Standort Bananenrepublik. Hans Christoph Buch
Harbor oder in Dien Bien Phu. Neuerdings haben die Kritiker des Eurozentrismus das Präfix post auf ihr Banner gestickt; Postkolonialismus heißt das Stichwort, das – nach Posthistoire und Deconstruction – derzeit von amerikanischen auf deutsche Universitäten übergreift: Nicht im Kernbereich von Politik und Ökonomie, sondern an den weichen Rändern der sogenannten Kulturwissenschaften, die an die Stelle traditioneller Fächer wie Anglistik und Romanistik getreten sind. Fünfzig Jahre nach Beginn der Entkolonisierung kehrt die Kolonialherrschaft auf die Tagesordnung zurück – nicht als Tragödie, sondern als Farce: Eine akademische Mode, die außer den politisch korrekten Ansichten ihrer Urheber nichts beweist und keinerlei konkreten Bezug hat zu den Realitäten der Dritten Welt, auf die man sich ständig beruft. Wenn das Unwort Moralkeule einen Sinn hat, dann hier: Der Hinweis auf das Elend in Afrika oder Lateinamerika dient Globalisierungsgegnern jeder Couleur – von Kirchen und Gewerkschaften bis zur PDS – als abrufbares Zitat, um abweichende Meinungen mundtot zu machen. Dahinter steht eine unkritische Verklärung des oder der Anderen, die sich zu ihrer theoretischen Rechtfertigung weniger auf Marx als auf Rousseaus Edle Wilde beruft – ein Produkt eben jener Aufklärung, die aus postkolonialer Sicht in den Mülleimer der Geschichte gehört.
»Der Anti-Eurozentrismus ist ein Ticket, mit dem man weit kommt«, sagte mir kürzlich eine aus Indien stammende Literaturprofessorin, die ihre Vorträge mit dem Hinweis zu eröffnen pflegt, sie sei doppelt marginalisiert: Als Frau und als Inderin, die von einer Amme aus der Unterschicht aufgezogen wurde und deren Kultur mit der Muttermilch aufgesogen habe. Daß sie aus einer Brahmanenfamilie stammt, an amerikanischen Ivy League-Universitäten lehrt und für ihre Auftritte vierstellige Honorare verlangt, kam in ihrer geschönten Selbstdarstellung nicht vor. Stattdessen riet sie mir, mich als weißer Neger zu verkaufen, weil meine Großmutter Haitianerin war. Wie weit man mit diesem Ticket reisen kann, zeigte der Erfolg des künstlerischen Leiters der vorletzten Documenta, Okwui Enwezor, der Europas Schuldgefühle gegenüber der Dritten Welt professionell zu vermarkten verstand. Obwohl Besuchern auffiel, daß ein Abgrund klaffte zwischen der Qualität der in Kassel gezeigten Kunst und deren ideologischem Anspruch, die Welt aus den Angeln zu heben, traute sich niemand, sein Unbehagen zu artikulieren, weil Okwui Enwezor als aus Nigeria stammender Afrikaner unangreifbar schien und seinen Kritikern den Wind aus den Segeln nahm. Es wäre zynisch, wollte man ihm Ken Saro Wiwa als Beispiel entgegenhalten, der sein mutiges Eintreten für Menschenrechte und Ökologie mit dem Tod bezahlte: Nicht daß Okwui Enwezor in London und New York auf der sicheren Seite lebt, ist der Punkt, sondern daß und wie er sich als Vorkämpfer der Dritten Welt geriert. »Die Durchsetzung von Bürgerrechten, die Anerkennung von Differenzen, die Propagierung von Toleranz und Respekt im sogenannten Multikulturalismus – das sind alles westliche Konzepte«, schreibt Bazon Brock: »Warum tut Enwezor so, als würde er mit einem Begriffsapparat antreten, der sich aus der Universale der Weltmenschheit ableitet?«
Damit nicht alles falsch wird, muß ich spätestens hier eine Einschränkung machen. Es ist richtig und notwendig, die eurozentrische Borniertheit zu überwinden und die Dritte Welt in den Blick zu nehmen, nicht als bloße Spiegelung der reichen Länder des Nordens, sondern als deren Infragestellung – je grundsätzlicher, desto besser. Dabei geht es weniger um die quantitative Erweiterung des Gesichtsfelds im Sinne einer pittoresken Multikulturalität als vielmehr um die qualitative Frage, wer wen von welchem Standpunkt aus betrachtet. Doch die Kritik des imperialen Blicks, der sich zu Unrecht als Zentralperspektive ausgibt, ist nur dann überzeugend, wenn sie mit logisch stringenten Argumenten operiert und nicht mit ideologischen Klischees, die selbst europäischer Herkunft sind. So ist – um bei der Documenta zu bleiben – ein Happening noch keine Negation der etablierten Moderne, bloß weil es in Kuba oder in Brasilien stattfindet, zwei Ländern, die ebenso vom Einfluß Europas und der USA geprägt sind wie die Kunstform des Happenings, das als abgesunkenes Kulturgut längst zum Mainstream der westlichen Gesellschaft gehört. Ein theoretischer Diskurs, der diesen Widerspruch nicht reflektiert, ist nicht auf der Höhe seines Gegenstands, denn Europa hat ja nicht nur Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus hervorgebracht, sondern auch deren konsequente Kritik: Von der Proklamation der Menschenrechte bis zur Abschaffung der Sklaverei, und von der französischen bis zur russischen und chinesischen Revolution, die selbst in ihren radikalsten Ausprägungen noch von europäischen Vorbildern geprägt war. Die sozialromantische Glorifizierung der Dritten Welt als Subjekt und Objekt der Revolution geht ebenso auf Ideen der Aufklärung zurück wie die Herabstufung der Anderen zu Untermenschen und blutrünstigen Bestien, die bei der antisemitischen Propaganda der Nazis Pate stand. Bei Licht betrachtet, sind die Klischees von rechts und links gar nicht so weit voneinander entfernt, denn Europa war und ist der einzige Kontinent, der sich permanent selbst kritisiert und seine zivilisatorischen Errungenschaften von innen heraus in Frage stellt, was man von anderen, ethnozentrisch geprägten Kulturen so nicht behaupten kann: Man denke nur an China, Japan oder die arabische Welt.
Der Erkenntnisgewinn der postkolonialen Theorie liegt weniger in dem, was sie über die Dritte Welt zu sagen hat, als im Studium der Rückwirkungen von Kolonialismus und Imperialismus auf deren Ursprungsländer, also um die Frage, wie die Wahrnehmung der Anderen die Selbstbilder Europas und der USA beeinflußt hat. Auch das ist nicht neu, denn der Mechanismus der Projektion, die mehr über den Absender aussagt als über den Adressaten, ist aus der Freudschen Psychoanalyse seit langem bekannt. Umgekehrt ist die Heiligsprechung der Dritten Welt, gekoppelt mit der Illusion, diese habe vor der Kolonisierung im Stande der Unschuld gelebt, nicht weniger reaktionär als ihr Gegenteil, der Dünkel des Westens, fremden Kulturen nicht bloß technisch, sondern auch moralisch überlegen zu sein.
Eine Probe aufs Exempel liefert das kürzlich im Campus Verlag erschienene Buch Jenseits des Eurozentrismus – Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, das wichtige Vertreter dieser Denkrichtung vor allem aus angelsächsischen Ländern zu Wort kommen läßt. Schon die Namen der Herausgeber Sebastian Conrad und Shalini Randeria sind Programm; die Kritiker des Postkolonialismus treten gerne im Doppelpack auf, wobei erst die exotische Provenienz dem Ganzen das richtige Flair verleiht. Abgesehen von Platitüden wie: »Orientreisende sahen sich als Menschen, die in den Osten selbst in seiner tatsächlichen Realität fuhren«, oder »daß die englische Kolonialgeschichte nicht lediglich in Übersee, sondern gleichermaßen auf den britischen Inseln stattfand«, sind die meisten Beiträge des Bandes sehr lesenswert und vermitteln einen guten Überblick über den Stand der postkolonialen Theorie. So ist der von John L. und Jean Comaroff durchgeführte Vergleich zwischen den Armenvierteln Londons im 19. Jahrhundert und den Wohnverhältnissen in Betschuanaland zwar zutreffend, weil in beiden Fällen Licht und Hygiene, verkörpert von Bibel und Einfamilienhaus, als Allheilmittel empfohlen wurden, aber keineswegs neu: Schon die Abolitionisten des 18. Jahrhunderts zogen Parallelen zwischen dem sozialen Elend in den Metropolen und der Sklaverei in den Kolonien. Und es ist nicht nachzuvollziehen, warum die Missionsarbeit in Afrika postkolonialen Kritikern peinlich und lächerlich erscheint, bloß weil der Unterschied zwischen différence und différance (Derrida) Missionaren des 19. Jahrhunderts nicht geläufig war.
Hier zeigt sich einmal mehr eine fatale Tendenz zur Verabsolutierung der Dritten Welt, die ansonsten brauchbare Einsichten konterkariert, etwa wenn Dipesh Chakrabarty eine britische Impfkampagne in Indien als koloniale Vergewaltigung interpretiert – was wiederum nicht heißen soll, daß das zum Fetisch erklärte westliche Entwicklungsmodell über jede Kritik erhaben sei. Der Gipfel der Absurdität aber ist Steven Feiermans idyllische Sicht des vorkolonialen Afrika, die lokale Formen der Knechtschaft und Sklaverei zur Folklore bagatellisiert und gleichzeitig die Völkermorde in Ruanda und Biafra mit Schweigen übergeht, obwohl der Text die Kulturen der westfrafrikanischen Igbo und der ostafrikanischen Tutsi thematisiert – so als blende eine Darstellung des Zweiten Weltkriegs die Judenvernichtung aus. Gegen diese Gefahr ist Sheldon Pollocks Analyse der Indologie im nationalsozialistischen Staat gefeit, doch insgesamt ist die Faktenbasis zu schmal, um den überzogenen Anspruch zu rechtfertigen, der postkoloniale Diskurs sei mehr als eine selbstreferenzielle Theorie und akademisches l’art pour l’art.
Literaturhinweise
Okwui Enwezor, Carlos Basualdo u. a. (Hg.): Democracy Unrealized, Documenta 11-Platform 1; Experiments with Truth, Documenta 11-Platform 2, Jeweils ca. 400 Seiten, Hatje