Der Teufel von Köpenick. Horst Bosetzky
nickte. »Ja, er ist wirklich ein lieber und umgänglicher Mensch.«
Der Kietz, unterhalb des Schlosses am östlichen Ufer der Dahme gelegen und bereits 1375 in den Chroniken erwähnt, war ursprünglich eine slawische Fischersiedlung und selbständige Landgemeinde. Als eine der drei Vorstädte war sie 1898 Teil Köpenicks geworden und hatte seither ihren Charakter erheblich verändert. Die Zahl der Fischer war zurückgegangen, und Handwerker und kleinere Geschäfte hatten sich hier angesiedelt, so auch die Wäscherei Otto Lüdke in der Grünen Trift. Diese verlief quer durch das Kietzer Feld, reichte von der Müggelheimer Straße beziehungsweise dem Müggelheimer Damm bis hinunter zum Lienhardweg und ließ bestenfalls an märkische Ackerbauerstädtchen denken, da sie nur wenig Charme besaß.
Am südöstlichen Rand der Köpenicker Altstadt lag der Punkt, an dem die Wendenschloß- und die Müggelheimer Straße – später Müggelheimer Damm – sich trafen, um dann radial nach Süden beziehungsweise Südosten zu laufen und sich für die Siedlung Wendenschloß und die Kietzer Vorstadt zu öffnen. Ein Dreieck aber ergab sich nicht, da am unteren Ende eine durchgehende Straße, welche die Hypotenuse abgegeben hätte, fehlte und sich alles wie ein Trichter zum Wald hin öffnete, zur Nachtheide und den Müggelbergen.
Bruno Lüdke liebte es, mit einem dicken Knüppel in der Hand, seiner Keule, durch die Gegend zu stromern, und hörte er, dass ihn gehässige Nachbarn einen Urmenschen oder Neandertaler nannten, so verstand er es nicht, denn er fühlte sich wie ein Wolf oder ein Bär. Er hatte keinen Plan, er wollte nichts, er folgte nur den Stimuli, die er registrierte. Sah er einen Apfel am Baum, dann wollte er ihn pflücken und essen. Hörte er einen Kuckuck rufen, dann wollte er ihn sehen. Ratterte irgendwo eine Straßenbahn, hatte er Lust, ein Stück mit ihr zu fahren, tutete es oben an der Spree oder dem Müggelsee, dann wollte er wissen, ob das ein weißer Ausflugsdampfer oder ein schwarzer Schlepper war. Entdeckte er Pilze und Beeren, so sammelte er sie in seiner Mütze, waren es Kamille oder Schafgarbe, riss er sie heraus und brachte die Büschel der Mutter. Bruno Lüdke war eins mit sich und der Welt und so glücklich, wie es normale Menschen niemals sein konnten.
Der Pfarrer musste, sah er Bruno, unwillkürlich an die Bergpredigt denken: Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihrer. Da hatte einer das Himmelreich auf Erden gefunden, und sein Sohn, der Philosophie studierte, meinte, dass der Mensch ein Unfall des Kosmos sei und Gott besser beraten gewesen wäre, wenn er die Schöpfung auf der Stufe der Schimpansen und Orang-Utans für immer angehalten hätte.
Sein Cousin befand daraufhin: »Intelligenz ist Mist!«
Erwin und Frieda Nickholz hatten lange gespart und sich nach Kriegsende am Sandschurrepfad ein knapp eintausend Quadratmeter großes Grundstück gekauft. Im Sommer 1921 war ihr Einfamilienhaus fertig geworden, und sie waren von Oberschöneweide, wo Nickholz bei der AEG als Buchhalter beschäftigt war, hinaus aufs Kietzer Feld gezogen. Auch des Kindes wegen, das unterwegs war. Zu Fuß und noch schneller mit dem Fahrrad war Nickholz in ein paar Minuten an der Straßenbahnhaltestelle und konnte mit der Linie 83 fast bis ins Büro fahren. Und nach knapp anderthalb Kilometern war man am Müggelsee, was beide als Naturmenschen besonders freute. Kennengelernt hatten sie sich im Betrieb, aber mit Beginn ihrer Schwangerschaft war Frieda Nickholz zu Hause geblieben, weil ihr oft übel war. Eine kleine Erbschaft sorgte dafür, dass sie auch so einigermaßen über die Runden kamen. Einiges ließ sich ja auch sparen, beispielsweise wenn sie im Garten Gemüse anbauten und ihren Obstbäumen eine ausreichende Pflege angedeihen ließen.
Beide hätten also allen Grund gehabt, wunschlos glücklich zu sein, doch Frieda Nickholz litt unter der Einsamkeit hier jwd und kam vor Angst fast um, wenn ihr Mann einmal später von der Arbeit heimkehrte.
»Du, Erwin, heute ist wieder dieser Neandertaler durch die Gegend gelaufen. Hast du mal nachgefragt, wer das ist?«
»Ja, die Frau im Milchladen sagt, dass das nur der ›doofe Bruno‹ sein kann, der aus der Wäscherei in der Grünen Trift.«
»Immer, wenn ich den sehe, läuft es mir eiskalt den Rücken runter.« Frieda Nickholz schüttelte sich. »Für unser Kind ist das bestimmt nicht gut.«
Auch Erwin Nickholz fürchtete, der Fötus könne geschädigt werden, wenn seine Frau beim Anblick des Jungen zusammenzuckte. »Ich verstehe nicht, warum man diesen Kretin nicht wegsperrt. So was gehört in die Irrenanstalt!«
»Kannst du das nicht mal beantragen?«
Erwin Nickholz war nicht der Mann, der sich gern mit den Behörden anlegte, und so antwortete er nur ausweichend: »Die Milchfrau sagt, das geht nicht, solange er keinem Menschen was zuleide getan hat.«
»Muss also erst etwas passieren?«
»Es wird schon nicht.«
Frieda Nickholz konnte es nicht fassen. »Dann darf er also weiterhin bei uns am Zaun stehen bleiben und mich anglotzen? Wie ich die Blumen gieße, wie ich die Wäsche aufhänge? Apropos Wäsche, mir fehlen ein Bettlaken und zwei Schlüpfer. Die wird er geklaut haben.«
Erwin Nickholz lachte. »Fremde Wäsche wird er doch zu Hause genug haben.«
»Wie heißen die Männer, die …?« Sie musste im Lexikon nachsehen, um darauf zu kommen, dass sie Fetischisten meinte, aber auch Voyeure und Exhibitionisten. »So einer ist das, und eines Tages fällt er über mich her.«
»Was soll ich denn machen, Frieda? Ich kann ihn doch nicht einfach erschießen. Und unser Staat, all diese Waschlappen! Aber«, er stand auf und nahm sie in die Arme, »morgen kaufe ich dir einen Hund.«
Otto Lüdke hustete anhaltend. Mit seiner Lunge stand es nicht zum Besten. Kein Wunder, denn jahrelang hatte er heiße und ätzende Dämpfe einatmen müssen. Auch seine Hände waren voll von Rissen und Schrunden. Aber das gehörte halt zu seinem Beruf, und es gab Schlimmeres. Immerhin konnte er sich an den Tagen erholen, an denen er auf dem Kutschbock saß und frische Wäsche ausfuhr beziehungsweise schmutzige abholte. Zwar musste er von den Brosamen leben, die von den Tischen der großen, industriellen Wäschereien fielen, der von Spindler etwa am anderen Ende Köpenicks, aber es reichte für ihn und seine Familie zum Leben. Was wollte man mehr? Eine bessere Frau als seine Emma konnte er sich gar nicht vorstellen, und auch die älteren Kinder gediehen prächtig. Nur Bruno machte ihnen Sorgen.
Gerade wieder schrie seine Frau über den Hof, ob nicht einer wüsste, wo Bruno stecke.
Nein, niemand hatte ihn in den letzten anderthalb Stunden gesehen.
»Wir warten noch eine halbe Stunde, dann suchen wir ihn!«
Emma Lüdke dachte das, was sie in diesem Falle immer dachte: Womit habe ich das nur verdient?
Als Zweijähriger war ihr Bruno von einem Leiterwagen gefallen und hart mit dem Hinterkopf auf das Kopfsteinpflaster aufgeschlagen. Der Arzt hatte von einer Gehirnerschütterung gesprochen, und nach ein paar Tagen war Bruno auch wieder so munter gewesen wie früher, doch irgendetwas musste in seinem Kopf kaputtgegangen sein, denn von nun an blieb er in allem, was mit dem Denken und Sprechen zu tun hatte, deutlich hinter den Kindern seines Alters zurück. Vor allem war er zu langsam. Brauchten andere fünf Sekunden, um herauszufinden, was zwei mal zwei ergab, waren es bei ihm fünf Minuten, und es konnte vorkommen, dass dann auch noch eine Fünf auf seiner Schiefertafel stand. So kam es, dass er das Klassenziel der sechsten Klasse mehrfach nicht erreichte und auf die Hilfsschule musste.
Ob Otto und Emma Lüdke dieses Kind liebten? Nein, sicher nicht, aber nie wären sie auf den Gedanken gekommen, ihren Bruno in ein Heim zu geben. Es war so, wie es war. Er gehörte zu ihnen, und es war ihre Pflicht, ihn durchs Leben zu bringen. Nie würde er in der Lage sein, die Wäscherei zu übernehmen, wenn sie einmal aufs Altenteil gingen, aber nützlich machen konnte er sich allemal. Es musste halt gehen. Irgendwie. Sie wussten, dass es Leute gab, die nicht bei ihnen waschen ließen, weil sie fürchteten, Bruno würde bei ihnen auftauchen. Dafür aber gab es andere, die aus Mitleid mit ihnen ihre schmutzige Wäsche in die Grüne Trift brachten. Es glich sich also wieder aus.
Natürlich konnten sie mit der Firma W. Spindler nicht mithalten, der »Anstalt zur chemischen Reinigung, Wäscherei und Färberei« drüben in