Die Jagd nach der silbernen Feder. Jan Hanser

Die Jagd nach der silbernen Feder - Jan Hanser


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Nur eine Armeslänge entfernt reitet ein zweiter Junge, wohl nur wenig jünger als du. Seine Hände graben sich tief in das weiche silbrige Fell des zweiten Welfen, während die Büsche und Bäume neben ihm nach hinten wegfliegen.

      Fühlst du, wie wir fast schon in einer anderen Welt sind? Aus den Hochhäusern werden massive Felswände, die die rechte Seite des Pfades begrenzen. Rau und von Rissen durchzogen säumen sie unseren Weg. Geduckte Büsche klammern sich mit ihren feinen Wurzeln an den kleinsten Spalt.

      Die quadratische Rasenfläche da drüben, die beinahe so aussieht, wie du sie vielleicht vom Goethepark gegenüber kennst (vielleicht steht auf der, die du kennst, auch eines dieser überflüssigen Schilder „Betreten des Rasens verboten!“), scheint zuerst klein und dehnt sich dann doch nach Westen hin zu fast unendlicher Weite aus, entrollt sich, legt sich über Hügel und durch Gräben und bedeckt bald das ganze Land, durch das wir uns lautlos bewegen. Aus den wenigen Eichen, die die Friedhofsallee in meiner Stadt säumen, wird in diesem Moment im Nordwesten der mächtige und geheimnisvolle Wald der Wölfe. Manche nennen ihn auch „den alten Wald“, doch ihr werdet ihn als den „Wald der Wölfe“ in Erinnerung behalten. Wartet nur.

      Hinter uns, dort, wo eben noch der kleine Spielplatz mit der roten Rutsche und dem quadratischen Sandkasten lag, glitzern goldene Sandkörner im Mondlicht und die Wellen des Südmeeres rollen mit sanftem Rauschen ans Ufer.

      Ich könnte dir nun Piratengeschichten noch und nöcher erzählen. Doch darum soll es erst später gehen. (Vielleicht auch erst in einer ganz anderen Geschichte – wir werden sehen.)

      Weit vor uns, nur sichtbar, wenn du deine Augen zusammenkneifst und ein wenig Fantasie mitbringst, streben die mächtigen und schneebedeckten Gipfel des Siebengebirges in den Himmel.

      Und dahinter liegt, ihr ahnt es schon, das prächtige Schloss des großen Königs Lian mit seinen Zinnen, wehenden Wimpeln und hoch ragenden Türmen.

      Und schon sind wir mittendrin. Mittendrin in dieser wundersamen Welt und mittendrin in unserer Geschichte. Bevor ich es vergesse: Die beiden Jungen heißen Jisah und Pepe. Ihre beiden Begleiter sind Welfen. Welfen sind die wohl treuesten und schnellsten Boten König Lians. Auf den ersten Blick werden sie von den meisten Erwachsenen für Wölfe gehalten. Das wäre euch natürlich nicht passiert. Auch wenn sie wirklich wie Wölfe aussehen.

      Doch sie sind groß und mächtig wie Schlachtrösser und haben auf jeder Seite drei muskelbepackte Läufe. Ja, es sind wirklich drei. Auf jeder Seite!

      Also, wie du bestimmt schon selbst nachgerechnet hast, insgesamt sechs Läufe.

      Und jetzt, du wirst sagen: „Ist doch logo!“, sage ich dir, dass sie die schnellsten Tiere in diesem Teil der Erde sind.

      Auf ihre Feinde – und auf die meisten Erwachsenen – machen sie einen ganz furchteinflößenden Eindruck. Ihre Zähne sind nicht niedlich. Ganz bestimmt nicht! Habt ihr vielleicht schon einmal ein niedliches Wolfsgebiss gesehen? Sicher nicht! Sie sind reißend und scharf und weiß. Ihre Lefzen sind blutrot und aus ihren Augen strahlt ein glühendes Feuer. Ihr Fell leuchtet bei Mondschein silbergrau und wer bei ihrem Anblick einen gehörigen Schrecken bekommt, der tut schon recht daran.

      Ihr braucht natürlich keine Angst vor ihnen zu haben. Ein klein wenig Ehrfurcht vielleicht, das reicht. Denn Wald und Winter, so werden die beiden Welfen in dieser Zeit genannt, sind Freunde von Jisah und Pepe.

       DIE MEUTE

      Der Halbmond leuchtete schwach über unseren vier Freunden, als sie aus der zerklüfteten Felslandschaft heraustraten. Die Läufe der Welfen griffen weit aus. Lautlos folgten sie dem Flusslauf. Pepe hob den Kopf. Die Felsen flachten ab und verwandelten sich langsam in eine sanfte Hügellandschaft. Ihr Weg führte leicht abwärts. Die Welfen verlangsamten ihr Tempo.

      Pepe konnte das Wasser riechen, bevor er es sah. Unter ihnen tat sich ein See auf. Alte Eichen wurzelten am Ufer, die Äste weit ausgestreckt.

      Als sie das Gewässer erreichten, drehte Winter im Lauf seinen Kopf. „Lasst uns hier das Lager aufschlagen. Der Platz ist sicher“, sprach er mit seiner rauen und trotzdem wunderlich sanften Stimme.

      Jisah nickte. Die Welfen wechselten in den Schritt und sie ritten gemächlich am Ufer des Sees entlang.

      Kleine Wellen, aufgekräuselt von einem lauen Wind, plätscherten ans Ufer.

      Am Stamm einer mächtigen Eiche glitten die Jungen von den Rücken ihrer Begleiter. Während die Welfen ihren Durst mit dem klaren Wasser des Sees löschten, erkundeten Jisah und Pepe die Umgebung.

      Der See, auf dessen Grund eine unterirdische Quelle sprudelte, speiste die Bracht. Wie eine riesige silberne Schlange zog sie sich im Mondlicht durch die weite Ebene. Sie hatte einst dem Land, durch das sie fließt, seinen Namen gegeben. Oder war es umgekehrt? Ich weiß es nicht mehr.

      Das Brachtland brachte um diese Jahreszeit sattes grünes Gras hervor. Wiesenden, Antilopen und Niftaffen grasten auf weitläufigen Weiden. Gänse, Bussarde, Stiefler und Eulen füllten die Luft und bevölkerten die unzähligen kleinen Tümpel. Auf wilden Obstbaumwiesen tummelten sich Kaninchen, Trampler und Eichhörnchen.

      Die Ebene des Brachtlandes verwandelte sich im Westen langsam in ein hügeliges dichtbewaldetes Bergland, in dem auch, wie ihr ja schon wisst, der Wald der Wölfe lag. Nördlich, noch eine Tagesreise von den ersten Ausläufern des Siebengebirges entfernt, findet man die Stadt Avlar. Und im Osten? Nun, dort erhoben sich die eisernen Schlote von Ferris.

      Die vier Gefährten entschieden sich, um den Stamm einer mächtigen Eiche zu lagern. Ihre Rinde war rissig und wenn man sich ganz dicht davorstellte, konnte man meinen, man blicke in eine winzige Welt voller Schluchten.

      Ihr Astwerk breitete sich schützend über ihnen aus. Fast schien es, als würden ihre Blätter ihnen zuhauchen: „Ich halte Wacht. Ruht aus, Reisende.“

      Friedlich und schwarz lag der See vor ihnen. Das gegenüberliegende Ufer war nicht weit. Jisah konnte Wasserrosen und Schilf erkennen. Einige Weiden ließen ihre Arme träge ins Wasser hängen und die noch munteren Frösche waren in ein nächtliches Konzert vertieft.

      Nachdem sie ausgiebig von ihren Vorräten gespeist hatten, kuschelten sich Jisah und Pepe in Winters warmes Fell. Wald übernahm die erste Nachtwache.

      So sicher von Welfen bewacht, schliefen Jisah und Pepe nach kurzer Zeit ein.

      Allein die Frösche schienen noch wach zu sein. Ihr schräges Lied erfüllte die Frühlingsnacht und stieg zum friedlich scheinenden Halbmond hinauf.

      Jisah fror. Er tastete mit seinen Fingerspitzen nach Winter. Seine Hände fuhren raschelnd über das trockene Laub. Langsam streckte er seinen Arm weiter aus. Verschlafen öffnete er die Augen und richtete sich gähnend auf. Winter lag drei Schritte entfernt unter dem tiefhängenden Blattwerk der Eiche und beobachtete Wald.

      Sie sahen sich kurz an. Dann wandte auch Jisah seine Aufmerksamkeit Wald zu. Etwas schien ihn ganz in Anspruch zu nehmen. Jisah schlich auf allen vieren zu ihm.

      Schweigend nickte Wald Jisah zu und lenkte seinen Blick zum gegenüberliegenden Ufer. Jisah schaute angestrengt in die Nacht hinaus. Er sah – nichts.

      Plötzlich fiel ihm auf, dass das Froschkonzert verstummt war. Es herrschte völlige Stille um den See. Selbst die Bäume hatten aufgehört, ihre Äste im Wind zu wiegen. Schlaff hingen ihre Blätter herab. Jisah wurde noch aufmerksamer. Seine Muskeln spannten sich. Nichts zu hören war gefährlich. Sehr gefährlich! Warum waren die Frösche still?

      Er strengte seine Augen an und blickte konzentriert zum anderen Ufer.

      Dann, seine Pupillen begannen schon zu schmerzen, sah er


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