie vieler psychischer Erkrankungen in der Gegenwart. Wir haben Gott in Kirchen, Zeremonien und eine kleine furchtgesteuerte Gruppe eingesperrt.
Ich glaube inzwischen, dass das Alternativ-Universum, nach dem wir uns zu Recht sehnen, nicht irgendwo anders oder in der Zukunft liegt, sondern unmittelbar in unseren Herzen und Köpfen! Wenn wir eine völlig andere Geisteshaltung annehmen, dann kümmert sich der Himmel um sich selbst, fängt tatsächlich jetzt an und ist nichts, woran wir „für später“ glauben müssen. Die frühen Mönche und ihre späteren Schwestern und Brüder haben entdeckt, dass wir in die eigenen Herzens- und Hirngespinste verstrickt bleiben, wenn wir uns allzu exklusiv in wortreiche Gebete, Rezitationen und theatralische Liturgien zurückziehen. Wer alles kontrolliert, die Gebetsmühle in Bewegung hält und den Gottesdienst inszeniert, hat sich dadurch noch nicht selbst verändert, und sieht, hört und bietet deshalb auch nichts Neues für die Welt.
Es mag Katholiken und Orthodoxe schockieren, wenn sie entdecken, dass viele der frühen Einsiedler und Mönche die eucharistischen Gebete oder die Psalmen nur zu ganz besonderen Anlässen gemeinsam rezitierten, keinesfalls jedoch täglich. Der tägliche Kampf hingegen, welcher sie wesentlich mehr forderte – wie er auch uns fordert –, war das Loslassen von einer gedanklichen Fixierung auf irgendwelche Ablenkungen und die fortwährende Suche nach Seelenfrieden von den inneren Dramen. Häufiges Thema in alten Texten wie der Philokalia war „die innere Liturgie des Herzens“ oder die „noetische Liturgie des Geistes“. Das war etwas ganz anderes als die spätere Dauerbeschäftigung mit präzisen liturgischen Vorschriften, die mit der Zeit zu Gesetzen und Regeln wurden und die Kleriker von heute noch immer beschäftigen. Solche Anstrengungen relativieren sich umso mehr, wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, dass jede Denomination eine Obsession für andere „wesentliche“ Dinge hat, die sie für göttliche Mandate hält. Schweigegebet und kontemplatives Gebet hingegen, Konzentration auf das „Ganz da“, bieten uns keine Rollen, Rituale, Texte, Kostüme, Genderthemen oder korrekte Formulierungen, über die man streiten könnte. Vielleicht ist genau das der Grund, weshalb diese Praxis so vieldeutig