Rebekkas Tagebuch. Eckart zur Nieden
mich stand. Vielleicht hat er auch unsere Familiengeschichte verfolgt.“
Stefanie nickte.
„Ein merkwürdiger Gedanke!“, murmelte Paul.
„Aber nicht unangenehm! Grüble nicht weiter, freu dich und kauf dir den Unimog. Damit du nicht immer ein Fahrzeug leihen musst, um deine Steine zu holen und deine Kunstwerke auszuliefern.“
„Ich kann mich noch nicht einmal bedanken.“
„Warum auch? Nimm es einfach als Erbe, das dir zusteht!“
„Falls dieser Wohltäter mein Vater ist. Denn das steht ja nicht fest.“
Stefanie beobachtete, dass ihr Mann nach diesem Satz den Atem anhielt und starr durch sie hindurchzublicken schien.
„Was ist?“
„Mir fällt da etwas ein. Ich habe heute Morgen auf dem alten Heuboden über der Werkstatt ein Tagebuch gefunden. Alt. In deutscher Schrift. Ich konnte es nicht lesen. Vielleicht besteht da ein Zusammenhang.“
Leoni kam herein. „Muschi hatte schon ihre Milch.“
„Dann frühstücken wir jetzt!“, beschloss Stefanie. „Nach dem Tagebuch sehen wir später. Ich muss nämlich um halb neun an meiner Arbeit sein. Wenn es Sütterlin ist, kann ich es wahrscheinlich lesen. Meine Oma hat noch so geschrieben. Kommt an den Tisch!“
2
Paul Born und seine Frau saßen am Tisch im Wohnzimmer. Stefanie hatte das Tagebuch vor sich liegen und schaute es zunächst schweigend an. Sie musste sich erst an das Schriftbild gewöhnen. Dann fing sie an, langsam und stockend vorzulesen.
3. Juni 1941
Viele Mädchen schreiben ja mit Begeisterung Tagebücher. Ich konnte mich in meiner Jugend nie damit anfreunden. Aber nun bin ich erwachsen, und wenn ich jetzt doch damit anfange, so hat das einen anderen Grund.
Die Ereignisse überstürzen sich. Es gibt vieles, was festgehalten werden muss. Vielleicht werde ich später einmal, wenn die Krise durchgestanden ist, mir anhand dieser Notizen wieder alles in Erinnerung rufen. Ich werde dann desto dankbarer sein, je mehr Gefahren und Notlagen hier stehen, die überstanden sind.
Vielleicht wird ein anderer dies alles lesen, wenn ich nicht mehr lebe. Es ist ein tröstlicher Gedanke für mich, dass mit meinem Leben nicht auch meine Geschichte vergangen sein wird.
Vielleicht wird aber auch niemand dieses Tagebuch lesen. Dann hat es wenigstens den Sinn gehabt, dass ich mir beim Schreiben Gedanken mache und nicht nur in unserem Versteck vor mich hin brüte.
Bevor ich die frischen Erlebnisse aufschreibe, will ich die Vorgeschichte notieren. Ohne diese sich über Jahre hinziehenden Schwierigkeiten wären wir, mein Mann Aaron und ich, ja nie in dieses Versteck auf Borns Heuboden gekommen.
Nach der Aktion der Nazis „Kauft nicht bei den Juden“ im April 1933 ging es mit unserem Textilgeschäft in Wuppertal immer schlechter. Es hielten sich zwar durchaus nicht alle Kunden an diese gehässige Parole, und es gab sogar einige wenige, die aus leisem Protest extra in unseren Laden kamen. Aber das waren Ausnahmen. Der Umsatz ging immer mehr zurück. Schließlich war das Geschäft nicht mehr zu halten.
Die Verunglimpfungen wurden auch immer dreister. Man munkelte, dass Juden verschleppt würden. Wohin und zu welchem Zweck – das wusste keiner.
Mein Schwager und meine Schwägerin waren oft bei uns. Sie wollten ins Ausland fliehen und drängten uns mitzukommen. Ich wäre vielleicht schweren Herzens mitgeflohen, aber Aaron war dagegen.
Als dann in der Nacht vom neunten auf den zehnten November 1938 die Barmer Synagoge in der Scheurenstraße ausbrannte und die Zeitungen von ähnlichen Tragödien in anderen Städten berichteten, nahm natürlich auch unsere Angst zu. Auch die Atmosphäre uns gegenüber wurde immer feindlicher, was die Angst noch verstärkte.
In einem erneuten Gespräch mit Schwager und Schwägerin beschlossen wir – nach endlosen Beratungen bis zwei Uhr in der Nacht –, dass die beiden fliehen sollten. Sie waren kinderlos und würden unseren Sohn Jakob mitnehmen. Aaron und ich wollten aber noch bleiben, um zu versuchen, unseren Besitz – den Laden, die Textilien und unser Mobiliar – zu Geld zu machen, damit nicht alles verloren ginge. Ohne unseren Sohn würde es für uns später leichter sein, nachzukommen. Und sollte es bei uns misslingen, was wir aber nicht ernsthaft annahmen, so wäre wenigstens er in Sicherheit.
Aber wir konnten fast nichts verkaufen. Die Dinge spitzten sich immer mehr zu, und die Gefahr für uns wurde zunehmend größer, besonders als 1939 der Krieg begann. Warum wir nicht konsequenter reagiert haben, weiß ich nicht. War es, weil wir die Gefahr nicht realistisch einschätzten? Weil wir sie nicht erkennen wollten? Weil wir zu sehr am materiellen Besitz hingen? Weil wir uns einredeten, dass wir zwar Juden waren, aber am jüdischen Leben fast gar nicht teilgenommen hatten und damit eigentlich wie andere Deutsche waren?
Irgendwann war es für eine Flucht zu spät. Freunde erzählten uns davon, dass manche es vergeblich versucht hatten und verhaftet worden seien.
An dieser Stelle will ich noch erklären, wie unsere religiöse Einstellung war. Wie erwähnt, nahmen wir am Leben der jüdischen Gemeinde nicht teil. Die eine oder andere Tradition bestand in unserer Familie fort – zum Beispiel hatten wir Jakob beschneiden lassen –, aber die jüdischen Feste feierten wir nicht. Dafür feierten wir wie alle um uns her Weihnachten und Ostern. Aaron und ich sprachen auch kaum über religiöse Fragen. Eine gewisse Scheu wird dabei eine Rolle gespielt haben, aber auch Unsicherheit. Stimmte das alles, was man uns an unbeweisbaren Dingen in der Erziehung mitgegeben hatte? In unserer Umgebung hielt man etwas ganz anderes für wahr. Natürlich ist mir klar, dass die Wahrheit nicht unbedingt bei der Mehrheit liegen muss. Aber auch nicht bei der Minderheit, nur weil sie die Minderheit ist. Und auf lange Traditionen berufen sich alle.
Ich muss zugeben, selbst diese Gedanken sind neu für mich. So gründlich habe ich über das alles gar nicht nachgedacht. Erst durch die Begegnungen und Gespräche mit den alten Borns bin ich aus meiner Gleichgültigkeit solchen Fragen gegenüber etwas aufgewacht.
Von dem jungen Ehepaar Born muss ich berichten. Sie wohnten wie wir im dritten Stock, nur auf der anderen Seite des Treppenhauses. Beide waren ungefähr in unserem Alter und hatten eine Tochter, Thea, die ein Jahr jünger war als Jakob. Die Kinder spielten oft zusammen, meistens in Borns Wohnung, wenn Aaron und ich im Geschäft waren. Als wir das nicht mehr betrieben, waren beide oft bei uns.
Als der Krieg begann, war Harald Born als Leutnant natürlich nicht mehr da. Vom Polenfeldzug an war er nur noch zu Hause, wenn er Fronturlaub hatte. Umso mehr suchte Annemarie den Kontakt zu uns, um nicht so allein zu sein. Die Verachtung für die Juden griff zwar immer mehr um sich, aber sie setzte sich darüber hinweg.
Einmal waren Annemaries Schwiegereltern zu Besuch. Den Anlass weiß ich nicht mehr. Es könnte der vierte Geburtstag von Thea gewesen sein. Es ergaben sich längere und sehr ernste Gespräche zwischen dem alten Ehepaar Born und uns. Sie waren freundliche Leute, die irgendwo im bergischen Land einen Bauernhof besaßen.
Schnell entstand Vertrauen zwischen uns, nicht nur, weil Annemarie manches über uns erzählt und so die Begegnung vorbereitet hatte, sondern hauptsächlich, weil sie Vertrauen erweckende Menschen waren.
Kurz bevor sie nach ihrem mehrtägigen Besuch wieder abreisten, kamen wir auf die Situation der Juden zu sprechen. Sie rieten uns, wir sollten uns ins Ausland absetzen. Aaron erzählte ihnen offen, dass wir mit dem Gedanken lange – wohl zu lange – gespielt hätten, aber dass es nun zu spät sei. Und er schilderte, was wir in der Hinsicht unternommen hatten. Da sagte Ludwig Born, und seine Frau Elisabeth nickte eifrig dazu, wenn wir fliehen müssten und nicht wüssten, wohin,