Tödliche Offenbarung. Cornelia Kuhnert
Mittenwald unbedingt danach fragen. Das Gedächtnis ihres Chefredakteurs ist im Gegensatz zu ihrem phänomenal.
19
Verdeckt von Wacholderbüschen schleicht Felix sich noch dichter an das Haus heran. Plötzlich wird das Vogelgezwitscher durch die Geräusche eines herannahenden Fahrzeugs übertönt. Felix drückt sich tiefer in den Busch. Lange, spitze Dornen bohren sich in seine Schulter. Die Stiche der Schlehe bluten bereits, als der schwarze Mercedes in sein Sichtfeld kommt.
Felix versucht einen Blick ins Innere des vorbeifahrenden Autos zu erhaschen, doch die Scheiben sind verspiegelt. Er robbt noch dichter ans Haus heran. Geduckt bleibt er schließlich liegen und lauscht.
|62|Der Straßenbelag, über den das Fahrzeug im Schritttempo fährt, hat gewechselt. Kies knirscht jetzt unter den Reifen des langsam dahinrollenden Autos. Das Geräusch wird lauter. Jetzt muss das Auto gleich am Haus sein – und richtig, der Mercedes bremst. Felix geht für einen Moment aus der Deckung. Die Limousine parkt direkt vor der Eingangstür des ehemaligen Landschulheims.
Felix duckt sich wieder. Als er hört, wie der Motor ausgeschaltet wird, wagt er sich erneut mit dem Kopf aus dem Gebüsch heraus. Er sieht den Blonden mit der 18 auf dem Rücken die hintere Wagentür öffnen. Kaum lässt der den Türgriff los, schlägt er die Hacken seiner Füße zusammen. Mit nach vorn ausgestrecktem Arm grüßt er: »Heil Hitler.«
»Lass das. Das möchte ich nicht«, hört Felix eine feste sonore Männerstimme daraufhin sagen.
Felix hebt die Kamera. Im Sucher seiner Digitalkamera sieht er kräftige Beine in grauer Anzughose. Schließlich schiebt sich ein gewaltiger Bauch aus dem Auto. Felix zoomt so dicht heran wie möglich. Der Kopf erinnert ihn von der Seite an einen Raubvogel. Die Nase hat einen ausgeprägten Höcker. Immer wieder drückt Felix auf den Auslöser. Vor Aufregung hat Felix einen ganz trockenen Mund. Los, dreh dich um, damit ich dich von vorne bekomme. Felix’ Wunsch erfüllt sich fast augenblicklich. Der Mann bewegt sich, allerdings in die falsche Richtung. Außer dem breiten Rücken und dem kahlen Hinterkopf ist nichts von ihm zusehen.
»Abgelegen hier«, raunzt der Besucher jemandem zu, der außerhalb von Felix’ Sichtfeld steht.
»Das soll auch so sein, mein Lieber. Herzlich willkommen in unserem neuen Schulungszentrum.«
|63|Die tiefe Stimme scheint aus dem Nichts zu kommen. Für einen kurzen Moment schiebt Felix seinen Kopf aus der Deckung. Ein großer, schlanker Mann mit spitzer Nase und Schnauzer im grauen Zweireiher. Das hätte er sich auch gleich denken können, geht es Felix durch den Kopf. Wörstein.
Felix reckt seinen Kopf noch ein wenig höher. Er sieht, wie der hoch gewachsene Anwalt seinem Gast auf die Schulter klopft.
»Prima Objekt. Niemand kann sich dem Haus nähern, ohne dass wir es bemerken.«
Felix grinst und drückt wieder auf den Auslöser der Kamera.
»Du wirst dich noch wundern, wenn die Bilder im Netz sind«, murmelt er. Jetzt fehlt nur noch das Foto von dem Dicken. Von hinten hat er ihn schon, von der Seite auch, fehlt nur von vorne. Felix wartet. Das Gesicht des Besuchers ist immer noch verdeckt. Nur Wörsteins spitze Nase und der Schnauzer sind gut zu erkennen. Jetzt! Felix atmet tief ein. Tatsächlich, der Dicke dreht sich um.
Felix drückt auf den Auslöser. Nichts. Scheiße. Der Chip seines Fotoapparates ist voll. Verdammt! Immer wenn es wichtig wird, fallen die Geräte aus. Zum Glück hat er einen zweiten Speicherchip dabei.
Felix hört Türen schlagen, während er fieberhaft an seinem Fotoapparat hantiert. Gerade ist der Apparat wieder betriebsbereit, als ein Zweig hinter ihm knackt. Felix kann aus dem Augenwinkel noch sehen, wie ein Baseballschläger auf ihn niedersaust, dann landet er mit dem Kopf im Schlehengebüsch.
|64|20
Als Martha die Tür ihres Fachwerkhauses aufschließt, wartet der kleine schwarze Kater mit dem dreieckigen Fleck auf der Brust schon auf sie und maunzt fordernd. Sie streichelt ihm über den Nacken und streut Trockenfutter in die Schale.
»Na, du kleiner Herumtreiber, wo warst du denn?«
Das Tier beachtet sie nicht weiter, sondern steuert direkt auf den Fressnapf zu und stellt sich breitbeinig davor, damit niemand auf die Idee kommt, ihm das Futter streitig zu machen.
Kater sind manchmal wie Männer. Kommen und gehen wie sie wollen. Sofort denkt Martha an Max. Aber bevor der Gedanke an ihn sich richtig breit machen kann, schiebt sich das Bild von Paul vor ihr inneres Auge. Paul. Jetzt ist er schon über zwei Jahre tot. Ein tiefer Seufzer entweicht ihr. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Schon gar nicht sie.
Kaum im Haus, kontrolliert Martha ihr Handy und den Anrufbeantworter. Drei Anrufe in Abwesenheit auf dem Mobiltelefon, zwei auf dem Festnetzanschluss. Max Beckmann. Seit er in Hannover wohnt, ruft er ständig an, macht auf Sehnsucht und redet von Gefühlen. Immer das Gleiche. Noch vor zwei Monaten hätte er alles haben können, aber da hat es ihm nicht gereicht. Da hatte er Angst vor zu großer Nähe. Das hört sich immer gut an. Nähe! Und was war’s? Eines Abends stand diese Vanessa im Dorfkrug, umschlang ihn und begrüßte ihn mit einem Kuss auf den Mund. Einem langen Kuss.
Martha hat es in diesem Moment den Boden unter den |65|Füßen weggezogen. Was hätte sie tun sollen? Lächeln und sich vorstellen? Gestatten: Mein Name ist Martha Landeck. Eigentlich habe ich Max letzte Woche gefragt, ob er mit mir zusammenziehen will. Aber das hat sich ja jetzt wohl erledigt.
Natürlich ist Martha gegangen, ohne etwas zu sagen, ohne Abschiedswort und ohne sich noch einmal umzudrehen. Noch nie hat jemand sie so tief in der Öffentlichkeit verletzt und gedemütigt. Wenn man Schluss machen will, geht das auch anders. Da sollte man auch auf die Gefühle der anderen Rücksicht nehmen.
Was redet sie da? Sie hat es gerade nötig, zu moralisieren. Paul würde noch leben, wenn sie nicht gemeint hätte, ihre neue Liebe ausleben zu müssen. Der Elefant im Glashaus der Gefühle ist sie. Da kann auch ihr erster Ex-Mann noch ein Lied von singen. Bis heute hat er nicht verstanden, dass sie ihn verlassen hat, weil die Beziehung sie gelangweilt hat. Verlassen werden. Genau das ist es. Vielleicht schmerzt sie die Trennung von Max deswegen. Zum ersten Mal hat ein Mann sie verlassen.
Martha streichelt die Katze, die sich an ihrer Wade reibt. Soll Max sich doch mit seiner Vanessa vergnügen. Er hätte sich nur nicht unbedingt eine Frau aussuchen müssen, die fast seine Tochter sein könnte.
Das Telefon klingelt erneut. Martha wirft einen Blick aufs Display: Schon wieder er. Sie zögert, lässt es noch einmal klingeln, dann nimmt sie das Gespräch an.
»Martha, endlich …«
»…«
» … Wie geht es dir? Ich wollte so gerne deine Stimme hören.«
»…«
|66|»Sag doch etwas!«
Das hättest du alles haben können, du Blödmann. Tag und Nacht. Groll steigt in ihr hoch.
»Wie soll es mir gehen?« Sie überlegt einen Moment, dann bricht es aus ihr heraus. »Beschissen geht es mir. Trixi hat vorhin eine Leiche entdeckt, Borgfeld und Streuwald wuseln im Golfclub herum …« Diese weit aufgerissenen Augen, der offene Mund … Martha schluchzt noch lauter, als sie daran denkt.
Beckmann hat mit allem gerechnet, aber nicht mit einem solchen Ausbruch. Beschissen, Leiche, Trixi. Seine alten Kollegen Borgfeld und Streuwald. In was ist Martha jetzt schon wieder hineingeraten?
»Was ist … was ist passiert?«, stammelt er mehr, als dass er redet.
»Das weiß ich doch nicht. Nach dem Golftraining … Trixis Tasche ist umgefallen, die Bälle rollten raus und …« Reiß dich zusammen Martha, lass dich nicht so gehen. Erzähl in vernünftigen Worten, was passiert ist. Los! Ihre Stimmlage ist eine Nuance schriller als sonst, als sie sagt: »… da hat sie den Toten gefunden.«
»Und dann?«
Was ist das für eine blöde Frage? Kann