Der Wunsch bleibt. Doch dann ... Die Geschichte eines Paares. Nora Winter

Der Wunsch bleibt. Doch dann ... Die Geschichte eines Paares - Nora Winter


Скачать книгу

      Mich jedenfalls macht ihre Anwesenheit dermaßen wütend, dass mir die Haare mit zu Berge stehen, dass ich mich ungeheuer betrogen fühle auf der Suche nach unserem Familienglück, betrogen von unseren Körpern, betrogen von diesen einfach normalen Träumen, betrogen von der ganzen Welt. Auch von den durchlittenen Krankheiten mit ihren Folgen, auch von all den anderen, die uns immer und immer wieder weismachten, dass Leben zu schenken das Normalste auf der Welt sei. Dass es das Mindeste sei, was man erwarten kann, dass es quasi als Aufgabe der Erdbewohner anzusehen sei, damit die Menschheit weiter existieren kann.

      Betrogen außerdem um die Möglichkeit, den Zeitpunkt festzulegen, wann das neue Leben denn einmal eintreffen soll – nun zieht sich die Situation, obwohl noch gar nicht vorhanden, über Monate und Jahre dahin – und der Vergleich drängt sich auf, weniger zu können, ja, fast geringer noch zu sein, als jedes andere Lebewesen, als jede andere Art.

      Oh, diese Wut!

      Ich lasse ihr freien Lauf.

      Ich kann kein Leben schenken. Wut. Ich werde keine Nachkommen haben. Wut. Keine Nachkommen, in denen mein Blut weiterleben wird. Wut.

      Schreie im Wald! Wut, Wut, Wut.

      Joggen im Freien. Wut, Wut, Wut.

      Schwimmen gehen. Vielleicht trägt das Wasser? Wut, Wut, Wut.

      In die Pedalen treten. Wut, Wut, Wut.

      Manchmal will Frau Wut überhaupt nicht wieder gehen.

      Dann bin ich ihr geradezu auf den Fersen, bin ihr ganz nah, schäume über und schüttele sie und raufe mit meinem Partner und schüttele und raufe, bis mir schließlich die Tränen in die Augen steigen …

      … dann, irgendwie steht auch gleich schon Herr Trauer daneben und holt, höflich und diskret, die Frau Wut ab.

      Also ich weiß nicht, irgendetwas müssen die doch miteinander haben.

      Gern hätte ich sie gehabt. Die richtige Abfolge der Besucher. Hätten sie mich einzeln besucht, hätte ich mich besser auf sie einstellen können und die Gespräche wären sicher anders verlaufen. Aber den Gefallen taten mir die Gäste beileibe nicht. Ihre Besuche und die damit verbundenen Lebensphasen kannten keinerlei Schema. Zumindest lag dieser Schluss nahe.

      Nie war ich im Vorfeld auf die Besuche und die Heftigkeit, die damit einherging, vorbereitet. Andererseits gab es Situationen, da wusste ich von gar nichts, es war, als führten die Besucher regelrechte Attacken gegen mich im Schilde. Wie war ich plötzlich überrascht, wenn sich schon wieder einer von denen eingeschlichen hatte!

      Manchmal überwog das Gefühl, mein Haus platzt vor Besuch aus den Nähten, es war so übervoll, dass ich keine Ruhe mehr fand. Die ganze Bande belagerte das Gebäude. Durch die Massenbesuche fühlte ich mich selbst in meinen eigenen vier Wänden nicht mehr wohl. Unglaublich aufgewühlt war ich wieder und wieder und hätte mich doch am liebsten in die allerletzte, hinterste Ecke verkrochen.

      Waren wirklich einmal alle gegangen, dann stand es trotzdem schlimm. Um die Wohnung? Ja, um die Wohnung. Und um mich. Warum auch sollte ich aus meinem Bett aufstehen? Wo zuerst – und weshalb überhaupt – das Chaos beseitigen?

      All das brauchte Zeit.

      Sehr viel später erst wurde mir bewusst, dass damit nur eine besondere Phase vorübergezogen war; eine, die ich durchlebt hatte. War sie endlich abgeschlossen, kam die Erinnerung und mir wurde klar, wie viel Kraft ich eigentlich vorher dazu aufgewendet hatte, um so was ja nicht an mich heranzulassen, um gerade das nicht erfahren zu müssen, um all diese Besuche am liebsten zu umgehen.

      Mit der Phase der Traurigkeit und dem Besuch von Herrn Trauer hatte es begonnen, irgendwie stand das an erster Stelle. Unendlich war ich traurig – über die Untersuchungsergebnisse, die unerfüllten Wünsche, die veränderte Lebensplanung und vieles mehr. Manchmal raubte mir die Trauer die Sprache und kein Wort kam über meine Lippen. Ich spürte Schmerz und Ohnmacht und konnte meine Gedanken nicht mehr sortieren. Das ging solange, bis Frau Wut zu Besuch kam. Sie kam immer plötzlich und unberechenbar. Doch als Gastgeber muss man lernen, sich im Zaum zu halten. Wie hätte ich schreien, etwas zerschlagen, an einen Baum, an eine Wand treten können! Besonders, wenn ich hysterisch und ungerecht wurde, konnten mein Mann und auch Außenstehende durchaus spüren, dass Frau Wut mal wieder bei mir ein- und ausging.

      In Gesprächen mit meinem Mann gelang es von mal zu mal mehr, mich selbst zu reflektieren …

      Frau Wut ist jetzt bei mir eingezogen. Fraglos. Ich könnte nur so um mich hauen. Gelte als unerträglich, ungenießbar, gehe Freunden aus dem Weg und will auch selbst keinen sehen. Wütend, verletzt, sauer und traurig kann ich die vielen tollen Leute mitsamt ihren Kindern nicht mehr ertragen. Die Welt ist grausam. Es ist gemein, so wie es ist und ich hoffe nur, dass mein Mann diese Phase mit mir gut durchsteht. Der nächste Heulkrampf ist nicht weit. Ich sollte mich nicht zu sehr in meine Gedanken fallen lassen. Ich sollte laufen gehen, Meilen schaffen, mich abreagieren. Die kleinste Übertretung, der kleinste Fehler von irgendjemandem und ich gehe in die Luft! Ich kann mich selbst nicht ausstehen. Die Welt ist schrecklich. Das Kindergeheule heute im Bus; ich hätte die Mutter anschreien mögen, sie solle doch ihr Kind endlich beruhigen! Meine Nerven liegen blank.

      Die Zeit des Wartens ist qualvoll. Das ewige Warten macht mürbe. Warten auf irgendetwas, nicht Beeinflussbares – auf den Zyklus, auf die Termine, darauf, dass das Leben doch endlich beginnen soll …

      Statt dessen soll ich immer nur vernünftig sein! Stark sein, alles meistern können. Soll jede Phase mit Bravour durchlaufen, es nicht merken, mir nicht ansehen lassen, was wirklich los ist.

      Wo es doch Menschen gibt, denen es viel schlechter geht.

      Was ich jetzt aber gar nicht wissen will!

      Im ersten Moment sieht Herr Abschied aus wie jedermann. Vielleicht ist er nur ein klein wenig akkurater, etwas schnittiger gekleidet. Mit Sicherheit aber zeichnen ihn ganz spezifische Besonderheiten aus. Auf der einen Seite winkt er sehr viel, hat ein Lächeln auf den Lippen und entfernt sich Stück für Stück immer ein wenig weiter weg von mir. Auf der anderen kann ihn ein plötzliches Weinen überkommen. Das geschieht häufig und passiert ihm auf solche Art, dass es bei einem Mann überrascht. Obwohl ich ihm dann am liebsten aus dem Weg gehen würde. Aber er hält die Arme bereits so ausgebreitet vor mir, dass ich keine Chance mehr habe, an ihm noch vorbeizukommen. Herr Abschied drückt mich vereinnahmend fest an sich, auf dass wir eine gewisse Zeit gemeinsam weitergehen und auf diesem Stück Lebensweg wahrhaftig annehmen, miteinander glücklich zu sein.

      Nach längerer Zeit jedoch versucht Herr Abschied mir etwas begreiflich zu machen. Erst fasse ich es gar nicht. Je öfter er aber nach meiner Hand langt, um mir beizubringen, mit welcher Geste auch ich mich eines Tages von ihm werde verabschieden müssen, leuchtet es mir schließlich ein. Trotzdem ist es vertrackt und die ersten Winkversuche scheitern schon im Ansatz. Alles, was mit ihm zu tun hat, fällt mir außerordentlich schwer.

      Bis ich schließlich irgendwann erkenne, dass ich mir für eine Person wie ihn, ob ich will oder nicht, entsprechend Zeit nehmen muss. Ehe es dann später, nach unzähligen Versuchen, fast geschafft zu sein scheint – denn da reißt er sich von mir los. Er winkt und rennt und rennt und winkt und lacht und weint darüber, dass meine befreiende Kraft groß genug war, dass ich nicht an ihm kleben geblieben bin.

      Bis dahin aber ist es ein weiter Weg und in der Regel ziemlich anstrengend, immerfort gastfreundlich zu Herrn Abschied zu sein. Sein Handwerkszeug ist die Schere und er trennt alles, was einem lieb und teuer geworden ist. Gleich, ob es sich um Partner, Freund, Vater, Mutter oder Kind handelt. Er bringt sie alle auf eine Ebene. Was mich schmerzt. Wobei es sich manchmal um eine gewöhnliche Trennung handelt, manchmal jedoch verhandelt er sogar über den dauerhaftesten aller Abschiede, den Tod.

      Wobei,


Скачать книгу