Die Unworte. Horst Hartleib

Die Unworte - Horst Hartleib


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sie dann auch bei Aufbietung aller medizinischen Künste inklusive Tropf und Herz-Lungen-Maschine nicht zu retten sind. Einige Naivlinge gehen nach Erhalt des Sterbebefehls zum Arzt, lassen sich in eine Klinik einliefern, aber nur, um bei dieser Ungelegenheit mitgeteilt zu bekommen, dass sie unheilbar krank sind. Nicht wenige der Verurteilten verfallen in eine sogenannte Depression und bringen sich um. Einige, so paradox das klingen mag, bringen sich vorbeugend um, um dem Gestorbenwerden auf Befehl zu entgehen, in der knallharten Logik, dass nur einem Toten der Sterbebefehl nichts anhaben kann. Es geht ihnen darum, die Entscheidung über das eigene (Ab)Leben zu behalten und sich durch keinen Sterbebefehl entmündigen und enteignen lassen zu müssen. Da werfen sie sich lieber selber weg, geben aus Furcht vor dem finalen Kontrollverlust die Selbstkontrolle auf. Der Sterbebefehl wirkt wie eine Behexung oder ein Woodoo-Zauber, aber zuverlässiger als diese, da der Betroffene sich nicht auf seine Unwissenheit berufen kann. Es ist wie eine Vertreibung aus dem Paradies. Die Kenntnis der Sterblichkeit durch Mitteilung bewirkt das Sterben. Der Glaube an den Sterbebefehl ist auch eine Art Religion. Manche selbstbetrügen sich damit zu behaupten, der Mensch sei unsterblich und da sie Menschen seien, ließe sich daraus auf ihre Unsterblichkeit (ver)rückschließen. Aber irgendwann werden auch sie eines Schlechteren belehrt. Der Fremde lächelte ungläubig. Und wenn jemand kein Medikament nimmt? Der Totengräber lächelt zurück. Dann nimmt er eine Überdosis Wasser, springt quasi in den Wasserüberfluß. Am schlimmsten sind die dran, die den Sterbebefehl zu ignorieren können glauben, die sich einreden, an so etwas nicht zu glauben. Die erleiden einen sehr langsamen, qualvollen UnTod. Deshalb lässt sich kaum je etwas nachweisen. Und wer dieses Geheimnis ausplaudert, der ist ein Nestbeschmutzer und Tabuverletzer, so wie ich jetzt. Außerdem ist der Sterbebefehl als Botschaft mehr oder weniger verschlüsselt. Nur wenn jemand ihn nicht begreift oder nicht begreifen will, wird er immer konkreter formuliert oder schließlich nachgeholfen. Zwar ist die Ignoranz langlebig, aber niemand kann sich dem Sterbediktat dauerhaft entziehen. Am wenigsten die, die früher selbst anderen den Sterbebefehl erteilt haben und seine vollstreckerische Wirksamkeit kennen. Beneidenswert sind die, die ihren Sterbebefehl widerspruchslos entgegen nehmen und anstandslos befolgen. Die aus der damit verbundenen Freiheit das Beste für sich machen. Die sich unsinnige aufbäumen und bejammern, tun sich damit keinen Gefallen. Die (Un)Gesellschaft ist eine Mafia und wer sich widersetzt und auflehnt, der erhält den Befehl. Und wer wie ich zu schwach ist, den Befehl an sich selbst zu vollstrecken, der provoziert noch stärker, um aus dem zu eng gewordenen Mantel Leben heraus geholfen zu bekommen. Sie haben mir heute „Sterbehilfe“ oder „Kumpeltod“ mitgebracht. Der Mit(un)mensch als dein Sterbehelfer. Er nahm die Zigarettenschachtel und las den aufgedruckten drögen Spruch vor: „Raucher sterben früher“. Eine findige Firma erwäge bereits die Geschäftsidee der Aufstellung von Sterbehilfe-Automaten, mit Lachgas und einschläferndem Kohlendioxid gefüllte Tötungsgläser mit nachgeschalteter Kühlzelle und Gefriertrocknungsanlage zu Mumifizierung. Vielmehr, er wolle sich diese Geschäftsidee patentieren lassen und suche nach einer Firma, sagt der Totengräber. Da antue sich ein großer, abgründiger, ungeratenzu bodenloser Markt auf. Wie Untote, wie Zombies, wie Schatten gespensterten die Sterbebefohlenen in der (ungeistigen) Armetei umher. Die potenziellen Rufmordopfer auf Abruf. Man erkenne sie an einer (un)scheinbar grundlos tief depressiven Grund(ver)stimmung, Traurigkeit und Antriebslosigkeit oder auch an übertriebener, der Unsittuation völlig unangemessener vermessener Lustigkeit. Allen gemeinsam ist eine in verschiedenster Weise zur Schau entstellte Selbstvernachlässigung. Sie waschen sich und ihre Kleidung nicht, können sich bald am Morgen nicht mehr zum Aufstehen und Anziehen entschließen. Jede Bewegung wird ihnen zu viel, selbst die Nahrungsaufnahme, das Trinken und irgendwann schließlich auch noch das Atemholen. In einer geringeren Anzahl der Fälle reagieren sie mit scheinbarem Hedonismus, verlieren (un)getreu dem Spruch des Paracelsus „allein die Dosis macht das Gift“ jegliches Maß, fressen oder saufen sich zu Tode, trinken in kürzester Zeit all das Wasser, das sie in ihnen noch verbleibenden Jahren noch trinken zu können sich berechtigt wähnten. Sie versuchten die Kubikmeter Wasser, von denen sie glaubten, dass sie ihnen in den nächsten Jahren noch zustünden, mit einem Mal auszutrinken, was man gemeinhin sich Ertränken nennt. Oder sie versuchen die für mehrere Lebensjahre beunnötigten unzumutmaßlichen Kubikhektometer Luft auf einmal auszuatmen. Ich will es an einigen Beispielen belegen, sagt der Totengräber, und weist auf ein Grab. Der hier hat geglaubt, es könne ihn retten, wenn er nicht an den Sterbebefehl glaubt. Auf die Mitteilung seines Sterbebefehls hat er mit großer Lustigkeit fehlreagiert. Er hat nur noch gefeiert und auf den Schutzengel der Betrunkenen vertraut. Der dort hat geglaubt, es könne ihn retten, wenn er mit dem Saufen aufhört und dabei ignoriert, dass der Entzug die stärkere Droge ist. Oder diese Frau hier ist der Schminksucht verfallen, hat geglaubt, ihre Falten mit Make up zuspachteln zu können. Hat sich in einer Schönheitsfarm liften und alles (Un)Mögliche (einschließlich Kopf) transplantieren lassen zu können, bis die allergischen Selbstabstoßungsreaktionen dieses patchwork-unartig zusammengestückelten Körpers nicht mehr zu unterdrücken war. Auf dem Grabstein müssten eigentlich, inklusive der Organspender, mehrere Dutzend Namen stehen. Viele Gräber haben versteckt ein drittes Datum, das der Mitteilung des Befehls. Das Datum hier ist nicht, wie Sie vermutlich vermuten, das Datum der Gewinnung des Grabstein-Rohlings, für den noch keine Bestellung vorliegt. Alle Tode sind unnatürlich. Man kann lediglich zwischen fahrlässig und bewusst herbeigeführten Toden und zwischen Morden und Selbstmorden unterscheiden. Natürlich gibt es keine natürlichen Tode. Aber das ist doch überall so. Dann wären ja alle Todesfälle Morde. Ja eben, aber das ist das Besagte Unaussprechliche. Der drogeninspirierte Totengräber orakelt, die Bösewichter von heute seien die zu(un)rechtgelogenen, mystifizierten Helden der Zukunft, während die zu Lebzeiten Verehrten in der Zukunft oft verteufelt oder verschwiegen würden. Beispiele für Erstere wären Störtebeker oder der Schinderhannes, beziehungsloser (un)weise für verletzenderes Vlad Dracul(a). Küttler schob sich einen aus Zeitungspapier gewickelten Bonbon in die Backentasche, ohne dem befremdeten Fremden einen anzubieten. Dabei blühte er auf wie ein Arsenik-gedopter Gaul. Um sich verschwinden zu lassen und als Gespenst, als Sage wiederzukehren, brauche es eines selbst ausentstellten (Un)Toten(an)scheins. Von unwegen Sage, als VerSage, als SelbstverStörtebeker (selbstver)übelwollte der UnSchöne wieder(ver)kehren. Die un(aus)sterbliche Versaga vom UnSchönen. Keine Leiche? Eine Ba(r)barossa-Legende, kalauern die Spötter. Der VerFührer lebt! Auch die Leichen anderer VerFührer wurden nie gefunden. Rattenkönige werden ungelegentlich gefunden, die Leichen der Rattenfänger nicht. Nicht Gefundenes ist der ideale (Ver)Roh(ungs)stoff für Erfundenes. Der Barbar lebt und wartete auf seine „historische UnSittuation“. Der ewige VerFührer ist unsterblich. Diese Selbstbetrüger reden sich ein, den Teufel begraben zu haben, ohne seine Leiche auch nur gesehen zu haben. Er schläft nur, der Krieg. Der Tod ruht sich aus. Oder dengelt die Sense, repariert den Rasenmäher, fährt die Schlachtlinie, das Blutausfließband an, repatriiert die Volksgenossen, (ent)setzt seine Schredder und Verbrennungsöfen in(unan)stand. Aber wer will das wissen? „Menschen-Frieden ist Krieg gegen Tiere.“ Viel(un)leicht sind wirr beide nur spaltungsverirrte Vorentstellungen der gleichen Unperson und wir albträumen úns „nur“ gegenseitig? Ich begrabe ja auch den Tod, sagt der Totengräber, aber er aufersteht offensichtlich immer wieder. Die Lebenden fortpflanzen den Tod. Mit dem letzten Lebewesen würde auch der Tod aussterben. „Ist aber der Satan auch mit sich uneinig, wie kann sein Reich bestehen?“, (ver)spricht Jesus. Vorsicht, sagte der befremdende Fremde und deckte die schnapsgefüllte Grabvase mit einem Schulterblatt ab, weil jemand vorbei kam. Könnte das nicht blasphemisch wirken. Könnte das nicht als gotteslästerlich hinentstellt werden. Könnte das kein Kündigungsgrund sein? Es hat verzweiflungslos ein Geschmäckle, wenn ein Totengräber mit „Glück auf“ grüßt. In der erdsgebirgischen Armetei ist „G’auf“ ein (un)rein männlicher Gruß von dessen Benutzung Frauen und Kinder ausgesperrt sind. Jeder Mann ist im ausgeerzten Erdsgebirge ein potenzieller Bergmann. Die einzige noch untertage tätliche (Un)Person im Ort ist der Totengräber. Wer hätte also mehr Recht auf „G’auf“ als der Totengräber? Wenn jemand in Grau beim Graben auf Silber stoßen sollte, dann der Totengräber. Der einzige noch real bergbaulich Tätliche ist der Totengräber. Aber der baut ganz schön ab. Alkoholismus ist eine Krankheit und Krankheit kein Kündigungsgrund. Um so weniger, wenn es sich um eine Berufskrankheit handelt. (Es wäre so leicht, den Totengräber wegzumobben, es müsste sich nur ein Nachfolger finden. Wer den Totengräber wegmobbt, wird der Totengräber werden müssen.) Die Wiederauferstehung ist keine Legende,
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