Der gefesselte Dionysos. Patrik Knothe
die Stimme von vorhin.
Als nächstes hörte er Zisch- und Dampfgeräusche. Das Feuer wurde gelöscht und die fünf die es angezündet hatten wichen vor ihm zurück. Es herrschte wieder Stille.
Orthos war von oben bis unten durchgeschwitzt und wäre beinahe wieder ohnmächtig geworden.
Die bekannte Stimme meldete sich wieder: „Das nächste Mal nehmen wir kein Wasser mit.“
Wieder ging einer der Vermummten auf Orthos zu, doch dieses Mal wurden seine Fesseln an den Händen durchgeschnitten. Er war nur noch mit dem Bauch an den Baum gebunden. Man warf ihm ein Messer vor die Füße und danach rannten die Gestalten in den Kapuzen in die Tiefen des Waldes hinein.
Es war schon später Nachmittag als Orthos wieder die Kraft hatte seine Fesseln durchzuschneiden. Lange hatte er dagelegen und nachgedacht. Beim Aufstehen versagten jedoch seine Beine ihren Dienst und er fiel wieder auf den Waldboden. Seine schweißnassen Klamotten ließen ihn inzwischen frieren und immer noch pochte sein Schädel unbarmherzig vor Schmerzen.
Er brauchte eine gefühlte Ewigkeit bis er wieder das heimische Grundstück erreichte und war glücklich auf dem Weg niemanden begegnet zu sein. Doch ihm graute davor durch die Haustür zu schreiten. Er wusste was er darin vorfinden würde und was er zu tun hatte: Seine Schwester um Verzeihung bitten! Die Garage war noch leer, also musste Minos immer noch auf dem Feld sein und somit hatte er vielleicht die Chance Galateia zu besänftigen, so dass ihr Mann nie etwas von seiner Ohrfeige erfahren würde. Denn dann hätte er mit Sicherheit alle Karten verspielt und müsste in einem Obdachlosenheim oder auf der Straße leben.
Er fand seine Schwester mit verquollenem Gesicht im Wohnzimmer sitzen, das dunkelblonde Haar komplett zerzaust. Erwartungsvoll und leicht ängstlich sah sie ihn an. Orthos öffnete den Mund, doch – nichts. Er schaffte es nicht seiner Stimme einen Laut zu entlocken. Wieder fingen seine Beine an zu zittern und plötzlich schossen ihm Tränen in die Augen. Er senkte seinen Blick. Orthos konnte es nicht zulassen, dass man seine Tränen sah. Und er konnte auch nichts sagen; nur mit verkrampften Händen vor ihr stehen und auf den Boden schauen, unfähig einen Weg zu finden seiner Schwester das Vorgefallene zu vermitteln. Auf einmal kam ihm seine Idee sich zu entschuldigen endlos dumm vor. Er wusste, dass es seine endgültige Niederlage sein würde, wenn er jetzt hier vor ihr auf den Boden stürzte, in Tränen ausbrach und sie um Verzeihung bat. Hätte sein Großvater Kerberos jemals so etwas getan? Allein die Vorstellung war lächerlich. Ja, vielleicht hatten ihn die Kinder besiegt aber nicht auch noch seine Schwester; alle nur nicht sie. Lieber würde er auf der Straße leben als seine Würde auch noch vor ihr zu verlieren.
Ihr Schweigen irritierte ihn. Normalerweise hätte sie ihn schon mit Fragen bombardiert: Wo er denn gewesen war, wieso er so dreckig sei, woher er die Wunde am Kopf hatte usw., usf. – Doch die Fragen blieben aus. Sie saß immer noch da und sah ihn an; inzwischen nicht mehr ängstlich, sondern enttäuscht und – zum ersten Mal überhaupt – mit einem Hauch von Verachtung.
Orthos sagte nichts weiter. Er senkte den Blick und verließ das Wohnzimmer.
XIV
Nach ein paar Tagen der Erholung wollte Orthos als erstes den schmalen Gang im Keller endgültig dicht machen. Sein Herz machte einen Hüpfer als er seine kompletten, ihm zuvor entwendeten Bier- und Zigaretteneinkäufe darin vorfand.
Gerne würde ich Ihnen berichten, dass Orthos durch diese Erfahrung wirklich ein besserer Mensch geworden war, doch leider kann ich das nicht. Ehrlich gesagt bezweifle ich es sogar stark. Aber wenn wir uns nach den Tatsachen richten, sehen wir zumindest, dass er die Kinder von Delphi von nun an in Ruhe ließ und das war doch die Hauptsache. Von nun an ließ er sogar überhaupt jeden Menschen in Ruhe. Er nahm seine Mahlzeiten nun immer allein in seiner Wohnung ein. Stumm brachte ihm Galateia seinen Teil, meist ohne ihn auch nur anzusehen. Selten sah man ihn noch draußen beim Spazierengehen. Seine Kräfte schwanden von Tag zu Tag und irgendwann bereitete ihm nicht einmal mehr das Biertrinken Freude. Als ihn seine Schwester drei Jahre später tot in seinem Sessel fand, war von dem einst schweren, bulligen Mann nur noch ein kleines Häufchen Elend übrig.
Wenn wir nun wieder zu jenem schicksalhaften Datum in Delphi zurückkehren, sollten wir nicht nur die tragischen Ereignisse im Haus von Minos, Galateia und Orthos betrachten sondern unseren Blick auch auf fröhlichere werfen, die sich nur ein paar hundert Meter entfernt auf der uns bekannten Sandbahn im Stadion zutrugen.
Dionysos fühlte sich wie in einem Traum. In den vergangenen Tagen war er aufgeblüht wie die Natur um ihn herum. Obwohl er fast nicht geschlafen hatte, fühlte er sich so kräftig und gut gelaunt wie nie zuvor. Alles was sie sich vorgenommen hatten, war, zu seiner großen Verwunderung, gelungen, wenn es auch einige Male äußerst knapp davor gewesen war, dass man sie erwischte. Beim ersten Bier- und Zigarettenklau kam Galateia nur ein paar Sekunden nach ihnen in die Küche und war den Geräuschen der Fliehenden bis in den Keller gefolgt. Mühsam und langweilig gestaltete sich lediglich das ständige Beobachten, bei dem sie sich alle paar Stunden abgewechselt hatten. Das größte Glück für ihre Operation war jedoch die Tatsache, dass Dionysos den geheimen Gang in Orthos Keller kannte. Er hatte ihn vor einigen Jahren durch Zufall beim Versteck spielen mit Apollon entdeckt als Minos und Galateia noch ein Geschäft darin führten. Sein Vater Petros plauderte immer noch gerne ein Weilchen mit Minos, man schenkte sich Wein ein und die Jungs hatten alle Zeit der Welt das große und verwinkelte Grundstück zu erkunden.
Und so feierten sie nun ihren Erfolg mit reichlich Getränken und Essen von zu Hause. Für ausschweifende sportliche Aktivitäten waren sie allerdings zu müde und trieben heute lieber, gemütlich auf der Sandbahn liegend, ihren Spaß. Einige trugen immer noch ihre Mönchskutten. Keiner dachte an den Schulunterricht, der am kommenden Montag wieder beginnen sollte.
Auch ein Feuer in ihrer Mitte durfte natürlich nicht fehlen. Dionysos hatte übrigens eine ganz spezielle Vorliebe und Faszination für das Feuer entwickelt, die er sein ganzes Leben nicht mehr los wurde. Die Flammen hatten für ihn etwas fast schon magisches, als steckte in ihnen ein Urgeheimnis des Lebens das es so oft wie möglich zu erkunden galt.
Als es schließlich dämmerte begannen die meisten der Jungen und Mädchen bereits zu gähnen. Krotos der, ähnlich wie Dionysos, die letzten Tage keine ruhige Minute gehabt hatte, schlief schon seelenruhig auf dem Sand. Nun herrschte Aufbruchstimmung. Die Reste vom Essen und den Getränken, die Mönchskutten und die Fackeln wurden zusammengepackt und das Feuer gelöscht.
Immer noch vollkommen berauscht vom Glücksgefühl ihres Sieges schlenderte Dionysos träumerisch lächelnd von der Sandbahn Richtung Dorf zurück. Etwas neues, bisher unbekanntes, starkes und mächtiges war in ihm erwacht; etwas was ihn von nun an immer begleiten und ihn beschützen würde.
Obwohl die Sonne noch nicht ganz untergegangen war, hing der Vollmond riesig über ihm. Alles war gut! Unter einer großen Eiche küssten sich zwei Menschen im Abendrot. Sein eben noch fröhlich hüpfendes Herz erstarrte zu Eis als er erkannte um wen sich handelte: Apollon und Sophia. Eng umschlungen; ganz in den anderen vertieft und unfähig wahrzunehmen, was um sie herum geschah. Dionysos blieb nicht stehen. Er versuchte weiterzugehen und das Bild zu verdrängen. Vielleicht könnten ihn die Gesänge der Vögel beruhigen, dachte er und lauschte angestrengt; doch ihre Melodien schienen ihn nicht mehr zu erreichen. Eine nie gekannte Leere breitete sich in seinem Innern aus. Nach einigen Metern wurde ihm schwindlig und er musste stehen bleiben. Ja sogar seine Beine versagten ihren Dienst. Gekrümmt sank Dionysos auf den Gehsteig …
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