Maos eisernes Mädchen. Benjaporn vom Hofe
Mein erster Slogan
Mein erster Einkauf: die Besorgung von Maos Porträt
Unser neuer Nachbar: ein Maulesel
Kindergarten als Flucht- und Zufluchtsort
Unsere Mensa und ihr Vorplatz als Schaubühne
Die symbolische Erinnerungsspeise
Eine unerwartete »revolutionäre Hochzeit«
RUHE VOR DEM STURM
Meine frühe Kindheit erscheint mir immer in der glücklichsten Erinnerung. Das darf ich dankbar sagen. Jedenfalls gilt dies für die Zeit bis zu meinem neunten Lebensjahr, also bis zum Jahr 1966, in dem in China die Kulturrevolution begann. Soweit meine Erinnerung zurückreicht, habe ich in einem wahren Kindheitsparadies leben dürfen. Unser Wohnort in Beijing war ein großflächiger, mit hohen Mauern umgebener Schulkomplex, der früher ein Teil der Anlage des Himmelstempels gewesen ist. Mittlerweile heißt jedoch nur noch der zentrale Park mit dem Wahrzeichen der Stadt Himmelstempel. Ursprünglich aber war die ganze Anlage mit ihrer symbolischen Kultstätte viel viel größer. Im Himmelstempel hatte früher der Kaiser mehrmals im Jahr um gute Ernte gebetet und »Zwiesprache mit dem Himmel« gehalten, von dem er schließlich sein »Mandat«, seine Legitimation als Herrscher empfangen hatte. Man war der Überzeugung, dass auf der Erde nur dann Harmonie und damit auch Wohlstand einkehren konnten, wenn auch im Makrokosmos Harmonie herrschte. Diese musste aber der Kaiser beschwören, damit die übermächtige Natur den Menschen kein Ungemach durch Unwetter, Überschwemmungen und Dürreperioden bereitete. Nur wenn die Natur für vorteilhaftes Wetter sorgte, konnten gute Ernten eingefahren werden, die den Menschen das Überleben garantierten und ihnen zu Wohlstand verhalfen.
In dem Teil, in dem meine Schule lag, befand sich auf einer hektargroßen Fläche früher ein Tempel für Agrarkultur. Dieser war im 15. Jahrhundert gebaut worden und unterteilt in zwei Tempelanlagen, von denen die eine den irdischen Göttern bestimmt war, denen man die Sorge für eine gute Ernte zuschrieb. Damit waren alle vergöttlichten Elemente aufgerufen, denen man eine entscheidende Bedeutung, ja die Verbürgung einer reichen Ernte zumaß. Verehrt wurden hier also zum Beispiel Agrargötter oder Wassergötter, die wesentlich diese Hoffnung verbürgten. Die hier in Rede stehende Anlage bestand aus vielen Hallen mit Altären für die genannten Götter, mit Innenhöfen und Aufenthaltsräumen, in denen der Kaiser mit seinem Gefolge zwischen den ebenso feierlichen wie aufwendigen Zeremonien ausruhen konnte. In der Mitte der ganzen Anlage ragte eine zwanzig Meter lange quadratische Rampe hervor, eine beinahe zwei Meter hohe Bühne, eingerahmt von Marmorsäulen, verziert mit Wolkenmustern. Auf dieser Bühne zelebrierte der Kaiser zwei Mal im Jahr, jeweils im Frühling und im Herbst, ein Aussaatfest, wo um eine gute Ernte gebetet, und ein Erntefest, auf dem für eine reichliche Ernte gedankt wurde. Das Stück Ackerland, das die genannte Rampe oder Bühne unmittelbar umgab, galt als das dem Kaiser persönlich anvertraute Terrain. Hier kündigte er nämlich beim Frühlingsgebet symbolisch an einem Pflug mit drei Schritten den Beginn der Aussaatzeit an. Danach schaute der Kaiser auf der Rampe oder Bühne seinen hohen Beamten zu, wie diese das ihm bestimmte Stück Ackerland ebenfalls symbolisch pflügten.
Im Herbst wiederholte sich diese kaiserliche Zeremonie mit Dankgebeten für die Ernte und mit Opfergaben. Das speziell auf dem kaiserlichen Feld geerntete Getreide wurde dann in die verschiedenen Tempel Pekings und in verschiedene nahe gelegene Klöster als Opfergabe geliefert.
Die andere Anlage des früher auf dem Gelände meiner Schule gelegenen Tempels war den himmlischen Göttern gewidmet und bestand aus Altären für numinose Personifikationen aller Naturphänomene. Für jede der Wettererscheinungen, für Regen und Schnee, Blitz und Donner, Hagel und Wind gab es jeweils einen Altar aus zwei Meter hohem weißen Marmor, verziert mit symbolischen Mustern. Alle Jahre wieder, nachdem der Kaiser im Tempel für die Agrarkultur mit drei symbolischen Schritten hinter einem Pflug die »Frühlingsaussaat« eröffnete, betete er an den einzelnen Altären der Wettererscheinungen unter vielen Opfergaben darum, die Götter möchten den Bauern immer die günstigsten Wetterbedingungen bescheren und keine Naturkatastrophen zulassen. Im Unterschied zu der Verbotenen Stadt, wo der Kaiser wohnte, waren die Anlagen des Himmelstempel-Areals mit vielen Bäumen, vor allem mit Kiefern bewachsen, von denen viele heute noch von einem sehr hohen Alter zeugen. In der Verbotenen Stadt dagegen hatte man aus Angst vor einem möglichen Anschlag durch einen in Bäumen versteckten Attentäter überhaupt keine Anpflanzungen mehr gestattet hatte.
Seit dem Sturz der letzten Monarchie im Jahr 1911 war dann mit der Zeit die ganze Anlage allmählich verwahrlost. Noch in meiner Kindheit kursierte unter den Leuten folgende Geschichte: Als meine Schule im Jahr 1949 dieses Gelände als Standort gewählt und in dieser Anlage nun das Institut erbaut hatte, da hatte das Gras noch bis zur Taille gestanden und da hatten dort noch zwei oder drei Eunuchen und Palastdienstmädchen gewohnt.
Ich möchte noch ein paar ergänzende Worte über meine Schule verlieren. Sie war im Grunde genommen ein Internat (ein Gymnasium) für alle Kinder von Generälen und von hohen Funktionären der kommunistischen Partei. Der Gründer dieser Internatsschule war kein geringerer als der Lehrer von Mao gewesen. Später ist unsere Schule eine der bekanntesten Schulen nicht nur Beijings, sondern von ganz China geworden, in der Kinder aller hohen Funktionäre ihre Ausbildung erfahren haben. Viele von ihnen sind später sehr erfolgreiche Politiker und Prominente geworden, einige sogar Minister. Der Name dieser meiner Schule ist jedenfalls immer mit größtem Respekt genannt worden und hat bis in die Zeit der Kulturrevolution hinein und darüber hinaus in hohem Ansehen gestanden.
Im Einklang mit ihrem kontinuierlich guten Ruf stand bereits die großzügige Einrichtung unserer Schule. Es gab hier alles, wovon man nur träumen konnte: angefangen von großen Sportstätten über ein Schwimmbad, einen kleinen Zoo, über Lehrerwohnungen und Schülerwohnheime bis hin zu einem eigenen Kindergarten und selbst einer eigenen Klinik. Die zahlreichen großen und kleinen Hallen der vormaligen Tempelanlagen, von denen oben die Rede war, wurden umfunktioniert. Die größte Halle diente jetzt als Aula und Kino, die kleineren Hallen und Innenhöfe wurden als Wohnheime für Lehrer wie Schüler umgebaut. Die ehemalige Halle, in die