Die Jagd nach der silbernen Feder. Jan Hanser
Hatte ich bereits erwähnt, dass Welfen die schnellsten Tiere in diesem Teil der Erde sind? Nun, wie auch immer. Nur, falls ihr mir vorhin nicht geglaubt habt. Hier ist der Beweis.
Als sie die Meute hinter sich gelassen hatten, griff Jisah unter sein Hemd.
Die Feder war da.
Winter verlangsamte sein Tempo und blieb unter den ausladenden Ästen einer Tanne stehen. Weit vor ihnen lag das hügelige Vorland, an dessen Ende sich das Siebengebirge dunkelblau vom Himmel abhob. Ein frischer Nachtwind zerzauste ihre Haare und ließ Jisah frösteln. Der kernige Geruch frischgetrockneten Heus durchzog, zart wie seidene Fäden, die Luft.
„Warum bleibst du stehen?“ Jisah keuchte die Frage in Winters Ohr.
„Was hast du getan, Junge?“ Unsanft stieß Winter die Worte durch seine Reißzähne. Er drehte seinen Kopf nach hinten und blickte Jisah an. „Hast du den Verstand verloren?“
Hinter sich glaubte Jisah den rasselnden Atem der Hyänen zu hören. Doch was er wirklich hörte, war das Geräusch von Hunderten von Pfoten, die auf dem Boden aufschlugen und einen Rhythmus erzeugten, der dem Hufgetrappel von Wildpferden sehr ähnlich war.
„Jetzt lauf schon!“, japste Jisah.
„Was hast du getan, Jisah?“
Jisah blickte hektisch nach hinten. „Ich war in dem Zelt. Da lag nur eine Feder rum. Nichts Besonderes. Hab sie eingesteckt.“ Jisah zuckte mit den Schultern.
Ein Grollen durchlief Winter. „Ich sollte dich ihnen zum Fraß vorwerfen, Junge! Eine Feder, sagst du?“
„Ja, sie war in einer komischen braunen Schatulle.“
Ein paar Sekunden lang war Winter wie erstarrt. „Wir müssen sicher sein, dass sie unserer Spur folgen“, antwortete er hektisch. „Sie dürfen nicht Wald und Pepe folgen. Die beiden haben – so wie du dummer Junge – keine Ahnung, in welcher Gefahr sie schweben. Wald wird der Bracht folgen. Das ist der einfachste Weg zum Siebengebirge. Darum reisen wir in einem Bogen zuerst nach Osten und schlagen uns bis nach Ferris durch, wo wir …“
Winter konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Wildes Kriegsgeheul verriet ihnen, dass die Meute ihre Spur entdeckt hatte. Sie jagte jetzt in wildem Durcheinander geradewegs auf die Tanne zu.
DIE JAGD DURCH DAS FELSENMEER
Wald und Pepe brachen auf. Pepe war noch immer vom Schrei der Hyäne aufgewühlt. Wald hatte nicht viele Worte gemacht. Schweigend ritten sie durch weitläufiges und saftiges Heideland. Die Bracht schlängelte sich mit tiefem Glucksen rechts von ihnen durch ihr breites Bett. Eine Herde Wiesenden hob kurz skeptisch die Köpfe, als die beiden Gefährten an ihnen vorbeiritten. Kaninchen stoben auseinander und ein Fuchs bellte ihnen heiser nach. Wald wandte seinen Lauf näher zur Bracht und ging einige Schritte ins Flussbett hinein, um ihre Spuren zu verwischen.
Hier floss der Fluss träge und flach. So konnten sie ohne größere Kraftanstrengung durch die Strömung laufen. Auf dem Grund des Flusses schimmerten Kieselsteine im Licht des Mondes. Die Strömung kräuselte sich, wo größere Steine unter der Wasseroberfläche lagen. Forellen stoben auseinander, wenn Walds Läufe ins Wasser eintauchten. Pepe fühlte die Feuchtigkeit von unten heraufsteigen. Am Horizont deuteten dunkle Linien die Vorläufer des Siebengebirges an.
Sie entschieden, noch während der Nacht einen möglichst großen Abstand zwischen sich und die Meute der Hyänen zu bringen.
Nach ungefähr einer Stunde erreichten sie eine kleine, von niedrigem Gebüsch eingegrenzte Bucht. Wald stieg aus dem Wasser. Pepe glitt vorsichtig von Walds Rücken, damit sich dessen Pfoten nicht zu tief ins Kiesbett eingruben. Hinter Wald gehend, setzte er sanft einen Fuß vor den anderen. So hinterließen die beiden eine Spur, die nur ein geübter Fährtenleser würde entdecken können. Wind und Wetter würden den Rest erledigen und in kürzester Zeit sämtliche Abdrücke unsichtbar machen.
Die Bucht mündete in einem ausgetretenen Pfad. Pfennigkraut, Sumpfdotterblumen und Schilf säumten seine Ränder. Pepe stieg auf Walds breiten Rücken.
Bereits nach wenigen Metern knickte der Pfad unsanft nach Norden ab und schlängelte sich am Ufer der Bracht entlang. Sie folgten dem Pfad bis zum Monduntergang. Als sie eine kleine Felsplatte erreichten, die den Pfad wieder mit dem Fluss verband, war der Mond völlig verschwunden und die Morgendämmerung würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die ersten Frösche begannen zu quaken und ein Auerhahn kündigte mit seinem Geschrei das Anbrechen eines neuen Tages an. Noch war es dunkel.
Während sie nebeneinander auf der rauen Felsplatte standen und das kühle Wasser der Bracht ihre Füße umspülte, wurde Pepe sich sicher, dass sie jeden Verfolger abgehängt hatten. Wenn es überhaupt welche gegeben hatte.
Pepe schwang sich auf Walds Rücken. Den Fluss entlang ging es durch das erwachende Land. Aus den Bäumen und Büschenklang das erste Morgenlied der Vögel. Das gleichmäßige Hämmern eines Spechtes drang aus einer kleinen Waldgruppe von links zu ihnen herüber. Pepe sah ein Spinnennetz, in dessen Fäden der Tau die ersten Sonnenstrahlen einfing. Wie Hunderte tropfenförmiger Diamanten schwebten sie im reinen Licht des anbrechenden Morgens. Kurz nach Sonnenaufgang zwang sie ein dichtes Brombeergebüsch, die Ufer der Bracht zu verlassen und sich westlicher zu halten.
Pepe überredete seinen Gefährten zu einer kurzen Rast, um eine Handvoll Beeren zu pflücken. Das war nicht schwer, denn Welfen lieben, wie ich nebenbei erwähnen möchte, Beeren über alles. Natürlich geht ihnen nichts über ein saftiges Stück Fleisch oder knusprig gebratenen Speck mit Salbei, Eiern und Butterkartoffeln, doch beim Anblick von Johannisbeeren, Blaubeeren, Himbeeren, Myrbeeren und all den Beeren, die es im Brachtland in Hülle und Fülle gibt, lacht ihr Herz.
Pepe glitt von Walds Rücken herunter und stakste durch die fast kniehohen Gräser. Gemütlich machte er sich daran, eine Brombeere nach der anderen in Walds Satteltasche verschwinden zu lassen.
„Du solltest auch auf deinen Gefährten achten“, schmunzelte Wald ihn an. „Weißt du nicht mehr? Die erste Regel lautet …“
Pepe grinste: „Ich hab verstanden, Wald!“
Ab nun wanderte nur noch jede zweite Brombeere in die Satteltasche. Alle anderen fanden den direkten Weg in Walds hungriges Maul. Er schmatzte genüsslich. Pepe reckte sich. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und beugte sich weit nach vorne, um für seinen Freund nur die süßesten und dicksten Beeren aus dem stacheligen Buschwerk zu angeln.
Zufrieden lag Wald im Gras. Pepe lehnte sich an seinen breiten Rücken und schob sich eine Beere nach der anderen in den Mund.
„Pssst … schau mal da drüben“, flüsterte Wald ihm zu. „Wir werden beobachtet.“
Pepe wandte vorsichtig den Kopf und entdeckte einen jungen Fuchs, dessen Kopf keck hinter einem abgestorbenen Baumstamm hervorlugte. Misstrauisch hatte der Kleine seine lange Stirn zusammengezogen und seine großen Ohren weit aufgestellt. Pepe konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Rötlich schimmerndes Fell umschloss die schmale weiße Fuchsschnauze, die von einer zierlichen schwarzen Nase gekrönt wurde. Pepe blickte in dunkle bernsteinfarbene Augen. Leicht umwehte der Wind das zarte Buschwerk hinter dem Fuchs. Pepe blinzelte. Der Fuchs war verschwunden.
Walds Maul entwich ein sattes und zufriedenes Grunzen. Müde und doch angetrieben von dem Wunsch, den Treffpunkt im Siebengebirge möglichst bald zu erreichen, brachen die beiden Gefährten mit prall gefüllten Taschen auf.
Nach einer halben Stunde begann das Gelände abzufallen und der Boden wurde steiniger. Vereinzelte Felsbrocken, die schroff aus dem Boden ragten, begannen nun ihren Weg zu säumen. Dichtes pelziges Moos überwucherte das Gestein. Karge Fichten drängten aus dem felsigen Boden hervor und klammerten sich mit ihrem dünnen, zähen Wurzelwerk – wie mit knöchernen Fingern – in die feinsten