Tödliche Offenbarung. Cornelia Kuhnert
Besprechungsraum genutzt wird. Rechts steht ein mächtiger eichener Sekretär aus der Gründerzeit, links eine schwarzlederne Sitzgarnitur, in der Mitte ein gedeckter Tisch.
»Nehmen Sie Platz, mein Lieber, ich lasse uns gleich etwas zu essen bringen.« Wörstein deutet auf den Esstisch.
|99|Sein Gast steuert jedoch nicht den angebotenen Stuhl an, sondern den Schreibtisch, auf dem die bronzene Skulptur eines Adlers sein Interesse geweckt hat. Der Raubvogel hat die Flügel weit ausgebreitet. Seine Finger betasten den glatten Stein.
»Prächtiges Exemplar. Sorgfältig gearbeitet. Man weiß nicht, ob er sein Opfer gerade im Visier oder es schon erlegt hat. Trefflich. Habe so ein ähnliches Stück bei mir zuhause.«
Wörstein tritt zu ihm heran. »Das ist ein besonderes Stück. Kamerad Taubold von der Waffen SS Kameradschaft Österreich hat es für das Schulungsheim gestiftet.«
»Es geht eben nichts über eine funktionierende Kameradschaft. Das ist besser als eine Familie.« Der kräftige Mann mit der ausgeprägten Hakennase hebt die Skulptur an, die auf einem viereckigen marmornen Sockel befestigt ist. »Wie weit ist die andere Sache gediehen?«
»Die Vollmacht für die Banken und Ihr Testament habe ich vorbereitet. Wie verabredet.« Ein Grinsen huscht über Wörsteins sonst so starres Gesicht. »Der Großteil Ihres verbliebenen Vermögens fließt in die Stiftung. In den Feinheiten habe ich jetzt Formulierungen gefunden, die gewährleisten, dass die Stiftung auf Dauer das Ziel verfolgt, alle Aktivitäten zu unterstützen, die unsere Bewegung an die Macht bringen. Ich kümmere mich um alles und bleibe auch der Vorsitzende. Für Ihre Frau und Ihre Tochter bleibt ein Pflichtteil übrig.«
»Muss das sein? Die haben doch schon genug bekommen.«
»Sie können auch vor Ihrem Tod das gesamte Geld der Stiftung vermachen, dann können wir uns diesen Pflichtteil unter Umständen sparen.«
»Darüber muss ich nachdenken.«
|100|In diesem Moment klopft es an der Tür.
»Wer ist da?«
Die Tür öffnet sich und der Kopf von Matusch schiebt sich herein.
»Was gibt es, Matusch?«, zischt Wörstein. Er mag es nicht, wenn er gestört wird.
»Die ersten Neuzugänge fürs Wochenende sind eingetroffen.«
»Das heißt: Melde gehorsamst, die Neuzugänge sind eingetroffen, Kamerad Freiherr zu Wörstein.«
Matusch wiederholt den Satz, obwohl er es hasst, sich wie ein Zirkuspferd vorführen zu lassen. Nur weil dieser alte Sack da mit seinem dicken Schlitten angerauscht gekommen ist, hat er noch lange keine Lust, hier den Affen zu machen.
»Da ist noch was.«
»Da ist noch etwas, Kamerad Freiherr zu Wörstein.«
»Da ist noch etwas, Kamerad Freiherr zu Wörstein«, leiert Matusch herunter.
»Ich höre.«
»Da war jemand auf dem Grundstück, Kamerad Freiherr zu Wörstein.«
»Und?«
»Wir haben ihn …«, er zögert einen kurzen Moment, »… wir haben ihn verscheucht, Kamerad Freiherr zu Wörstein.«
Von dem kleinen Ausflug würde er nichts sagen, sonst müsste er das alles in diesem gedrechselten Ton abkaspern, den Wörstein vor diesem Typen hören will.
Wörstein nickt kurz, obwohl ihm diese Mitteilung ganz und gar nicht gefällt; vor seinem Gast möchte er jedoch das Thema nicht vertiefen.
|101|»Zeig den Neuen die Zimmer, Matusch. Wir reden später.«
Wörstein ist beunruhigt. Ungebetene Gäste behagen ihm nicht. Er ist ein Mann von Prinzipien und möchte nicht von Entwicklungen überrumpelt werden. Er ist es gewohnt, die Linie vorzugeben. Wie beim Schach. Immer drei Züge weiter denken, am besten fünf – und die des Gegners ebenfalls im Voraus kalkulieren, damit man von keinem Gegenzug überrascht wird.
Zum Glück hatte er Matusch fürs Grobe. Der erledigt kleine Aufträge, ohne viel nachzufragen. Schon als er ihn das erste Mal gesehen hatte, wusste er, dass er der Richtige ist. Die grenzenlose Wut, die in dem ungehobelten Jungen steckt, die ständige Gewaltbereitschaft. Einer, der zuschlägt, ohne vorher zu fragen, einer, der das Gesetz der Straße beherrscht, der keinem Konflikt aus dem Weg geht. Im Gegenteil. Dennis Matuschenko provoziert gerne und haut erbarmungslos zu. Das ist das Einzige, was er gut kann, dafür trainiert er jeden Tag.
Es war nicht leicht für ihn als Anwalt, den Richter und den Staatsanwalt zu überzeugen, dass sie seine Strafe zur Bewährung aussetzen. Körperverletzung ist kein Kavaliersdelikt. Vorsätzliche schon gar nicht.
»Was für eine Chance hatte Dennis denn?«, fragte er den Richter und zeigte auf Dennis, der statt des kahlgeschorenen Schädels mit akkuratem Seitenscheitel vor Gericht erschienen war. »Seine Großeltern mussten aus Schlesien flüchten und landeten nach etlichen Fehlstarts in Hannover. Seine Mutter hat es nie bis zur Berufsausbildung geschafft. Mit siebzehn wurde sie schwanger und lebt seitdem von der Sozialhilfe. Dennis Matuschenko ist in Vahrenheide aufgewachsen, |102|in einer Umgebung, die so heruntergekommen ist, dass man das Hochhaus, in dem er wohnte, abgerissen hat, weil man die sozialen Probleme in diesem Umfeld nicht mehr in den Griff bekam.«
Als Wörstein nach diesem Vortrag den Gesichtsausdruck des Richters taxierte, wusste er, dass er ihn in der Tasche hatte – und Matusch für immer auf seiner Seite.
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