Neuseenstadt 2040. Ricarda Stöckel
an meinen Frankfurter Schwiegersohn erinnerte. »Ja, bitte«, sagte ich und schaute ihn voller Erwartung an, während ein Duft nach Aftershave meiner Nase schmeichelte. Und dann kam die Frage. Alles hatte ich erwartet, doch nicht: »Würden Sie in ein Altersheim ziehen?«
Die Wellen auf dem See kräuselten sich stärker. Der Wind blies auf meine nackten Arme, die sich mit Gänsehaut überzogen. Mein Gesicht glühte und ich drehte mich von dem Blonden weg, um meine schwarze Strickjacke aus der Tasche zu holen.
Von wegen jung und attraktiv! Wie hatte ich mir bloß einbilden können, der Fremde würde mit mir flirten wollen? Eine Unverschämtheit, diese Frage: Ich war fünfundfünfzig Jahre alt. Natürlich zu alt, das hatten sie mir schon vor einem Jahr beim Rauswurf aus der Firma zu verstehen gegeben. Unnütz, alt, ungeliebt – der Sumpf in meinem Kopf hatte den kecken freudigen Gedanken bereits wieder verschlungen. Was bildete der Kerl sich ein? Wollte er provozieren?
»Finden Sie mich so alt und hinfällig?« Ich legte eine Portion Wut in meine Antwort. Doch der Mann, der bestimmt auch schon länger den vierzigsten Geburtstag hinter sich hatte, ließ sich nicht beirren. »Ich sollte mich wohl erst einmal vorstellen: Enrico Sommer ist mein Name. Ich finde nicht, dass Sie alt aussehen, im Gegenteil. Ich frage aus einem beruflichen Grund. Warum möchten Sie auf keinen Fall in ein Heim ziehen?«
Die Mischung aus Freundlichkeit und Sachlichkeit in seiner Stimme besänftigte mich. Eine einfache Frage, die Antwort verlangte: »Um Himmels Willen, so ein Altenghetto ist doch furchtbar. Nur mit Siechtum und Tod konfrontiert zu werden, das ist kein Leben, da geht man ein wie eine Primel, selbst wenn man noch nicht krank ist!«
»Ich habe andere Erfahrungen gesammelt«, sagte der Fremde immer noch mit ruhiger Stimme. »Aber sagen Sie mir doch, wie Sie sich wünschen, im Alter zu wohnen, wenn Sie ohne Hilfe nicht mehr auskommen?«
Jetzt wurde es schwieriger. Etwas abzulehnen ist einfach. Aber um eine vernünftige Alternative zu finden, müsste ich gründlicher nachdenken. Ich hatte genug Sorgen. Sollte ich mir jetzt auch noch ein Leben ausmalen, in dem ich alt, krank und pflegebedürftig sein würde? Welche Zumutung!
Wieder erreichte mich die tiefe Stimme: »Schön ist es hier am See, lieben Sie ihn auch so wie ich? Hier müsste man wohnen«.
Das war der entscheidende Satz. Er gab mir plötzlich das Gefühl, mit dem offensichtlich aus Hessen stammenden Menschen auf einer Wellenlänge zu sein. Meine Fantasie diktierte mir einen Wunschzettel für mein Alter. Es wurde eine Spinnstunde daraus. So angeregt hatte ich mich lange mit niemandem unterhalten. Ich fühlte mich richtig gut, als ich auf mein Fahrrad stieg und nach Hause radelte. Das Lachen von Enrico Sommer behielt ich noch lange im Ohr. Zum Abschied hatte ich ihm meinen Namen genannt: Jutta Herbst.
1. KAPITEL – DIENSTAG, 26. JUNI 2040
»Dienstag, 26. Juni 2040, 7.00 Uhr« leuchtet die Schrift in deutlich lesbaren orangefarbenen Zeichen auf dem hellgrauen großen Wandbildschirm, als Jutta Herbst aufwacht. Nach den letzten Tönen ihrer gewählten Musik von Peter Tschaikowski erscheint eine junge Sprecherin mit blonden, wirren Locken auf dem Monitor.
»Guten Morgen, liebe Hörer der Welle Frohe Leipziger. Wir erwarten einen heißen, sonnigen Tag. In diesem Programm informieren wir Sie über Aktuelles aus Leipzig, Sachsen und Deutschland. Für Meldungen und Informationen aus Neuseenstadt und dem Wohngebiet Sommerlust drücken Sie die Zwei Ihrer Fernbedienung oder sagen Sie Zwei. Wenn Sie einfach nur Musik hören möchten, sagen oder drücken Sie Drei. Wenn Sie Musik oder einen Film auswählen möchten, drücken Sie Vier. Die Fünf verbindet Sie mit einem Mitarbeiter von ServiceAktiv und mit der Sechs können Sie sich ins allgemeine Telefonnetz einwählen.«
Nichts davon, denkt Jutta, heute muss ich mich auf den Tag konzentrieren. Sie schaltet die Spracherkennung und den Monitor mit ihrer am Bett montierten Fernbedienung aus – eines von mehreren in der Wohnung verteilten einfachen Bedienelementen – und streckt sich. Wie jeden Morgen schmerzen die Rückenmuskeln. Aber sie weiß, dass das unangenehme Gefühl bald erträglich sein oder verschwinden wird, wenn sie in Bewegung gerät und ihren Medikamentencocktail getrunken hat.
Nach dem Toilettengang und dem kleinen Piks in den Finger schaltet sich der Bildschirm auf dem Badspiegel ein: »Ihre Vitalwerte sind in Ordnung, es ist keine Arztkonsultation notwendig«, erklärt eine Zeichentrickfigur mit dem Aussehen einer Krankenschwester. »Der Medikamentenmix für heute ist programmiert, nehmen Sie das erste Glas 7.30 Uhr zu sich. Sie haben noch fünfzehn Minuten Zeit für Ihre Übungen.« Eigentlich hat Jutta keine Lust, auch nur den kleinen Finger zu rühren. Vielleicht sollte sie sich lieber kurz in ihren Massagesessel setzen? Doch sie weiß, dass die auf ihren körperlichen Zustand zugeschnittenen Gymnastik- und Atemübungen wichtig für sie sind. Und so ahmt sie im Wohnzimmer mühsam die Bewegungen der Zeichentrickfigur nach, die jetzt auf dem Bildschirm an der Wand erscheint und wie eine Sporttrainerin aussieht. Folgsam kreist sie die Arme und das Becken, beugt und streckt den Rücken.
Sie erschrickt, als aus der Wohnung über ihr ein mächtiges Poltern davon kündet, dass sich die beiden kleinen Jungen wieder mal streiten und dabei mit einem Plastikfahrzeug an die Wohnzimmertür donnern. Erst vor einigen Tagen hat ihr die junge Mutter der im Frühjahr eingezogenen Familie Schulze erklärt, dass das Kinderfahrzeug mit »flüsterleisen« Rädern ausgestattet sei. Die temperamentvollen Sprösslinge würden Jutta hoffentlich nicht stören. Gleich darauf ertönt durchdringendes Kindergeheul, Geschrei der jungen Frau und des anderen Jungen. In Momenten wie diesem ist Jutta froh zu wissen, dass in der nächsten halben Stunde wieder Ruhe einzieht, wenn die kleinen Streithähne vom Kindergarten-Wegeservice abgeholt werden oder sich mit ihrer Mutter in den Kindergarten begeben. An welchen Tagen die Familie diesen von Juttas Firma ServiceAktiv vermittelten Transport nutzt, hängt von den wechselnden Dienstplänen der Eltern ab.
Trotz der gelegentlichen Lärmattacken ist sie glücklich, in dieser schönen Wohnung zu leben, die zu einem generationsübergreifenden Wohn- und Gewerbegebiet gehört, das in den letzten dreißig Jahren entstanden und gewachsen ist.
Während sie ihre Medikamentenmischung trinkt, denkt sie über den am Vormittag bevorstehenden Termin nach. Eine Reporterin möchte sie interviewen. Fünfundzwanzig Jahre ist sie jung, weiß sie von Enrico Sommer, der das Treffen arrangiert hat. Jutta steht nicht gern im Mittelpunkt und möchte nicht über sich und ihre Familie ausgefragt werden. Mit ihren Falten und dem alternden Körper von der Kamera eingefangen und auf zahlreiche Bildschirme projiziert zu werden, bedeutet Horror pur für sie. In drei Wochen wird sie den neunzigsten Geburtstag und ihr dreißigjähriges Geschäftsjubiläum feiern. Also hat sie zugestimmt. Es ist viel schief gelaufen in ihrem Leben, doch auf diese späte Leistung ist sie stolz. Je bekannter ihr Geschäftsmodell wird und je mehr Nachahmer es findet, desto größer ist der Erfolg. Also wird sie darüber erzählen, solange sie das noch kann.
An das Frühstücksbuffet im Gemeinschaftshaus mag Jutta nicht gehen, sie rührt am Küchentisch ihr Müsli zusammen und löffelt es noch im Nachthemd. Sie will sich nicht vor Aufregung ihre Kleidung bekleckern. Ihr Blick fällt auf die Plastikseiten der gestrigen Tageszeitung. Doch sie wird sich die aktuelle Ausgabe erst am Mittag herunterladen, wenn sie dieses Gespräch hinter sich hat, jetzt kann sie sich ohnehin nicht konzentrieren. Oder doch wenigstens die Seiten, die ihre Firma betreffen? Denn die wird sie nachher der Journalistin – ach nein – Medialistin heißt das heute – auch zeigen. Vorerst muss sie sich der Kleiderfrage widmen. Ausgerechnet heute soll es so heiß werden, dass Jutta es im Freien nicht aushält, aber garantiert im klimatisierten Raum friert. Sie greift zu ihrer atmungsaktiven grünen Lieblingsbluse und der beigen Hose aus einer hauchdünnen und blickdichten Brennnesselfasermischung. Erst vor zwei Wochen hat sie diese sich auf der Haut so angenehm anfühlende Hose im neuen Geschäft der Bornaer Naturfaserfabrik in Neuseenstadt gekauft und seitdem fast täglich getragen. Noch die praktische Magnetverschlusskette umgelegt, mit der Bürste durch die spärlich werdenden grauen Haare gefahren und einen kurzen Gedanken Dankbarkeit zugelassen, dass sie das alles noch selbstständig verrichten kann. Ihre Mutter war mit siebenundsiebzig Jahren im Pflegeheim gestorben. Nach einem Schlaganfall hatte die ehemalige Krankenschwester drei Jahre in hilflosem Zustand verbracht, gelähmt und mit Komplettausfall des Sprachzentrums. Gerade in dieser Zeit hatte Jutta nach längerer Arbeitslosigkeit