Maos eisernes Mädchen. Benjaporn vom Hofe
Mein Vater hatte wahrscheinlich am Tag der Anreise der Großmutter schon zumindest geahnt, dass auch er nicht verschont werden würde. Im Spiegel meiner späteren Erinnerung habe ich die erlebte Bahnhofsszene anders beurteilen gelernt. Die für mich damals rätselhafte und unverständliche Verabschiedung der gerade erst Angekommenen schien nun eine besonnene und vernünftige Entscheidung. Meiner Großmutter, der, wäre sie bei uns in Beijing geblieben, wahrscheinlich auch große Probleme wegen ihres früheren sozialen Status als Grundbesitzerin entstanden wären, sind auf diese Weise bestimmt viele Unannehmlichkeiten erspart geblieben. Auf jeden Fall hat sie unter diesen Umständen nicht Zeuge der schrecklichen Schikanen und entwürdigenden Demütigungen werden müssen, die bald auf meinen Vater zugekommen sind. Die dunklen Rätsel und Geheimnisse der Familienszene am Bahnhof waren wenigstens für mich also noch in ein neues Licht gerückt, wenn auch in ein Licht, das viele dunkle Schatten vorauswarf.
MEIN ERSTER SLOGAN
Im Sommer 1966 verkündete unser Grundschuldirektor auf einer Schulversammlung mit ernster Miene ein brandneues Ereignis: Eine von Mao eigenhändig verfasste Wandzeitung mit dem Titel »Bombardiert die Hauptquartiere« sei veröffentlicht worden. Der Große Vorsitzende habe damit in poetischen Worten an alle appelliert: »Man sollte es endlich wagen, den Kaiser von seinem Ross herunterzuziehen!« Mit diesem Aufruf und mit dem »Kaiser«, so erklärte er uns, habe Mao alle Funktionäre gemeint, alle, die den kapitalistischen Weg eingeschlagen hatten, wie man gemeinhin damals sagte. Diese müsse man jetzt öffentlich kritisieren und entschieden verfolgen. Eingeschlossen in den Kreis dieser Feinde wären alle Revisionisten, Antirevolutionäre und alle Vertreter der Bourgeoisie. Alle, die zur ausbeutenden Klasse gehörten, die müssten jetzt von ihrem hohen Ross geholt und zurückgeschlagen werden.
Unser Grundschulleiter erklärte uns dann die größeren Zusammenhänge dieses neuen Aufrufs. Der Vorsitzende Mao hätte von »vier großen Ideen« gesprochen: vom »Großen Krähen« (gemeint sind agressionsfreudige Reden) von der »Großen Gedankenbefreiung«, der »Großen Diskussion« und der »Großen Wandzeitung«. Und er hätte befohlen, man sollte ein mutiger Vorkämpfer sein, man dürfe künftig »keine Scheu mehr vor dem Himmel, vor der Erde, vor Geistern und vor Teufeln haben.«
Unser Grundschulleiter nahm des weiteren Maos Worte zum Anlass, uns Schüler alle zur tatkräftigen Mitwirkung in diesem jetzt gebotenen Kampf aufzurufen. Wir sollten uns doch die Studenten aus der Pekinger Universität zum Vorbild nehmen. Wie Paris die Welt der Mode anführt, so bildet die Beijing Universität bei jeder politischen Bewegung die Lokomotive. Einige unserer Lehrer waren schon zur Beijing Universität wie nach Mekka oder nach Jerusalem gepilgert und hatten uns enthusiastisch über die dortigen Aktivitäten berichtet. Die Studenten hätten bereits voller Begeisterung damit begonnen, die Ideen des Großen Vorsitzenden Mao in die Praxis umzusetzen und damit eindrucksvoll gezeigt, wie man die rote Fahne Maos hissen muss. Auch wir hätten uns nun um die Interessen der Partei zu kümmern und uns um den Vorsitzenden Mao zu scharen, hätten alle Subversionspläne der Revisionisten, sobald wir davon hörten, aufzudecken und öffentlich bekannt zu machen.
Wir konnten damals Sinn und Bedeutung dieses Aufrufs wohl noch nicht so richtig begreifen, aber wir hatten doch eine Ahnung davon, dass es sich hier um eine sehr wichtige Angelegenheit handeln musste. Unser Grundschulleiter hatte eine gewisse Ratlosigkeit in unseren Gesichtern erkannt und deshalb versucht, uns klar zu machen, was das für uns Schüler konkret zu bedeuten hätte. Er forderte uns auf, dem Aufruf Maos zur Herstellung einer Wandzeitung, die inzwischen schon wie ein politisches Manifest angesehen wurde, Folge zu leisten und jetzt auch »in die Schlacht zu ziehen« und alle Feinde, alle konterrevolutionär gesinnten »Revisionisten«, die man inzwischen meistens metaphorisch »Rinderdämonen« und »Schlangengeister« nannte, tatkräftig »niederzuschlagen«. Erst allmählich dämmerte es mir, was vielleicht damit gemeint sein könnte und was das heißen würde. Was man unter den Konterrevolutionären und Ausbeutenden zu verstehen hätte, das war nicht so schwer zu begreifen. Aber was sollten wir uns unter den »Revisionisten« vorstellen? Wer zählte denn zu dieser Personengruppe? Unser Grundschulleiter versuchte uns auf die Sprünge zu helfen. Darunter wären alle Funktionäre zu verstehen, die sich von den ursprünglichen Zielen von Karl Marx, Friedrich Engels, von Lenin und Stalin abgewandt hätten. Aber nicht nur von ihnen. Hier wären auch diejenigen Funktionäre gemeint, die sich über die Masse der Bevölkerung erhoben hätten. Aber selbst diese Erklärungen konnten uns anfänglich wenig helfen, eine deutlichere Vorstellung, ein klareres Bild von der vielgeschmähten Gruppe der Revisionisten zu gewinnen. Ich glaubte insgeheim, vielleicht würde unser Grundschulleiter ja selber nicht so genau wissen, wer und was hier öffentlich zu kritisieren wäre. Was man unter »Schlangengeistern« und »Rinderdämonen« zu verstehen hatte, das immerhin wusste ich. Waren hiermit doch nach chinesischem Volksglauben böse Geister bezeichnet, die eine menschliche Gestalt annehmen konnten und in aller Regel Unglück brachten. Wir alle waren also jetzt aufgefordert, diese bösen Geister in unseren Mitmenschen zu erkennen und sie zu enttarnen. Auch wir Schüler sollten von allen, die gegen die Diktatur des Proletariats, die gegen Mao und gegen die Partei aufgestanden waren, deutlich Abstand nehmen und sollten solche Mitmenschen als feindliche »Dämonen« entlarven und öffentlich kritisieren.
Nachdem wir diese unsere Mission allmählich zu begreifen gelernt hatten, erfasste uns eine wahre Leidenschaft für diese unsere große Aufgabe. Der Appell unseres Schulleiters bewirkte bald in unserer Einheit einen unglaublichen Aufschwung. Unsere Stimmung, unser aufflammender Enthusiasmus kannte mit der Zeit keine Grenzen mehr. Von einem normalen Unterrichtsalltag konnte fortan keine Rede mehr sein. Wir alle fühlten uns verpflichtet und auch stolz und stark genug, aktiv an der Revolution teilzunehmen und eine wichtige Rolle in der Kulturrevolution zu spielen. Alle wollten nun ihren Mut unter Beweis stellen, einen Tiger zu streicheln und einen Kaiser von seinem Ross zu stürzen (wie man damals bei uns Chinesen zu sagen pflegte). Den Pinsel sollten und wollten wir als Waffe in die Hand nehmen und diese gezielt auf die »Schwarzen Gruppen« (gemeint waren alle oben genannten Feinde und »Bösewichter«) richten. Alle wollten wir nun Vorkämpfer auf dem Weg zur Revolution werden! Aber wir alle machten jetzt auch unsere Augen weit auf und schauten sogar kritisch auf unsere Lehrer und Schulleiter, ob sich vielleicht auch unter ihnen verborgene »Schlangengeister« und »Rinderdämonen« oder andere verdächtige Feinde versteckt hielten, die letztlich auf eine Gelegenheit lauerten, das sozialistische System zu bekämpfen, es zu schwächen oder sogar zu beseitigen. Möglicherweise gab es selbst in unseren eigenen Reihen solche gefährlichen feindlichen Elemente, heimliche Anhänger der Bourgeoisie und maskierte Revisionisten, die uns vom rechten Weg abbringen wollten.
Alle Lehrer und Schüler befanden sich wie in einem Rausch, an einer so großen Aufgabe mitwirken zu können. Jedes gesprochene Wort des Gegenübers wurde nun auf die Goldwaage gelegt. Wir Schüler machten beinahe einen Sport daraus, die Verhaltensweisen aller Lehrer unter die Lupe zu nehmen, besonders natürlich, wenn diese in gehobenen Positionen mit leitenden Funktionen waren. Wir glaubten uns hierzu berechtigt, hatten die Lehrer selbst uns ja dazu angehalten. Und hatten wir doch in allen Klassen buntes Wandzeitungspapier, Pinsel, Tinte und Klebstoff erhalten und waren ermuntert worden, alles Verdächtige aufzuschreiben und gegen alle, die uns verdächtig schienen, mit unserem Schreibzeug zu Felde zu ziehen.
Der größte Teil unseres Schulunterrichts bestand jetzt aus Diskussionen, aus dem Lesen neuer Artikel der Volkszeitung und der Interpretation neuer Richtlinien der Partei, deren Verständnis zu vermitteln jetzt offenbar die wichtigste pädagogische Aufgabe unserer Lehrer schien. Immer wieder hatte man uns über die neuste revolutionäre Entwicklung anderer Einheiten, Universitäten und Schulen berichtet. Dabei mussten wir bald leider selbstkritisch feststellen, dass wir mit unseren Aktivitäten weit hinter anderen Institutionen zurückgeblieben waren. Wir hatten uns wirklich zu beeilen, noch auf den bereits abgefahrenen Zug der Revolution aufzuspringen, um ihn am Ende nicht zu verpassen. Die Volkszeitung hatte schließlich in uns allen mit dem Slogan »Schwingt euren Pinsel wie ein Gewehr, zielt auf die lauernden Feinde unter euch und erschießt sie!« neuen Elan erweckt. Jetzt waren wir Feuer und Flamme und stürzten uns mit Macht und übereifrig auf das Schreiben von Wandzeitungen.
Mittlerweile besuchte ich die dritte Klasse und konnte auch schon ganz anständig schreiben. Sogar ein wenig Kalligraphie hatte ich unter der