Kunstmord. Petra A. Bauer
grinste. «Maln!»
«Na, dann los!»
Vorsichtig setzte sie den Stift in die Mitte des Papiers und zog eine krakelige Linie. «Tatze!»
Victor nahm ihre Hand in seine. «Schau, da fehlt noch der Kopf!»
Gemeinsam malten sie einen Kreis an ein Ende der Linie.
«Und die Beine. Eins, zwei, drei … und vier, siehst du?» Die Kleine kicherte und rief fordernd: «Wanz!»
«Stimmt, du hast vollkommen recht. Was wäre eine Katze ohne Schwanz?» Schwungvoll führte er ihre Hand, bis ein verschnörkelter Katzenschwanz am anderen Ende der krakeligen Linie entstanden war.
Die Kleine lachte wieder, bis ein ohrenbetäubender Schrei durch den Park gellte: «Helga! Um Gottes willen!»
Eine junge Frau in taubenblauem wadenlangem Kleid rannte quer durch den Sandkasten, ungeachtet dessen, dass ihre Schleifenpumps dafür nicht geeignet waren. «Lassen Sie sofort mein Kind in Ruhe!»
Von ihren Rufen alarmiert, folgten drei weitere Mütter mit wehenden Röcken wie ein Haufen aufgescheuchter Hühner. Sie begannen auch sofort zu gackern: «Schämen Sie sich denn überhaupt nicht?»
«Wer weiß, was er dem Kind angetan hätte, wenn wir nicht rechtzeitig gekommen wären!»
Die Mutter riss das Kind von Victors Schoß. Der Zeichenblock fiel zu Boden.
Die Kleine fing an zu weinen, und die Mutter redete auf sie ein: «Helga, wie oft habe ich dir schon gesagt, du darfst nicht mit bösen Onkels mitgehen!»
«Nicht auszudenken, was hätte passieren können!», mischte sich eine der anderen Mütter mit hochrotem Kopf ein.
«Vielleicht passen Sie beim nächsten Mal ja besser auf Ihr Kind auf!», gab Victor trotzig zurück. «Ich verstehe überhaupt nicht, weshalb Sie so ein Geschrei veranstalten. Ich bin Künstler! Die Kleine hat mir beim Zeichnen zugeschaut, und dann wollte sie selbst eine Katze malen – sehen Sie?»
Victor hob den Block auf und zeigte den aufgebrachten Frauen, was die kleine Helga mit seiner Hilfe gezeichnet hatte.
Doch die Frauen ließen sich nicht beruhigen. «Ja, so fängt es immer an! Und als Nächstes hätten Sie gesagt: ‹Ich habe ein kleines Kätzchen zu Hause. Magst du es dir ansehen?› Und dann hätten Sie wer weiß was mit dem armen Ding gemacht. Wir wissen, wie so was läuft!»
«Ach, ist das so? Wie vergiftet muss Ihr Gemüt sein, wenn Sie stets nur das Schlimmste annehmen? Wenn ich als Kind den Künstlern zugeschaut habe, dann haben sie mir nur gezeigt, wie sie malen. Hätte mich jedes Mal jemand weggezerrt, so wäre ich heute Lagerarbeiter oder Straßenbahnschaffner!»
Nun hatte auch Victor einen roten Kopf bekommen. Es kam nicht häufig vor, dass er sich aufregte, weil er sich normalerweise von Menschen fernhielt, so gut dies in seinem Beruf eben ging. Das war das Schöne an Kindern: Sie machten kein großes Geschrei um selbstverständliche Dinge.
Doch die Frauen hörten ihm nicht zu. «Wir sollten die Polizei rufen! Wer weiß, wie viele unschuldige Kinder ihm schon zum Opfer gefallen sind! Stand da nicht kürzlich etwas in der Zeitung?»
Zeit, den Rückzug anzutreten, dachte Victor und raffte seine Zeichenutensilien zusammen. Das Krakelbild wollte er der kleinen Helga schenken, doch die Mutter schlug es ihm aus der Hand.
«Meine Tochter wird nichts von einem Perversen annehmen!» Da drehte Victor sich um und ging, während die Frauen hinter ihm sich nicht einigen konnten, was nun als Nächstes zu tun sei. Er hörte ihr Gezeter noch, als er längst die Hasenheide verlassen hatte.
Als er seine Dachkammer in der Steinmetzstraße betrat, atmete er erst einmal tief durch, um sich wieder zu beruhigen. Der Raum war nur kärglich eingerichtet. Unter der Dachschräge stand sein Bett. An einem winzigen Tischchen daneben pflegte er sein Essen einzunehmen, das er in einer Kochnische neben der Tür zubereitete. Ein breiterer Holztisch an der gegenüberliegenden Wand war im hinteren Bereich vollgestellt mit Farben, Wassergläsern, Pinseln, Terpentin. Der Tisch war über und über mit Farbklecksen bedeckt. Daneben, genau unter dem Dachfenster, stand eine hölzerne Staffelei mit einem unvollendeten Ölbild. Es zeigte einen kleinen Jungen, der in die Betrachtung eines Schmetterlings auf seiner Patschhand versunken war. Victor wollte später noch mehr Tiefe in den Hintergrund bringen, einige Lichtpunkte und dunklere Bereiche hinzufügen.
Damit war die Kammer auch schon voll, doch das störte ihn nicht. Hier war seine Zuflucht. Wenn er die Tür hinter sich schloss, war er sicher vor hysterischen Müttern und anderen Unbilden.
Was war das nur für eine Welt? Damals, am Montmartre, hatte niemand etwas dagegen gehabt, wenn er die Künstler beobachtete und wenn diese ihm etwas erklärten. Er hatte dabeigestanden, den Kopf in den Nacken gelegt und ihnen ins Gesicht gesehen. So konzentriert sahen sie aus und gleichzeitig zufrieden mit sich und der Welt. Er konnte ihre Nasenhaare sehen und die Falten um die Augen, die sich vom vielen Zukneifen beim Betrachten ihrer Kunst gebildet hatten.
Natürlich hatten ihn auch die Bilder fasziniert, damals, als er mit seinem Vater Paris besucht hatte, doch noch mehr hatte ihn die Mimik der Künstler beeindruckt. Ihr Anblick hatte sich ihm so tief ins Gedächtnis gebrannt, dass viele seiner Motive noch heute die Künstler vom Montmartre waren.
Victor ging zum großen Tisch hinüber und betrachtete die Zeichnungen, die er an diesem Tag angefertigt hatte. Er strich sich durch das Haar, wie um es zu glätten, doch die dunklen Wellen widerstanden dem Versuch. Einige Studien hatte er fertig, doch sie überzeugten ihn nicht recht. Kein Motiv war dabei, das er für würdig befunden hätte, auf einer großen Leinwand verewigt zu werden.
Es gab sie häufig, diese mittelmäßigen Tage, an denen nichts recht glücken wollte, an denen der Funke nicht übersprang. Umso glückseliger tauchte er in das Gefühl ein, das ihn dann und wann übermannte, wenn er merkte, dass das Bild, das er begonnen hatte, ein ganz besonderes zu werden versprach – was es dann meist auch wurde.
Doch was nützten all seine Bemühungen, wenn nur eine Handvoll Menschen diese Bilder je zu sehen bekamen? Die Zeiten waren schlecht, und er hatte kaum Ausstellungen. Von der Berliner Künstlerszene hielt er sich fern, denn er hielt diese Leute für arrogant und aufgeblasen. Er war allenfalls mal auf Sichtweite an einen von ihnen herangekommen, und das genügte ihm völlig. Er hatte nichts mit ihnen gemeinsam, das glaubte er auch aus der Entfernung zu erkennen.
Er, Victor Reimer, war stolz darauf, dass er niemals eine Kunstschule von innen gesehen hatte. Alles, was er konnte, hatte er sich selbst beigebracht. Sein Vater hatte ihn, als er nicht einmal sechzehn war, dazu gedrängt, eine Lehre als Lagerverwalter bei Opel in der Bessemerstraße zu machen, der Firma, in der er selbst als Einkäufer arbeitete. Victor wäre gerne weiter zur Schule gegangen, doch der Vater hatte darauf bestanden, dass er endlich Geld verdiente. Als Lehrling bekam er zwar nicht viel, aber doch genug, damit der Vater beruhigt war. Immerzu machte er sich Sorgen. Victor hatte ihn damals zu einem Freund sagen hören: «Was soll denn aus dem Jungen werden, wenn mir etwas zustößt? Sie schicken ihn ins Waisenhaus, wenn er nicht für sich selbst sorgen kann!»
In ein Waisenhaus wollte er keinesfalls. Er hatte Oliver Twist gelesen, und die Vorstellung, für eine Woche in einen Kohlenkeller gesperrt zu werden, wenn man sich im Heim nicht den Anordnungen fügte, erfüllt ihn mit Angst. Also gab er widerwillig dem Drängen seines Vaters nach, verschob fortan Kisten und Kästen bei Opel und katalogisierte Waren.
Er hasste diese Arbeit. Für körperliche Anstrengung war er nicht geschaffen. Schon als Kind war er dürr, blass und kränklich gewesen, und das hatte sich auch später nicht geändert.
Andere Jungen in seinem Alter hatten schon früh richtige Muskeln. Berni von nebenan zum Beispiel. Der hatte Hände groß wie Teller, mit kräftigen Fingern. Victor war häufig damit in Berührung gekommen, denn Berni benötigte keinen Grund, um sich zu prügeln. Es genügte, wenn man schwach war und Victor Reimer hieß. Berni wäre hervorragend für das Kistenstapeln geeignet gewesen, zumal zu viel Hirn bei dieser Art von Arbeit eher hinderlich war.
Victor aber litt unter der Anstrengung,