Maos eisernes Mädchen. Benjaporn vom Hofe
mit der sich die Kommunisten solidarisch erklärten.
Ich hatte die beschwichtigenden Erklärungen meiner Mutter damals noch nicht ganz begriffen, aber sie hatten doch die Wirkung einer Beruhigung. Ich fand mich in meiner kindlichen Begeisterung und Aktivität für die Ziele der kommunistischen Revolution (der Kulturrevolution) durchaus bestätigt und sah zuversichtlich in die Zukunft. Eine Bestätigung blieb auch von anderer Seite nicht aus. Meine Wandzeitungsartikel und Karikaturen im Dienst der Revolution wurden jetzt von allen immer wieder bewundert. Alle fanden sie ausgezeichnet und komisch. Ich durfte mich beinahe in einem Rausch baden.
Und in meinem Übermut wollte ich jetzt auch meinen Eltern und unseren Nachbarn imponieren und ihnen demonstrieren, wie gut ich inzwischen außerdem in der Technik der Kalligraphie vorangekommen war. Dazu diente mir als Muster ein Slogan, für den ich extra ein ungewöhnliches grünes Papier aussuchte, auffällig genug, weil die meisten ihre Slogans auf ein rotes Papier schrieben. Ich nahm einen besonders großen Pinsel und malte überaus sorgfältig und in kalligraphischer Manier, wobei ich mich wahnsinnig anstrengte, einen Slogan hin mit dem Wortlaut: »Nieder mit allen Schlangengeistern und Rinderdämonen!« Damit die hier beschworenen Geister und Dämonen in meiner Kalligraphie auch recht lebendig und bedrohlich wirkten, hatte ich versucht, die Formen der Bögen und Striche so zu konturieren, dass sie geradezu in weitem Schwung herumtanzten und dass sie bösen Geistern wirklich ähnlich schienen. Damit jeder auch sehen konnte, dass die schöne Kalligraphie von meiner Hand stammte, hatte ich unter den Slogan sogar meinen Namen geschrieben, was eigentlich nicht üblich war. Dann hatte ich das frisch hergestellte Blatt auf die Vorderwand unseres Wohngebäudes gehängt. So wurde man tatsächlich auf meinen Slogan sofort aufmerksam, und ich konnte schon am selben Abend die erste Ernte einer wahren Bewunderung einfahren.
Als ich am zweiten Tag von der Schule nach Hause kam, noch ganz in stolzen Gedanken über meine gelungenen Karikaturen, trug ich mich in der Hoffnung, neue Lobgesänge meiner Nachbarn wegen meines Slogans vor unserem Haus zu hören. Bestimmt hatten noch nicht alle bemerkt, dass die schöne Kalligraphie dieses Slogans doch von mir stammte. Näher gekommen sah ich eine aufgeregte Menschenmenge vor unserem Haus versammelt. Mich erfasste bei diesem Anblick ein jäher Schrecken, besonders als ich meinen Vater mitten in diesem Kreis entsetzlich erregter Menschen wahrnehmen musste. Bei näherem Hinsehen war er offenkundig von Rotgardisten umringt. Diese schienen meinen Vater mit einem Schwall entsetzlicher Vorwürfe zu bombardieren. Mein Vater verhielt sich vergleichsweise besonnen und gefasst und schien mit einer entschlossenen Handbewegung etwas wie eine Erklärung abzugeben. Aber seine Worte versandeten in dieser Brandung der brüllenden und schreienden Menschenmasse. Einige der Rotgardisten wurden sogar handgreiflich gegen ihn. Soweit ich es verstehen konnte, schleuderten ihm die Rotgardisten kritische Worte wie »Revisionist«, »Abweichler auf dem kapitalistischen Weg« »Konterrevolutionär«, und ähnliche Schimpfworte ins Gesicht.
Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich sah meinen Vater, wie er sich hilflos zu wehren versuchte, aber gegen diesen Mob überhaupt keine Chance hatte. Ich ahnte Fürchterliches.
In dieser Situation stach mir der grüne Slogan an der Wand vor unserem Haus in die Augen, der Slogan, den ich in auffälliger Kalligraphie angefertigt und einen Tag zuvor dort aufgehängt hatte. Jetzt leuchtete er mir grell und giftiggrün entgegen, und mit Entsetzen sah ich blitzartig einen mir bisher unbekannten Zusammenhang zwischen meinem Slogan und der heutigen Attacke auf meinen Vater. Jetzt machte ich mir die schlimmsten Vorwürfe. Hatte ich doch den Teufel an die Wand gemalt, und dieser war nun tatsächlich erschienen in der Gestalt von Rotgardisten, die meinen Vater in die Hölle verbannen wollten. Ich selber hatte dazu mit meiner Kalligraphie unwissentlich beigetragen, und ich selber hatte mich damit schuldig gemacht und meinen Vater durch meinen Slogan mitangeklagt.
Spät an diesem Abend, noch in der Dunkelheit schlich ich reumütig aus dem Haus und riss das Papier mit meinem Slogan, den ich doch so stolz und selbstgewiss auf die Wandzeitung gemalt hatte, von der Wand ab, faltete das giftgrüne Teufelsblatt zusammen und warf es in den Müll, in der Absicht und in der naiven Hoffnung, den Teufel aus unserem Haus verbannen zu können.
WANDZEITUNGEN
Nachdem Lehrer wie Schüler durch einen politischen Aufruf zum Widerstand gegen alle revisionistisch gesinnten Autoritäten und zur Kritik aller bürgerlichen Lebensformen verpflichtet worden waren, kam es in unserer Einheit zu einer nachhaltig aggressiven Stimmung, die alle erfasste und zu einer Flut hektischer Aktivitäten führte. Alle sahen sich nun aufgefordert und legitimiert, ihre Spionagefähigkeit zu mobilisieren und mit Entschiedenheit gegen die versteckten Feinde von Maos neuem kommunistischen System zu Felde zu ziehen. Da es aber keine verbindlichen Bestimmungen und Regelungen gab, was denn genau unter einem Revisionisten oder einem bürgerlich orientierten Abweichler zu verstehen sei und woran man mit Gewissheit erkennen könne, ob jemand auf den kapitalistischen Weg geraten sei und diesen nun propagiere, kam es oft zu fragwürdigen Diskriminierungen. Denn jeder interpretierte Denk- und Verhaltensweisen seiner Mitmenschen nach seinen eigenen Vorstellungen. Die Gefahr falscher Diagnosen und fragwürdiger Entlarvungen war groß. Die beliebtesten Mittel öffentlicher Diffamierung waren die Wandzeitungen, die jetzt wie Schneeflocken vom Himmel fielen. Anfänglich hatten sie höchstens einen Umfang von zwei Seiten, aber mit der Zeit wurden sie immer länger. Schließlich konnten sie kein Ende finden und sie wurden serienweise ausgehängt. Es währte nicht lange, und alle Außenwände unserer Schule waren damit übersät. Alle Schulgebäude sahen aus, als wären sie in bunte Pappe eingehüllt. Nicht einmal Baumstämme wurden verschont.
Als zuletzt die Außenwände nicht mehr ausreichten, hatte man auch die Aula, die Sporthallen und etliche Klassenräume in Wandzeitungsräume umfunktioniert. Für meinen Vater, der als bedeutender Funktionär offenbar einen besonderen Fall ausgiebiger Diskriminierung darstellte, hatte man sogar mehrere Extraräume reserviert, in denen alle Wandzeitungen hingen, die ausschließlich ihm galten. Wenig später sah sich dann auch meine Mutter als die Frau dieses exemplarischen »Revisionisten« betroffen. Auch ihr widerfuhr die »Ehre«, mit einem gesonderten Klassenraum für nur ihr gewidmete kritische Wandzeitungen bedacht zu werden.
Angesichts solcher Umtriebe lag es nahe, wenn mich die Neugierde zu einer scharfen Beobachterin werden ließ. Ich wollte natürlich wissen, welche »Sünden« denn meine Eltern begangen haben sollten, und mischte mich täglich unter die erwachsenen Besucher der Wandzeitungsräume. Ich hatte zu der Zeit schon drei Jahre die Schule besucht und konnte schon ganz gut lesen. So war ich in der Lage, die Wandzeitungen zu studieren, wobei ich erst einmal alle Schlagzeilen überflogen und dann herzklopfend die Artikel genauestens angeschaut habe, die mir am sensationellsten zu klingen schienen. Dies geschah freilich immer in meiner arglosen Hoffnung, die Sünden, die den Betroffenen dort vorgeworfen wurden, wären womöglich gar nicht so schwerwiegend. Sprachlich glaubte ich tendenziell die Texte weitgehend zu verstehen, doch da mir viele Begriffe fremd waren, konnte ich vieles doch nicht ganz begreifen. Ich wusste lediglich, dass die mir unbekannten Wörter etwas Negatives bedeuten sollten, was aber genau gemeint war, das blieb mir oft rätselhaft. Was sollte das eigentlich heißen, wenn vom »Kapitalistischen Weg«, vom »Revisionismus« die Rede war oder vom »Wiederherstellen des alten Systems«? Bei meinem Vater war meist dessen »falscher Weg« kritisiert worden. Ich war irritiert.
Da alle Wandzeitungen signiert waren, konnte jeder wissen, wer dafür verantwortlich zeichnete. Darunter waren auch mir vertraute Namen, sogar von Personen, die mein Vater beruflich gefördert hatte. Jetzt musste er den von ihm selbst gebrannten Schnaps trinken, der inzwischen nicht nur einen bitteren Geschmack gewonnen, sondern sich sogar in Gift verwandelt hatte.
Furchtbar erschrocken aber war ich, als mir auf einer Wandzeitung plötzlich die Wörter »seine Tochter« in die Augen fielen und hier ausdrücklich von mir die Rede war. Da begann mir das Herz bis zum Halse zu klopfen. Jetzt hatte man tatsächlich auch bei mir etwas zu kritisieren gefunden, legte auch mir eine »Sünde« zur Last! Genauer gesagt war von meinem Vater die Rede, der seine Position missbraucht habe, indem er seine Tochter ein Jahr früher als üblich hatte einschulen lassen. Die Vorschrift besagte, der Schlusstag für die jeweilige Einschulung sei der 30. August eines Jahres. Mein Geburtstag aber fällt auf den 14. September. Ich hätte also erst ein Jahr später beginnen dürfen, in der