Rebekkas Tagebuch. Eckart zur Nieden

Rebekkas Tagebuch - Eckart zur Nieden


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vorgestellt hatten, konnten wir froh sein, hier unterzukommen.

       „Wir bringen euch noch zwei Stühle“, machte Ludwig uns Mut.

       „Und natürlich Decken und was man sonst noch so braucht“, ergänzte seine Frau.

       Plötzlich fürchtete ich, sie könnten an unseren Gesichtern Enttäuschung ablesen, und beeilte mich, eine fröhliche Mine aufzusetzen. „Sehr schön! Hier können wir uns wohlfühlen! Vielen Dank!“

       „Nichts zu danken! Was ihr einem von meinen geringsten Brüdern getan habt, habt ihr mir getan.“

       Als ich erstaunt guckte und mich fragte, welche Brüder Ludwig wohl meinte, da ich zu wissen glaubte, dass er keine hatte, fügte er hinzu: „Hat Jesus gesagt.“

       „Ach, Ludwig!“, meinte Elisabeth. „Das klingt ja jetzt, als würden wir es nur tun, weil Jesus es verlangt. Das auch, aber – nun ja, ihr tut uns leid, und wir wollen euch gern helfen.“

       „Ja, das stimmt“, nickte ihr Mann. „Und noch etwas: Wir schämen uns, dass unser Volk euch das antut. Was wir tun können, um ... na ja, ihr wisst schon, wie ich‘s meine.“

       Aaron ging zu Ludwig und umarmte ihn wortlos. Das hätte ich nicht von ihm erwartet, er ist sonst eher distanziert. Aber ich nahm das zum Anlass, Elisabeth in den Arm zu nehmen, allerdings nicht wortlos. Freilich waren meine Worte wohl eher ein ziemlich zusammenhangloses Gestammel als ein formvollendeter Dank.

       Ludwig öffnete die große Bodenklappe und zeigte uns, wie der Seilzug zu bedienen war. Immer wenn unten jemand pfiff oder sich sonst bemerkbar machte, sollten wir öffnen und das Seil mit dem Haken und einem Korb daran hinunterlassen. Unser Essen, und was wir sonst so brauchen würden, sollte auf diese Weise nach oben kommen.

       Später brachte Elisabeth noch einen Eimer, in den wir unsere Notdurft verrichten sollten. Wir weigerten uns aber, den auch am Seil hinunterzulassen, weil wir die beiden nicht auch noch damit belasten wollten, sondern bestanden darauf, nachts selbst hinabzusteigen und den Eimer zu leeren.

       Während ich dies schreibe, leben wir nun bereits zwei Wochen hier in unserem Versteck. Es ist langweilig – auch ein Grund, weshalb ich schreibe. Andererseits ist aber auch immer eine Anspannung da: Wie geht es weiter? Wie wird der Krieg enden? Wird es wieder Freiheit für uns Juden geben? Kann es sein, dass sich die Hilfsbereitschaft des Ehepaars Born erschöpft, wenn es noch länger so weitergeht? Können wir es im Winter hier oben aushalten? Was geschieht, wenn einer von uns krank wird?

      Bei aller Anspannung durch Zukunftsangst und aller Langeweile durch Untätigkeit – das Gefühl, das mich am meisten erfüllt, ist Dankbarkeit. Was bringt Menschen dazu, sich selbst in größte Gefahr zu begeben, um uns zu schützen? Und das nicht widerwillig, als würde ihr Gewissen oder ihre moralische Erziehung sie unter Druck setzen, sondern gern und liebevoll. Wir spüren, dass es für sie eine Freude ist, uns zu helfen.

       Obwohl sie mit ihrer Landwirtschaft viel zu tun haben, nimmt sich Elisabeth abends immer mal ein paar Minuten Zeit für uns. Manchmal kommt auch Ludwig mit herauf. Oft geht dann aber Elisabeth bald wieder, weil sie fürchten, dass es ein Besucher des Hofes seltsam finden könnte, wenn niemand da ist. Und wenn dann einer vom Heuboden steigt, wo ja mitten im Sommer niemand etwas zu suchen hat.

       Wir freuen uns jedes Mal, wenn einer die Leiter heraufkommt, mit uns redet, berichtet, was in der Welt so vorgeht, und uns Mut macht. Ich kann nur staunen über diese beiden liebevollen alten Menschen und bin traurig, dass ich weiß: Wir werden das nie vergelten können.

      Harald Born hatte es sich in seinem Sessel bequem gemacht, und seine Urenkelin Leoni saß auf seinem Schoß. Um dem Kind nicht zu schaden, hatte der alte Mann seine Pfeife ausgehen lassen. Sie lag neben ihm auf dem Tischchen neben dem vergilbten Foto, das ihn als jungen, schneidigen Offizier in tadellos sitzender Uniform zeigte.

      Das schnelle Hämmern des Meißels in der Werkstatt hatte ihn an Maschinengewehrfeuer erinnert. So konnte er nicht anders. Er musste von damals erzählen, als der Rückzug begann. Besonders das Erlebnis am Dnjeprknie.

      „Ich konnte mich nur flach auf den Boden legen“, erzählte er gerade, „sodass die Geschosse über mich hinwegzischten. Wo meine Kameraden waren, konnte ich nicht sehen. Ich wagte gar nicht, den Kopf zu heben, um mich nach ihnen umzuschauen. Als der Beschuss etwas nachließ, kroch ich langsam zurück. Ich wusste, dass weiter hinten ein Graben war, in dem ich besseren Schutz finden würde. Vielleicht waren dort auch die Kameraden. Aber als ich dort ankam, war ich allein. Die anderen hatten sich schon weiter zurückgezogen. Der Graben konnte mir aber auf Dauer auch nicht helfen, denn ich hörte und sah, dass der Feind näher kam. Ich allein konnte ihn natürlich nicht aufhalten. Was sollte ich tun? Da bemerkte ich eine kleine Brücke, eigentlich nur ein Steg aus dicken Bohlen, der über den Graben hinwegführte. Schnell kroch ich dort hin und versteckte mich darunter. Kaum war das gelungen, da hörte ich schon, wie die feindlichen Soldaten über meinem Kopf donnernd über die Brücke rannten. Ich konnte nur stillhalten, die Pistole in der Hand, und warten ... “

      „Vater!“ Thea stand plötzlich in der Tür. „Du kannst doch dem Kind nicht solche Geschichten erzählen! Was denkst du dir denn dabei!“ Ihr Gesicht glühte rot vor Zorn, und sie beherrschte sich nur mühsam, um nicht noch lauter zu schimpfen.

      „Guten Morgen, Thea!“

      „Leoni, Uropa hat genug erzählt. Geh jetzt raus und spiele draußen!“

      „Och ... “, murrte das Mädchen. Aber es spürte, dass eine Spannung in der Luft lag, und ging darum schnell hinaus.

      „Ich habe das schon oft gesagt, Vater! Du kannst doch einer Fünfjährigen nicht solche grausamen Geschichten erzählen!“

      „Es ist alles wahr, was ich erzähle. Nichts ist erfunden. Noch nicht mal leicht übertrieben oder ausgeschmückt.“

      „Darum geht es nicht. Ich weiß, dass du das alles erlebt hast. Aber sei froh, dass es vorbei ist! Ich bin jedenfalls froh, dass wir keinen Krieg mehr haben. Da muss man doch ein Kind nicht mit so etwas belasten! Wer weiß, was du damit in seiner Seele anrichtest!“

      „Unsinn! Sie wird nur abgehärtet. Für die Realitäten des Lebens.“

      „Abgehärtet? Ein fünfjähriges Mädchen? Du hast keine Rekruten vor dir, falls du das noch nicht gemerkt hast.“

      Ein Blick in das Gesicht ihres Vaters ließ Thea erschrecken. Der alte Mann hatte solch einen traurigen Ausdruck in den Augen, mit denen er in ihre Richtung starrte. Aber so, als sähe er durch sie hindurch. Hatte sie zu hart mit ihm geredet?

      Immerhin war er ja ihr Vater. Und ein alter Mann. Mit weicherer Stimme sagte sie, während sie näher zu ihm trat und schließlich direkt vor ihm stand: „Versprich mir, Vater, dass du ihr so etwas nicht wieder erzählst!“

      Ihr Vater antwortete nicht. Da rief Leoni von der Tür her: „Bist du dann gerettet worden, Uropa?“

      Der lächelte. „Klar! Sonst säße ich ja nicht hier.“

      „Stimmt!“, meinte das Mädchen.

      „Es war aber noch ein ... “

      „Du sollst unten spielen, hatte ich gesagt!“, unterbrach Thea.

      Leoni verschwand.

      „Du sollst mir versprechen, Vater, dass du das Kind nicht mit deinen Kriegserlebnissen von Blut und Tod belastest!“

      Harald Born sah unter sich. Das Lächeln, mit dem er seine Urenkelin angesehen hatte, war verschwunden. Aber auch der strenge Ausdruck, den seine Tochter sonst von ihm gewöhnt war. Er wirkte nur traurig, als er leise murmelte: „Es hört mir ja sonst niemand zu.“


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