Zschopautal ... da geht's der Heimat zu!. Malte Kerber
hier unten vor dem Erzgebirge so tief und „attraktiv“ in die Landschaft eingearbeitet hat. Ein Vorteil ihres doch wilden Laufs: keine Autostraße am Fluss störte unseren Landschaftseindruck, kein mülliger Lärm nervte unsere Ohren. Leider vermissten wir im Gegensatz zur Wanderung über die „Romantische Straße“ im Frühsommer dieses Jahres den Gesang der Vögel. Unsere gefiederten Sangesfreunde sind wohl meist schon unterwegs gen Süden, oder sie haben zwitscherndes Liebeswerben wegen getaner Arbeit nicht mehr nötig.
Gegen Mittag erreichten wir Waldheim. Ja, Waldheim! Dieses „Waldheim“, an das fast jeder denkt, wenn er den Namen der alten sächsischen Stadt hört. Ihr ungeliebtes Symbol sahen wir zuerst, als wir auf das Panorama der Stadt blickten: die Justizvollzugsanstalt, einst das größte Gefängnis Sachsens und eines der ältesten seiner Art in Europa.
Mitten in der Stadt klotzt schwergewichtig das Zuchthaus Waldheim – die heutige Justizvollzugsanstalt. Ein Ausbrechen soll damals fast unmöglich gewesen sein. Das dürfte in unseren Tagen wohl noch mehr zutreffen. Mit dem Begriff „Waldheimer Prozesse“, die 1950 an diesem finsteren Ort stattfanden, wird zwanzig Jahre nach der Bildung der neuen deutschen Bundesrepublik häufig immer noch die gesamte DDR-Geschichte „belegt“. Dass es bei diesen Prozessen vor allem und meistens um Kriegsverbrecher und Kriegsverbrechen ging, gerät bei dieser Art Geschichtsaufarbeitung meistens in den Hintergrund.
Doch zurückliegende finstere Geschichte interessierte uns an diesem schönen Sonnentag nicht. Von einer Zschopaubrücke aus genossen wir den Blick auf das Zentrum der Stadt, auf ein prachtvolles Jugendstilhaus am Ufer des Flusses, auf das Rathaus und seinen eindrucksvollen Turm sowie auf die prächtige St. Nicolaikirche.
Auf dem weiten ovalen Marktplatz herrschte gähnende Langeweile. Die Geschäfte geschlossen, wenig Leute, nur der prächtige Wettinbrunnen plätscherte redselig im Selbstgespräch vor sich hin. Mit Mühe fanden wir ein Eiscafé, in dem wir pappige Toaste als Mittagsmenü akzeptieren mussten.
Wir zogen weiter und erfreuten uns noch an einigen schönen Häusern aus der Jugendstilzeit. Waldheim wird auch als „Stadt des Jugendstils“ bezeichnet. Was wir nicht gewusst hatten: Waldheim ist die Geburtsstadt des Bildhauers Georg Kolbe – des „Vaters“ der von mir in meiner Jungmännerzeit einst so geliebten „Tänzerin“. Noch immer schwebt die lebensgroße Bronzeplastik unvergleichlich zart in der Alten Nationalgalerie zu Berlin. Wir erwiesen dem Meister vor seinem Geburtshaus am Georg-Kolbe-Platz eine kleine Gedankenreverenz.
Schön führte uns anschließend die Markierung mit dem roten Balken unter dem Blätterdach der Bäume an der Zschopau entlang. Hier erhellte sich für uns auch das Rätsel, warum einige Kilometer unseres bisherigen Wanderweges als die „Bankrottmeile“ bezeichnet werden. Ein älteres Ehepaar aus Waldheim, mit dem wir ins Gespräch gekommen waren, klärte uns auf: In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts baute man die Bahnstrecke Riesa – Chemnitz. Die enormen Kosten für die Viadukte, Stützmauern und Erdarbeiten im Zschopautal brachten die Eisenbahngesellschaft in Finanznot. Sie ging pleite. Aus diesem Grunde erhielt der Abschnitt Limmritz – Waldheim den Beinamen „Bankrottmeile“. Was man doch auf Wanderungen so alles erfahren kann! Merkwürdiges und Merkenswürdiges! Wir bedankten uns bei den freundlichen Waldheimer Leuten für den Wissenszuwachs. Sie wünschten uns für die Wanderung einen guten Weg.
Zur berühmten Burg Kriebstein ging es doch einige „Höhenmeterchen“ bergauf. Burgen liegen ja meist auf dem Berg. Burg – Berg klingt so schön beieinander. Anne stieg und schritt wacker vor sich und vor mir hin. Ich bekam doch Konditionsschwierigkeiten. Auch aus diesem Grund verzichteten wir auf eine Besichtigung der sehenswerten Burg und steuerten auf direktem Wege den Hafen an der Talsperre Kriebstein an.
Dort herrschte heute am Sonntag reger Betrieb. Anne bekam als Lohn für ihren Wanderfleiß eine doppelte Portion Leck-Eis. Nach einer guten halben Stunde Wartezeit bestiegen wir ein Fährschiff, das uns ans Tagesziel brachte. So schlossen wir unsere Wanderetappe sogar noch mit einer kleinen Dampferfahrt ab. Wir genossen die schönen Sichten auf den Talsperren-See. Die Fähre legte in dem kleinen Ort Falkenhain direkt neben der Jugendherberge an. Das stimmte uns gar nicht traurig! Unsere Wanderkraft hatte sich für diesen Tag erschöpft.
Die Jugendherberge besteht aus einem Bungalowdorf, idyllisch am See gelegen. Ich hatte uns angemeldet und eine Holzhütte gebucht. Die Begrüßung durch die Rezeptionsmitarbeiterin freundlich-lustig. Wir bekamen sogar, obwohl nicht bestellt, einen Bungalow mit Dusche und WC. Die Einrichtung jugendherbergsgemäß schlicht und einfach, aber alles sauber. Müde und doch zufrieden über den schönen Wandertag bezogen wir unser Quartier. Der Küchenchef der Jugendherberge servierte uns ein Riesenschweineschnitzel, ungesund dick paniert. Der Hunger trieb es „nei“!
Nach einem kleinen Rundgang über das Gelände des Bungalowdorfes saßen wir vor unserem Holzhaus, beide eine Flasche dunkles Weizenbier vor der Nase, blickten auf den See, sahen auf der anderen Seite des Sees die Sonne hinter den bewaldeten Hügeln verschwinden und beträumten den verdämmernden Tag. Erinnerungen an den Liepnitzsee kamen uns in den Sinn. Als Dauercamper auf der Insel Großer Werder im Norden von Berlin hatten wir viele solcher Traumabende erlebt. Abende, die ihre Spuren im Gedächtnis hinterließen und sich in den Herzen verwurzelten. Auf dem Uferweg spazierten an unserer Hütte Angelfreunde vorbei, ebenfalls Gäste der Herberge. Fast nur dickbäuchige Männer zogen mit Bierflaschenpacks bzw. Bierkästen Richtung Grillplatz.
Zu den Gästen der Jugendherberge gehören auch zwei Dauergäste, ein älteres Ehepaar aus Waldheim, Rentner. Sie mieten sich für jeweils eine Saison in einem Bungalow ein, wie sie uns erzählten. Wir waren mit ihnen in ein Neugier-Gespräch gekommen. Doch so richtig konnten wir sie nicht „aufschließen“. Offensichtlich waren sie unsicher, wie sie uns alte Tramper einordnen sollten. Die folgende Begegnung verdient es eher, festgehalten zu werden.
Vor dem Verwaltungsgebäude der Herberge gibt es einen großen Kiosk, an dem sich die Herbergsgäste zusätzlich versorgen können. Vor allem das Getränkeangebot ist reichhaltig. Ein etwa vierzigjähriger DHJ-Angestellter betreut Angebot und Verkauf. Wir versorgten uns bei ihm mit dem erwähnten Weizenbier und auch mit Selters für den morgigen Wandertag. Aus irgendeinem Grunde kam ich mit dem Kumpel in ein anfangs spaßiges Wortgefecht. Ich fragte ihn, warum weiß ich nicht, ob er „gedient“ hätte. Er antwortete: „Ja, bei den Kommunisten!“ Meine Gegenfrage darauf: „Bei denen im Osten oder bei denen im Westen, da gibt es ja auch welche?“ Er erklärte etwas mürrisch, dass er in der DDR 1988 zur Bereitschaftspolizei nach Leipzig „geholt“ worden wäre. „Im Osten gab es doch keine Freiheit!“ so erläuterte er.
Ein wenig ging das Frage-Antwort-Gespräch hin und her. Ich wollte abschließend von ihm wissen, wie es ihm denn heute so ergehen würde. Er darauf: „Also in der Saison bin ich jeden Tag hier im Kiosk. Von früh bis abends. Jeden Tag! Das ist schon ein harter Job, da hast du keine Freizeit mehr.“ Ich strich ihm spöttisch aufs Butterbrot seiner Meinung: „Na fein, da hast’e also deine neue Freiheit!“ Er winkte mit einer ärgerlichen Handbewegung ab.
11. September
2. ETAPPE
Falkenhain – Kriebnitzstausee – Falkenberg – Ringethal – Mittweida – Schönborn – Sachsenburg – Frankenberg
21 Kilometer
Heute früh die übliche Jugendherbergstätigkeit. Dazu gehören selbstverständlich die Morgentoilette und das Packen. Aber das Programm, wie es in Hotels oder Pensionen abläuft, wird im DHJ-Quartier erweitert. Die Betten müssen abgezogen werden, Bettzeug und Handtücher sind abzugeben, und das Zimmer muss auch „aufgeklart“ werden. „Müll wegbringen nicht vergessen!“ Das sind die Regeln!
Aber dies sind Dinge, die Anne und ich routiniert abwickeln. Langjährige Erfahrung! Wenn sich denn nicht beim Verstauen der Sachen in den Rucksäcken, ebenfalls nach einer festgelegten Ordnung, herausstellt, dass etwas „verschwunden“ ist. Folgt darauf die eigentlich