TÖDLICHE BEGIER.DE. Peter Weidlich

TÖDLICHE BEGIER.DE - Peter Weidlich


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Stellen mit feinsandigem Boden ermunterten dazu, perlmuttglänzende Miesmuscheln zu sammeln.

      Stand man regungslos im Wasser, direkt neben der Uferkante, konnte man Flusskrebse fangen! Ein abenteuerhaftes Paradies.

      „Dieses Mal finde ich einen geeigneten Platz hinter der alten Ise-Brücke“, wandte sich Alex an Afra, „rechts vor der Brücke der tiefe Kolk, weiter hinten der Hochwald. Wir können alles überblicken, aber uns sieht keiner!“

      Vorsichtig tastete er über die uralten Bohlen der Brücke, er hasste Splitter im Fuß. Afra zog sich, am Ufer festkrallend, aus dem Wasser, schüttelte sich, und beide setzten lautlos ihren Weg durch das kniehohe Gräsermeer der Ise-Auen fort.

      Nach etwa zweihundert Metern standen sie vor einer Wand aus Schmerzen verheißenden Brennnesseln und Brombeerranken mit widerlich harten, sich festkrallenden Dornen. „Hier müssen wir durch, Afra“, flüsterte Alex, „auch, wenn’s wehtut!“

      Mitleidig blickte Afra ihr Herrchen an und drückte, sich aufplusternd, einen Pfad durch die Nesselwand. Alex ignorierte nicht vermeidbare Verbrennungen und knickte vorstehende Brombeerranken ab.

      Dann standen sie inmitten einer drei Meter hohen Fichtenschonung, durchzogen von niedrigen Königsfarnen und Blaubeerbüschen. „Hier bauen wir unsere Hütte, hier traut sich keiner hin! Wir fangen gleich damit an. Komm’ Afra, wir holen Hammer, Säge und Strohbänder von Zuhause.“

      Im Junkernholz angekommen, schilderte Alex seiner Oma die Begegnung mit dem schwarzäugigen Fremden. „Der Typ hat mich gleich angesaugt und mir befohlen, zu verschwinden. Dann hat er mich seltsam fixiert und arabische Wörter gemurmelt, die ich nicht verstanden habe!“

      Oma Sarah erschrak, weil genau das nun eingetroffen war, was sie über die Jahre hin hatte verhindern wollen. Sie sammelte sich und antwortete gefasst: „Das könnte der Jagdaufseher Grossek sein, den der Holzfabrikant Heins angestellt hat. Der soll unberechenbar und unfreundlich sein. Geh’ ihm lieber aus dem Weg!“

      Alex brauchte einen Tag, bis seine Waldhütte fertig war:

      Zwischen hoch gewachsenen Fichten, etwa vier Meter auseinander stehend, hatte er als Außenwand zwei Meter hohe, junge Fichtenstämmchen in die Erde gerammt, sie mit Weidenzweigen umflochten und die Hohlstellen mit Lehm und Moos zugestopft. Als Dach dienten aus Omas Schuppen alte, bemooste Welltafeln, auf eine Dachkonstruktion aus Fichtenstämmen gehievt und mit Strohbändern befestigt.

      Im hinteren Teil der Hütte hatte Alex eine Art von Geheimversteck: Ein quadratisches Loch im Erdboden, einen Meter lang, einen Meter breit, etwa achtzig Zentimeter tief, überdeckt von einem mit Moos und Laub getarnten Brett. Er wollte das Loch tiefer machen, dann wäre er auf Grundwasser gestoßen. Zwei klappbare Anglerstühle und Ersatzpfeile passten hinein sowie drei Dosen Frühstücksfleisch und Pumpernickel, von Oma abgestaubt.

      Zum Abschluss der Bauarbeiten machte Alex ein Selfie von sich, seiner Hütte und Afra und simste es seiner Freundin Kati. Er musste an die Neujahrsnacht denken, ihre Küsse, ihre Sehnsucht und die total heißen SMS, die sie sich nach ihrem ersten Date voller Leidenschaft gesimst hatten.

      Er legte sich unter eine Buche, blinzelte gegen die Abendsonne und fühlte in sich eine pulsierende Kraft. Ein ziehendes, eigenartiges, lustbetontes Gefühl durchströmte seinen Körper. Er schloss die Augen und er sah sie, atmete ihren Duft, spürte ihre Küsse. Und wieder überkam es ihn. Aber anders als die vielen Male zuvor. Dieses Mal war es nicht nur das total abgefahrene, geile Gefühl der Erregung, sondern mischte sich mit einem Gefühl der Sehnsucht und Hingabe …

      Sarah von Trendel freute sich jedes Mal darauf, wenn ihr Enkel Alexander von Trendel in den Ferien ins Junkernholz kam. „Wer weiß, wie lange ihn der Wald mit seinen Geheimnissen interessieren wird“, wandte sie sich wehmütig dem Foto ihres Mannes zu, „jetzt, er ist gerade fünfzehn, jetzt fasziniert ihn diese natürliche Welt. Was wird aus ihm, wenn er die reale Welt mit ihrem Neid, ihren Intrigen, ihrer Verlogenheit wirklich kennenlernt? Schade, dass du ihn nicht mehr erleben kannst, wirklich schade!“, lächelte sie liebevoll und nahm sich vor, Alex das ovale, verwitterte Holzschild für seine neue Waldhütte zu schenken, in das ihr Mann vor Jahrzehnten die Erkenntnis eingebrannt hatte:

      „Der Wald hat viele Augen – und nicht alle meinen es gut!“

      Sie aßen zu Abend. Alex angelte zwei Scheiben von Omas selbst gebackenem Krustenbrot aus dem Tontopf. Ein riesiges Stück der herzhaften Braunschweiger Knoblauch-Streichmettwurst presste er zwischen zwei Scheiben und aß mit sichtbarem Vergnügen. Er warf einen Blick in das Gifhorner Tageblatt und stupste seine Oma aufgeregt an. „Oma, hast du das gelesen? Das ist ja furchtbar!“

      „Was meinst du?“

      „Sie schreiben, dass seit einer Woche wieder Mädchen vermisst werden, drei junge Mädchen! Paddlerinnen auf der Ise! Sie sind spurlos verschwunden. Die Bevölkerung wird aufgefordert, Verdächtiges zu melden!“

      „Furchtbare Angst haben alle, seit Monaten“, seufzte Frau von Trendel und starrte mit flackerndem Blick ins Leere.

      „Mädchenhandel, Oma! Vielleicht sind sie auch nach Syrien abgehauen, wie einige Amerikanerinnen, um im ‚Heiligen Krieg’ für Allah zu sterben, weiß man, was in ihren Köpfen rumspukt?“

      Sie streichelte ihrem Enkel schwer atmend über das mit harzigen Tannennadeln und Sägespänen zerzauste schwarze Haar. Irgendetwas schnürte Sarah von Trendel die Kehle zu. Eine dunkle Ahnung raubte ihr fast den Atem.

      Alex merkte nichts von ihrer Verfassung.

      Am 10. Juli 2014 trieb es Alex nach dem Abendbrot hinaus zu seiner geheimen Hütte am Waldrand: Süchtig danach, in die Geheimniswelt des Waldes einzudringen. Süchtig nach unkalkulierbaren Abenteuern. Süchtig nach wilden Raubtieren. Süchtig nach dem Geruch der Harze von Kiefern und Fichten. Süchtig danach, nackt unter jungen Birken zu liegen, die sich im sommerabendlichtwarmen Wind wiegen. Süchtig danach, von ihrem Mund und ihren Augen und ihrem Lächeln zu träumen und alles zu bekommen …

      Klar will ich das, alles zu seiner Zeit, beruhigte er seine Sinne betörenden Gedanken, sein ständig übermächtiges ES, das immer nur die direkte Befriedigung seiner Bedürfnisse forderte. Außerdem will ich nicht, bevor sie auch nicht will, klar, ermahnte er seine wieder erwachende Lust und schickte sich an, in die geheimnisvolle Tiefe und Schönheit des Hochwaldes einzutauchen.

      Natürlich durfte Afra mitkommen. Sie sprang erwartungsfroh um Alex herum, stupste ihn, sich zu beeilen.

      Barfuß, in kurzer Hose, mit Tarnweste und Fernglas, Hundeleine um die Schulter, Smartphone und Puma-Messer am Gürtel, Schild von Opa unterm Arm, mit Pfeil und Bogen bewaffnet, zogen beide los.

      Alex und Afra, die jede Fährte interessiert beschnüffelte, eilten den fichtennadelübersäten und bemoosten Waldweg entlang, sprangen über tiefe Furchen, die von den Treckern der Waldarbeiter in den Waldboden gewühlt worden waren, Afra immer neben Alex. Alex klatschte ab und zu eine der blutsaugenden Mücken an seinen bloßen Oberschenkeln tot und blickte sich, wie ein Fuchs auf der Jagd, sichernd um, ob der eklige Kerl zu sehen sei.

      „Dieser Typ konnte mir nicht in die Augen sehen, der hat irgendetwas Gefährliches an sich“, erklärte er Afra, die ihn mit schräggestelltem Kopf und total wachen, hellbraunen Augen fixierte. Ihre intensivwedelnde Rute signalisierte absolutes Verständnis.

      Sie paddelten ohne große Mühe über den Kanal und eilten zur Ise-Brücke. Alex atmete auf, als kein Pickup von Grossek an der Reviergrenze stand, an der er ihn oftmals gesehen hatte, unter einer Trauerweide, direkt vor der Brücke. Stattdessen parkte genau an dieser Stelle ein roter Polo.

      Er merkte sich das Kennzeichen >GF-LW 1982<.

      Afra tapste neben Alex über die Brücke, hob ihre Nase witternd in den Wind, der vom gegenüberliegenden Waldrand über die Wiese strich. „Irgendetwas beunruhigt sie sehr“, stutzte Alex und blickte durchs Fernglas. Nichts! „Komm’, ganz leise!“, raunte er ihr zu, „mal sehen, was da los ist.“ Sein


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