Tödliche Offenbarung. Cornelia Kuhnert
»Zeigen Sie uns am besten mal, wo der Platzwart seine Geräte stehen hat«, hilft Streuwald seinem Kollegen auf die Sprünge.
25
Martha steht an der Spüle und schrubbt ihre Teekanne. Oben am Rand ist ein brauner Belag. Mit einer Zahnbürste schiebt sie Küchenpapier in die Ritze, die sich zwischen dem beweglichen Henkel und dem Kannenkörper bildet. Nach dem dritten Versuch gibt sie auf. Sie braucht etwas Schmaleres. Während sie in der Schublade des Küchentisches sucht, fällt ihr Blick auf die Anrichte. Dort liegt die Fotokopie der Aufzeichnungen, die ihr ein Mann am Freitag in der Redaktion vorbeigebracht hat.
»Gestatten, Julius Trott aus Celle. Ich unterrichte am Kaiserin-Auguste-Viktoria-Gymnasium |78|in Celle«, stellte er sich vor und erzählte von seiner verstorbenen Großmutter und dem Fund dieser alten Aufzeichnungen bei der gerade stattfindenden Wohnungsauflösung.
»Dieses Tagebuch enthält Sprengstoff. Glauben Sie mir. Unangenehme Wahrheiten werden ans Licht gebracht. Dinge, die niemand in Celle wissen will«, sind seine Worte zum Abschied gewesen. »Diese Geschichte muss an die Öffentlichkeit.«
Martha schlägt die erste Seite auf und beginnt noch im Stehen zu lesen.
1952
Am Ende der Straße steht ein Haus. Fachwerk in bester Zimmermannsarbeit. Bunt bemalte Balkenköpfe, goldene Schriftzüge über den Türen. Alles heimelig und gemütlich. Spitzengardinen in den Fenstern verhindern die Sicht hinter die liebliche Fassade. Tante Ida hat ihr Elternhaus damals bestimmt nicht gern verlassen, genauso wenig wie Mama.
Am Alten Marstall werfe ich einen Blick nach links. Verträumt thront das Celler Schloss im cremigweißen Zuckerbäckerstil auf einem kleinen Hügel, umgeben von Wassergräben, die schon viel gesehen haben. Mittelalterlich verschlafen wirkt es hier, ganz anders als im quirligen New York, das es noch nicht einmal gab, als Celle bereits Residenzstadt war.
Sprengstoff? Unangenehme Wahrheiten? Martha schüttelt den Kopf. Manche Menschen überschätzen die eigene Biografie und die ihrer Mitmenschen enorm. Eine junge Frau aus New York hat Beobachtungen in einer idyllischen Kleinstadt |79|in Norddeutschland aufgeschrieben. Bestimmt kommen gleich Kochrezepte und eine Liste damals aktueller Schlager. Martha blättert die Seite um und liest gelangweilt die nächste Eintragung.
Elfriede Trott, Jahrgang 1916, 36 Jahre alt, Bäckereiverkäuferin, wohnhaft Riemannstraße
So, Fräulein Clara, setzen Sie sich dort aufs Sofa. Muss eine anstrengende Reise für Sie gewesen sein. Amerika ist schließlich weit weg. Die schlafen doch jetzt sogar, wo wir miteinander reden.
Was hat Sie denn hierher verschlagen in unsere alte Residenzstadt? Das Schloss? Das ist wirklich wunderschön.
Ach, Sie möchten wissen, was in den letzten Tagen des Krieges passiert ist. Sie schreiben für eine Zeitung? Für die New York Times? Donnerwetter, und da wollen die da drüben auf der anderen Seite des Ozeans hören, was in Celle los war. Haben die etwa ein schlechtes Gewissen?
Der 8. April 1945 – Mädchen, das sind Tage, die alle vergessen wollen. Wir hatten genug auszustehen nach dem Krieg. Das wollte zum Ende keiner mehr haben. Das müssen Sie mir glauben.
Nein, es gab hier nicht viele Nazis. Ich weiß nicht, wer Ihnen das erzählt hat. Die Ida? Stimmt, die ist rüber nach Amerika. Das ist schon ewig her. Die weiß gar nicht, was hier los war, was das zum Schluss für ein Elend war.
Wollen Sie noch eine Tasse Kaffee? Echter Bohnenkaffee ist das, den habe ich gerade aufgebrüht.
Der 8. April 1945 – war das nicht ein Sonntag? Ja, richtig, jetzt erinnere ich mich. Herrliches Wetter, der Himmel ganz |80|blau und strahlender Sonnenschein. Morgens war es kühl, aber der Frühling kam mit Macht, die Luft erwärmte sich schnell. Es lag ein besonderer Duft über allem, die Vögel zwitscherten. Amseln, Drosseln. Alles erwachte nach dem Winter. An der Aller wuchsen die ersten Butterblumen, überall leuchteten die Forsythien.
Am Sonntagvormittag fuhr ich mit dem Fahrrad ins Zentrum. Es hieß, das Proviantlager wird aufgelöst, es sollte Sonderrationen geben, damit sie nicht in die Hände des Feindes fallen. Nicht mehr lange und er würde vor den Toren der Stadt stehen.
Schon früh waren alle auf den Beinen und versuchten, Lebensmittel zu ergattern. Vor den Geschäften bildeten sich Schlangen. Ich selbst stand ewig in der Zöllnerstraße an. Mein Mann hatte keine Zeit, mitzukommen, der arbeitete ja als Bäckermeister in der Keksfabrik. Der war verantwortlich für die Bärentatzen, aber in jenen Tagen wurde nicht mehr viel gebacken. Da wurden nur die Lebensmittelbestände gesichert. Vor den Plünderern und dem Feind. Gucken Sie mich nicht so an. Das hieß damals Feind und nicht Befreier.
Als die Sirenen heulten, kurz bevor die amerikanischen Kampfbomber am Himmel auftauchten, war ich unterwegs nach Hause, dick bepackte Taschen hingen an meinem Lenker. Ich fuhr so schnell wie noch nie in meinem Leben unter der Bahnunterführung durch. Da hatten sich etliche untergestellt. Ich bog links bei uns in die Riemannstraße ein. Überall flüchteten die Leute in die Häuser. Bunker gab es ja nicht. Nur Keller.
Das Summen der Bomber kam näher, wurde bedrohlicher. Es war, als wenn ein Schwarm riesiger Raubvögel auf uns zukäme, immer näher, immer dichter.
Zuhause bin ich gleich hinunter zum Keller gerast. Ich riss die |81|Tür auf, sprang hinein. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Mein Ältester, der Wilhelm, saß schon da und hatte meinen Kleinen in Sicherheit gebracht. Noch nie war ich so erleichtert. Ich habe vor Glück geheult. Wirklich wahr. Um uns tobte die Hölle und ich heulte vor Glück. Aber nicht lange. Dann ging die erste Bombe ganz bei uns in der Nähe mit einem ohrenbetäubenden Knall nieder. Panik stieg in mir hoch. Immer mehr Bomben fielen in unserem Viertel. Gesehen haben wir nichts. Wir hörten nur das Krachen und die Schreie. Mein Kleiner schrie die ganze Zeit, genau wie die Nachbarin. Nach ein paar Minuten ging das Licht aus und plötzlich war alles dunkel. Ich hab den Atem angehalten und gebetet. Das Haus wackelte, die Wände zitterten, Putz rieselte von den Mauern und Staub lag in der Luft. Die Kellerfensterscheiben platzten vom Druck der Bombenexplosionen, Mörtel bröckelte ab.
Als wir später aus dem Keller krochen, war die Stadt voller Rauch. Sirenen heulten, überall Schreie und Hilferufe. Die Brücke bei der Bahn war getroffen und die Leute, die sich dort untergestellt hatten, waren verschüttet. Schrecklich, diese Schmerzensschreie. Ich höre die heute noch manchmal im Schlaf.
Ja, Ihre Leute haben ganze Arbeit bei diesem Angriff geleistet, das muss man mal sagen. Dabei haben wir hier in Celle doch gar nichts gemacht. Überhaupt nichts. Hier waren nur Zivilisten.
Schmeckt der Kaffee? Der ist frisch geröstet. Von Huth am Großen Plan. Der war früher sogar Königlicher Hoflieferant. Möchten Sie noch eine Tasse? Bitte, die Milch, nehmen Sie!
Der Güterbahnhof selbst bekam einiges ab. Natürlich. Der ist ja gleich dahinten. Wenn Sie aus dem Fenster gucken, können Sie die Gleise sehen.
|82|Ja, Züge wurden auch getroffen. Wieso fragen Sie immer danach?
Mag sein, dass ein Transport mit Menschen dabei war. Irgendwelche Zuchthäusler. Darüber weiß ich nichts Genaueres. Ich muss jetzt in die Küche. Das Mittagessen kochen. Mein Mann kommt gleich nach Hause.
26
Der grüne Nissan ruckelt über den holperigen Feldweg. Kevin sitzt neben Matusch und dreht sich immer wieder um. Felix liegt geknebelt und mit Kabelbindern gefesselt auf der Ladefläche, über ihm ist eine muffig riechende Decke ausgebreitet. Bei jedem Schlagloch hüpft er ein paar Zentimeter hoch und rollt zur Seite. Der Weg führt immer tiefer ins Moor, rechts und links flankiert von schmalen, jetzt trocken gefallenen Entwässerungsgräben. Birken und Eichen, wohin das Auge schaut, dazwischen Heidekraut, ab