Die Unworte. Horst Hartleib

Die Unworte - Horst Hartleib


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Folgetag waren die Spuren verschwunden. Ein jäher Wetterumschwung hatte Regen die Schneedecke über Nacht wegwaschen lassen. Solche mit böigem Wind gekoppelten Wetterumschwünge verursachen meistens Nervenflattern. Ich werde heute meinen Schnapsvorrat restlos auftrinken und ab morgen abstinent leben, nahm er sich zum ungezähltesten Mal vor. Langsame Abgewöhnung halte ich leider nicht durch.

      Er holte sein Werkzeug und die letzten zwei „Rohre“ aus dem Geräteschuppen und begab sich in das Grab. Ob das schon mein Grab ist, fragte er sich bestürzt und nahm schnell einen großen Schluck gegen die ernüchternde Nüchternheit. Ob ich mich gestern geirrt habe oder nicht ist eigentlich gleich. Auf meine UnSinne ist kein Verlass. Wie soll ich was wahr ist unterscheiden von dem was sie mir vorgaukeln? Am wahrscheinlichsten ist leider immer das Unangenehmste, was man ungeratenzu das Wahrheitskriterium nennen könnte. Er gehörte zu den feigen Selbstmördern auf (Un)Raten, die sich mit ihrem Suizid jahrzehntelang herum quälen. Aber die Aussicht, sich heute zwei „Rohre“ genehmigen zu können beruhigte ihn.

      Da hörte er ein vertrauliches „Gauf“, aber ein fremdes Gesicht erschien hinter dem ausgehobenen Erdhaufen. Ein grau gekleideter Fremder. Das ist er, der Grabpinkler, dachte Küttler sofort. Das ist der, den ich gestern weggehen gesehen habe!

      „Mit G’auf fällt mann hier am wenigsten auf“, sagte der Fremde. Als typischer Armeteier war der Küttler sehr maulfaul und ließ sich nicht so leicht ein Gespräch aufdrängen. Erst als der Fremde ihm eine Zigarette anbietet, kann er schwer ablehnen, weil er seine heute mitzunehmen vergessen hat. Rauchen verbindet. „Meine sei alle“ sagt der Totengräber als müsse er sich rechtfertigen. Der Fremde zeigt Verständnis für die Schwierigkeiten des Berufes. Er nuschelt ein wenig unter seinem grauen Bart, der Fremde. Da sind Sie sozusagen der letzte Bergmann im Dorf, Herr Küttler. Gegenfrage: Kennen wir uns?

      Als ob er wüsste, dass der Küttler noch immer hofft, eines Tages auf eine Silberader zu stoßen. Im Nachbarort habe man beim Ausheben einer Klogrube Silber gefunden und daraus sei ein großes Berggeschrei entstanden. Aber der Fremde interessiert sich offensichtlich für das Grab außerhalb der Friedhofsmauer. Obunwohl ihm das Thema sehr unangenehm war dachte Küttler, der Fremde werde sich durch seine Fragerei selbst verraten. Man muss ihm nur ganz minimalistisch maulfaul antworten und er wird mit seiner Fragerei verraten, wer er ist und was er will. „Gauff“, grüßt ein Vorbeigehender, „Gauuuf“ antwortet der Totengräber dumpf. Er schielt verstohlen nach seiner Grabvase. Hin und wieder dreht der Fremde eine kleine Runde um sich warm zu halten und dann (unbe)nimmt der Küttler schnell einen Schluck Schnaps aus der Grabvase.

      Ob er das Grab meine, auf das gestern jemand gepinkelt hätte? Der sollte eigentlich außerhalb des Friedhofes begraben werden, aber es besteht ja Friedhofszwang. Eigentlich hätte das Grab sogar nicht neben dem Friedhof sein dürfen. Das ist ja kein Tierfriedhof. „Wie das?“ Die Leute wollten es so. Es gab eine Einwohnerversammlung und die Mehrheit hat für ein Grab gestimmt. Es gibt den Leuten Sicherheit zu wissen, dass und wo der Teufel vergraben ist. Gräber sind ja nicht für die Toten sondern für die Lebenden. Es sind Geister- oder Ungeisterverbannungsorte, an denen man sich erinnern und vergewissern kann, dass jemand tot ist. Gottes Sohn ist aufunverstanden und der Leibhaftige, der Unterleibhaftige ist tot. „Dos wulln de Leit net wissn.“ Realität sei schrecklich, deshalb versuche man sie so weit wie möglich zu verdrängen. Der Mensch lüge nicht nur oft hunderte Male am Tag. Noch viel öfter belüge er sich selbst. Und wer wenig rede könne fast nur sich selbst belügen. Eine konservierte Missgeburtensammlung habe man dort damals begraben. Chimären, Bastarde zwischen Mensch und Tier, eingeweckt wie Kompott. Die Ergebnisse der gotteslästerlichen Unzuchten des Unseligen, die er wie zum Beweis gegen sich gesammelt hatte. Sein Folterkeller war eine Asservatenkammer der eigenen Untaten. Es sei das teuerste Grab, das er kenne. Das sei nicht in Handarbeit zu machen gewesen, daran hätte er Lichtjahre graben müssen. In diese Baugrube seien Armierungen verlegt worden, ein riesiges Stahlskelett, und dann alles mit Beton ausgegossen worden. Mehrere Fahrzeuge mussten dafür anrollen. Eine richtige Untotenburg oder ein Reaktor-Sarkophag für Abprodukte schizoider UngeistesKernspaltung. Sogar mit Gipsmarken, die rechtzeitig warnen, falls der Satan sich zu befreien versucht. Für die Leute selbstbelüge er da drin. Der unselige unterleibhaftige UnSchöne. Er, Küttler, wisse was nicht los ist. „Haste dir dein Kopf transplantiern lassn? Oder ne Unschönheitsoperation?“ Küttler warf ein mit Erde verklebtes Schlüsselbein über seine Schulter. „Dor Samehilfn Ott, hot ah viel ze drong gehobt sei Lebn lang.“ Ein Lügenfriedhof, ein Unfriedhof, da liegen die Lügen. Der Fremde hatte es plötzlich sehr eilig und verabschiedete sich hastig. Er vergaß sogar seine angebrochene Schachtel Zigaretten mitzunehmen. Den drückt was, eine Notdurft welcher Art auch immer, dachte der Küttler.

      Am (ver)folgenden Tag war der Mann wieder da. Ein (Be)Fremder. „G’auuuf!“, heulte er den Totengräber vertrauensselig an. Der war sehr schlechter Laune und bereute seine gestrige Schnapsidee heute kein „Frostschutzmittel“ mitzunehmen bereits sehr. Er hätte lieber nicht geantwortet, befürchtete aber, der Fremde könne nach seinen liegen gelassenen Zigaretten fragen, von denen nur noch die leere Schachtel übrig war. „Haben wir uns mal gekannt?“, fragt der Küttler doppeldeutig. „Nicht dass ich wüsste.“ „Es schneit un schneit wie nich gescheit!“ „Das könnte von Arthur Schramm stamm’. Einer der größten Dichter, die mir nich mehr ham.“ Seine perfekte Beherrschung des Dialektes von Grau, der in der Armetei bereits von Dorf zu Dorf winzige, nur für Einheimische bemerkbare Unterschiede aufweist, könnte eine verschlüsselte Antwort sein.

      Eigentlich eine geniale Idee, Ihre Entdeckung der Eignung der Grabvase als Schnapsglas. Das sollten Sie als Patent anmelden, lacht der Fremde. Als „Outdoor-Trink-Set“ ließe sich das vermarkten. Für im Freiland Untätige wie Angler; für Familienfeiern und Totengräber. Bei diesem Sauwetter tut es gut, sich ein wenig von innen aufzuwärmen. Bei diesen Worten holte er eine Flasche „Braunen“ aus seiner Manteltasche. Küttler hörte den angebrochenen Verschluss knacken und wusste, er würde der Einladung nicht widerstehen können. Der Fremde füllte zwei mit Schmelzwasser ausgespülte Grabvasen, behielt die eine in der Hand und steckte die andere in die Erde neben das Grab, in der Totengräber bis zur Brusthöhe stand und sagte „Wohl bekomms!“. Es gab mehrere Gründe darauf einzugehen. Einer davon war, Küttler wusste nüchtern würde er Unsinn reden. Der Befremdende offenbarte Insiderkenntnisse über das Handwerk der Totengräberei. Einer seiner Jugendfreunde sei Totengräber gewesen und habe ihm einiges erzählt. „Des einen Tod ist des anderen Brot“ gelte nicht nur für das Bestattungsgewerbe, das sei fast schon eine Binsen(un)weisheit. Man müsse das nüchtern betrachten, ohne Pietätsheuchelei. Es gäbe da zwei (Un)Arten der Totengräberei, das Eingraben und das Ausgraben. Sein Freund habe manchmal Schmuck gefunden und vertrunken. Das angeblich Unmenschliche sei das vielleicht Menschlichste. Und dann fragt er Küttler nach dem „UnterLeibhaftigen“ aus. Es war (k)ein mal ein ungewisser UnSchöne. Luzifer, der gefallene Engel. Das Grab eines tabuisierten talibanischen VerFührers, einer posthumen Unperson, eines ungewissen Osáma. Der Fremde bediente sich geschickt eines extrem blasphemischen Jargons von Platitüden, Sexismen und aller Unarten verbaler Tabubrüche, offenbar um den Gesprächspartner zu enthemmen und ebenfalls zur Übertretung von Tabugrenzen zu verleiten, zur Preisgabe des Unsäglichen. Zoten wurden von ihm mit einem Schnaps oder einer Zigarette belohnt. „Wir wolln uns doch nichts vormachen …“ „Wir wollen uns doch nicht in die Tasche lügen …“ Der fordert einen geradezu heraus, ihm „die Taschen voll zu haun“, dachte Küttler. Anfangs gab er nur sehr zögernd Auskunft, aber bald verselb(unan)ständigte sich ungewissermaßen seine Rede. Schließlich sagt er zusammenfassend etwa folgendes: Die Leiche der Unperson (der Unbenennbare, dessen Namen auszusprechen tabu ist) wurde nie gefunden. Seine Qualzuchten hätten ihn wahrscheinlich gefressen, weil er nur noch besoffen war und sie nicht mehr gefüttert hat. Nur seine blutgetränkten zerrissenen Klamotten seien übrig geblieben. Die Viecher, die ihn gefressen hätten, seien in der Abdeckerei gelandet und zu Seife verarbeitet worden. Die Leute waschen sich mit ihm, sagte der Totengräber vieldeutig und griente. Sie waschen ihre Hände in Unschuld. Er müsse wissen was im Grab liegt, sein Vorgänger habe doch das Loch geschaufelt und ihm alles erzählt. Wenig später korrigierte er sich, er habe als Anlernling dabei mitgeholfen. Aber Leute werden begraben, weil man einen Erinnerungsort haben will. Warum sollte man also eine Unperson begraben, fragte der Fremde. Die Leute haben den Wunsch an die Gemeinde


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