Der Bomber (Kunibert Eder löst keinen Fall auf jeden Fall 1). Jan-Mikael Teuner
Eder ein ganz normaler, rechtschaffener Bürger, der seinem Job im örtlichen Supermarkt nachging und am liebsten in Ruhe gelassen werden wollte. Doch dazu kam er nicht. Das Leben hatte ständig andere Pläne mit ihm.
So sollte auch dieser Fall vollkommen unerwartet beginnen – mit der unverhofften Begegnung zweier auf den ersten Blick völlig harmloser Menschen auf einem dörflichen Fußballplatz. Und strenggenommen sollte es diesen Fall überhaupt nur geben, weil sich die Dinge entwickelt hatten, wie sie sich entwickelt hatten, und das setzte die Geburt von einem Dutzend anderer Menschen, die Gründung mehrerer Fußballvereine und die Dramatik ihrer aufeinanderprallenden Wünsche und Absichten voraus. Und diese Umstände, um es schlussendlich auf den Punkt zu bringen, hatten dafür gesorgt, dass Kunibert Eder auf dem Trainingsgelände des Männerturnvereins, kurz MTV, von Hennigsen stand und einer Horde kleiner Jungs dabei zusah, wie sie mit versuchter enger Ballführung um einige Slalomstangen herumstolperten. Das müsste viel schneller gehen, dachte Kunibert in diesem Augenblick, sagte aber nichts, denn hier beim MTV durfte man Kind sein und sich austoben, was im Mindesten auch für die Erwachsenen galt, fuhr er in Gedanken fort und strich sich die Spitzen seines Schnurrbarts zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand zusammen. KTV, überlegte er weiter, als Abkürzung für Kinderturnverein wäre wohl die bessere Vereinsbezeichnung gewesen.
Hier war alles friedlich. Nur in der Ferne – wenn man ganz genau lauschte – konnte man den Alltag mit seinen vorwärtstreibenden Motoren von der Bundesstraße hören, wie ein Motorrad durchs Dorf knallte oder sich ein Wagen auf der holprigen Feldstraße verlor und dem Fußballplatz näherte. Hier im Hennigser Herzen, wo die Blätter im Winde rauschten, die Vögel trillerten und die Kinder spielten, waren sich seine Eltern auf einem Dorffest zum ersten Mal in die Arme gefallen. Warum ihm das gerade jetzt in den Sinn kam, fragte sich Kunibert, während Autoreifen Schottersteine auf dem Vorplatz verdrängten und zwei Türen zuknallten. Kunibert drehte sich zur Seitenlinie um. Eine junge Frau mit einem kleinen Jungen an der Hand tauchte dort auf.
Das war ja allerhand, dachte Kunibert schon in diesem Moment und setzte sich in seinem gemütlichen Schaukelgang, bei dem sich abwechselnd seine linke und rechte Schulter dem Rasen näherte, in Bewegung. Das war ja allerhand, dachte er noch einmal. Allerhand war das.
Erste Halbzeit
Stell dir vor, der Anpfiff ertönt und du rennst einfach drauf los, wie ein Kind, ungehalten, frei, und du lässt dir und deinen Gedanken ihren Lauf.
Anstoß des Ganzen
»Kunibert«, sagte er leicht außer Atem, als sich ihre Hand in die seine legte und er sie schüttelte. »Kunibert Eder.« Das hatte nun sehr förmlich geklungen, dachte er. »Kuno!«, schob er schnell nach. »Meine Freunde nennen mich Kuno.«
Sehr erfreut, strahlten ihre dunklen Augen, und da hatte er sich auch schon verliebt.
»Annabelle«, ergänzte ihre Stimme. »Aber meine Freunde nennen mich AB.« Sie zuckte mit den Achseln, als könne man da nichts machen. Eybi, es spräche sich englisch aus, so wie der Geheimname einer Agentin, sagte sie und das gefiel Kunibert, denn ein wenig internationales Flair und der Reiz einer Undercover-Dame konnte dem Dorf nicht schaden. Und eine aus Lachgrübchen strahlende Augenweide, wie Annabelle es eine war, erst recht nicht.
»Lerche, Annabelle Lerche ist mein voller Name«, überwand sie den Moment der kunibertschen Sprachlosigkeit und zog hinter ihrem Rücken einen ungelenken Bengel in einem roten Trikot hervor. »Und das hier ist Hendrik. Er würde gerne mitspielen.« Sie deutete auf den Trainingsplatz, auf dem die meisten der Slalomstangen mittlerweile auf dem Boden verteilt lagen. Hendrik wirkte wenig euphorisch und vermittelte eher das Gegenteil von gerne mitspielen. Schnell nahm Kunibert seine Hand aus der Luft, denn die hatte er dort in seiner Aufregung ganz vergessen.
»Kein Problem, sag ich mal so«, sagte Kunibert mal so. »Ich habe das Kinderturnen, also Charly sagt das so, das Kinderturnen nur für ihn übernommen. Der kann heute nicht, musste seine Mutter nach Willerse zum Rommé fahren.«
Sie konnte nicht wissen, wer Charly war und dass Kunibert öfter für ihn einsprang. Trotzdem schaute sie ihn mit ihren großen Augen aufmerksam an, und wahrscheinlich strahlten auch seine, wie er nun von fast kindlich naiver Begeisterung übermannt wurde.
»Das ist sicher in seinem Sinne. Der MTV ist immer an jungen Talenten interessiert.« Kunibert versuchte, sein Bäuchlein unter seinem gelben Baumwollshirt einzuziehen. »Spiele selbst schon länger nicht mehr. Bin ja auch nicht mehr der Jüngste.« Über dreißig, wenn ihn nicht alles täuschte, aber damit wollte er es nicht so genau nehmen, dachte er oder hatte er gerade gesagt, da war er sich selbst nicht sicher. Verlegen strich er sich mit Daumen und Zeigefinger seinen Schnurrbart zusammen und fragte sich, warum er ihr das alles erzählte. Er war bekanntlich nicht der große Erzähler. Er machte lieber, aber auch davon nicht besonders viel.
»Dein Trikot ist schon mal erste Sahne«, wandte er sich an Hendrik. Erste Sahne, dachte er, wer sagte schon erste Sahne? Jedenfalls sei das rote Jersey, probierte es Kunibert nun auf moderne Redensart und in Englisch, das rote Jersey des SV Willerse eine ganz hervorragende Wahl, auch wenn es dem Jungen, so schwadronierte Kunibert weiter, offensichtlich noch zu groß sei. Da werde er hineinwachsen. Andreas »Krummi Krummfuß« Krummbiegel, der überragende Spielmacher des SV Willerse, habe schließlich auch nicht schon am ersten Tag solche exzellenten Stöße geschossen wie jetzt.
Annabelle nickte, Hendrik rang sich ein Lächeln ab.
»Zu blöd, dass Willerse wieder abgestiegen ist«, legte Kunibert nach und bedauerte, dass der große Nachbarverein inzwischen in der Bedeutungslosigkeit der zweiten Liga verschwunden war. Wie seinerzeit der SV Meppen war er nun eine Konstante im Fußball-Unterhaus.
Der SV Willerse, wenigstens diesen Gedanken wollte er zu Ende zu bringen, sei jedenfalls das Beste, was die Region jemals hervorgebracht habe. »Der Aufstieg in die Bundesliga ist mehr als ein Wunder gewesen. Und aus dir machen wir auch einen Krummfuß.« Kunibert klopfte Hendrik auf die Schulter.
Annabelle lächelte und strich sich mit der linken Hand eine braune Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Wie bezaubernd zart und klein ihre Hände doch waren. Und auch an der Ungeschüttelten trug sie keinen Ring am Finger, das fiel Kunibert gleich auf, denn er hatte ein Auge für solche Details. Details waren das A und O im Leben, denn sie waren die Zeichen, die einen führten. Sie würde ihn später abholen, hatte Annabelle da schon gesagt und sich zum Gehen umgewandt.
»Gegen halb sieben!«, rief Kunibert ihr nach. Vielleicht war sie geschieden? Aber einen Ring sollte man nicht wieder vom Finger nehmen, das war Kuniberts feste Überzeugung. Und einer solchen Frau schon mal gar nicht, schwärmte er weiter und beobachtete, wie ihre schulterlangen Haare im Takt ihres Schrittes davon wehten.
Sie ging rund, so rund wie es ihre Formen waren. Und nein, das verbiete er sich, ermahnte sich Kunibert. Wer legte ihm nur solche Gedanken in den Sinn? Vielmehr eleganten Schrittes und wahrhaft elfengleich schwebte Annabelle in Richtung ihres roten Kleinwagens davon.
»Marvin!«, rief Kunibert schnell, denn er wollte ein guter Jugendtrainer sein. »Marvin! Nimm auch mal den linken Fuß.« Eines Tages, stellte sich Kunibert vor, würde Marvin in einer Sportreportage von seinem einstigen Förderer berichten. Der Kuno Eder, würde dieser Weltstar dann sagen, habe ihn immer ermahnt, auch den linken Fuß zu nehmen.
»Ich bin nicht Marvin!«, rief der Kleine zurück.
Vom Parkplatz vernahm Kunibert das Stottern eines anspringenden Motors. Mit seiner kurzen Sporthose, die die Ansätze seiner weißen, untrainiert dicken Oberschenkel offenbarten, hatte er sicher keine Punkte sammeln können. Annabelle, dachte er, warum hatte er sie in Hennigsen noch nie gesehen? Sie hatte es ihm bestimmt gesagt, aber während er selbst geredet hatte, hatte er kaum zugehört. Oder hatte er selbst nur gedacht und gar nicht geredet? Sie kam sicher aus der Nähe, kombinierte Kunibert gewohnt treffsicher weiter. Hendrik, der kleine Junge in dem viel