Neuseenstadt 2040. Ricarda Stöckel
den angenehm dezenten Parfümgeruch.
»Wo können wir uns unterhalten? Herr Sommer hat mir schon einiges über das Wohnen hier erzählt, ich bin gespannt!« Jutta fühlt sich bei Sandras Anblick an einen Papagei erinnert, doch ihr Gesicht und die Stimme wirken sympathisch. Eigentlich wollte Jutta das Gespräch so schnell wie möglich hinter sich bringen. Sie weiß selbst nicht, warum sie sich überrumpeln lässt von Sandras Vorschlag. »Herr Sommer hat mich überzeugt, dass ich Sie über einen längeren Zeitraum begleite, bei Ihrer Arbeit und in der Freizeit. Erst dann kann ich mir wirklich vorstellen, worin Ihr Erfolgsgeheimnis besteht.«
Auch das noch, das war nicht abgemacht, ich will mich nicht die ganze Zeit beobachten lassen, wehrt Jutta innerlich ab. Doch plötzlich lächelt sie in das offene Gesicht ihres bunten Gegenübers: »In Ordnung, aber bitte nicht die ganze Zeit mit der Kamera.« Sandra nickt und bietet der alten Dame beim Verlassen des Chefzimmers ihren Arm an.
»Haben Sie so viel Zeit für uns? Arbeiten Sie freiberuflich?«, fragt Jutta, bevor sie Sandra für ein erstes Gespräch zu ihrem Lieblingsplatz an den See bringt. Das kleine Restaurant mit dem schattigen Garten unter hohen Kastanien gefällt offensichtlich auch der Reporterin.
Gebannt schaut sie der alten Frau in die Augen. Doch bevor Sandra antworten kann, kommt eine Frau etwa in Juttas Alter mit einem Fahrzeug angerollt, eine Mischung aus motorisiertem Rollstuhl und Servierwagen. Sie reicht den Gästen die elektronische Plastik-Speisekarte und fragt: »Oh, Frau Herbst, Ihre Enkelin ist wohl doch einmal zu Ihnen gekommen?«
Nach einem Blick in das plötzlich traurige Gesicht ihrer Gesprächspartnerin antwortet Sandra: »Nein, ich bin Medialistin und ich berichte über Frau Herbst und ihre Firma.«
Jutta bemüht sich, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen, und wendet sich Sandra zu: »Ich lade Sie ein. Möchten Sie auch einen Eiskaffee? Der ist sehr zu empfehlen. Und guten Kuchen gibt es hier, falls Sie bei dieser Hitze darauf Appetit haben. Oder wollen Sie lieber ein Eis?«
»Nein danke, ich nehme einen Eiskräutertee mit Zitrone und ohne Zucker. Ich habe schon gut gefrühstückt.«
Ob das stimmt? Aber es geht mich nichts an, ob die junge Dame verhungert. Kommen wir endlich zum Thema.
Die Kellnerin ist fast geräuschlos zur Küche gerollt. »Hier arbeiten aber viele alte Leute«, stellt Sandra fest und klopft sich mit der Hand auf den Mund. »Verzeihung, war das jetzt taktlos von mir?« Jutta lächelt und sagt mit wieder fester Stimme: »Das gehört zu unserem Konzept, ich erkläre es später genauer. Ist es nicht wunderbar, bei dieser Hitze hier im Schatten unter den Bäumen zu sitzen, viel besser als in klimatisierten Räumen?«
Sandra nickt und fragt: »Ist es überall im Neuseenland so schön wie hier, dass man auf dem Promenadenweg um den See herum Fahrrad fahren und laufen kann? Ich habe noch nicht sämtliche Seen erkundet, seit ich von Dresden nach Leipzig gezogen bin. Aber ich war vor einigen Jahren mit meinen Eltern am Genfer See – da sind große Uferbereiche von Privatgrundstücken zugebaut.«
»Ich bin sehr froh, dass der Uferstreifens hier für alle Menschen frei geblieben ist. 2015 haben alle Akteure, die mit der Entwicklung der Region zu tun hatten, nach mehr als dreijährigen Entwürfen, Streitgesprächen, Bürgerveranstaltungen und Planungen städte- und länderübergreifend die »Charta Leipziger Neuseenland 2030« festgelegt. Hier wurde damals die Zukunftsstrategie des Leipziger Neuseenlandes formuliert, als Rahmen und Wertmaßstab der regionalen Entwicklung.«
»Ist das ein Gesetz?«
»Nein, es ist Selbstverpflichtung und Arbeitsgrundlage für alle, die konkrete Projekte in der Seenlandschaft realisieren. Wer versucht, diese Charta zu umgehen, erntet heftige Bürgerproteste. So wurden unsinnige Baumaßnahmen verhindert, die die einmalige Landschaft zerstört hätten. Für mich ist die Entwicklung dieses Gebietes ein gelungenes Beispiel von Demokratie, von privatem Unternehmertum und bürgerschaftlichem Engagement.«
»Das klingt alles viel zu schön, um wahr zu sein. Aber berichten Sie mir am besten von Anfang an, wie sich das Wohngebiet und Ihre Firma entwickelt haben. Ich bin gespannt!«
Jutta Herbst beginnt zu erzählen: »Die Kastanien wurden vor fünfunddreißig Jahren gepflanzt, damals standen hier zwei einsame Bänke am See. Weitere fünfzehn Jahre vorher hatten die Menschen der Region nach der friedlichen Revolution in der DDR an diesem Ort den Braunkohletagebau gestoppt. Erst danach entwickelte sich die schöne Seenlandschaft. Die Geschichte meiner Firma begann genau hier und bevor die Bäume in den Himmel wuchsen. Als ich Enrico Sommer 2005 auf der Bank am See kennenlernte, sprachen wir über seine Pläne, eine neue Siedlung aufzubauen. Hier sollte das Leben auch für ältere und hilfsbedürftige Menschen lebenswert und selbstbestimmt sein. Aber es sollte keinesfalls ein Wohngebiet nur für alte Leute entstehen, sondern für alle Altersgruppen. Schnell war klar, dass zum Wohnen der Zukunft für junge und alte Menschen mehr Service gehört als damals üblich war. Es zeichnete sich schon ab, dass durch den demografischen Wandel viel mehr Menschen Dienstleistungen benötigen als sie von den vorhandenen Arbeitskräften geleistet werden können. Auch jüngere Menschen brauchen zunehmend Serviceleistungen, um ihren anstrengenden Alltag zu bewältigen. Bei meiner Arbeit in der Freiwilligenagentur lernte ich zahlreiche Senioren kennen, die für eine sinnvolle Aufgabe gebraucht werden wollten. Dabei war fast allen wichtig, über die Art und den Umfang ihrer Tätigkeit selbst zu bestimmen. Sie wollten geistig fit bleiben, soziale Kontakte pflegen, anderen helfen, Wissen weitergeben. Für viele war das wichtiger als Bezahlung. Doch die meisten Senioren wünschten sich zusätzlich eine gerechte Entlohnung für ihre Leistung. Deshalb suchten viele Pensionäre bezahlte Jobs, um ihre Rente aufzubessern und sich etwas mehr Annehmlichkeiten leisten zu können.
Natürlich gab und gibt es auch Menschen, die nach einem langen und harten Berufsleben einfach nur noch ihre Freiheit genießen und sich zu keiner neuen Aufgabe zwingen lassen wollen. Auch das muss man akzeptieren. Schließlich gibt es unterschiedliche Lebensmodelle und Vorstellungen für das Alter. Auch wenn Roboter den Menschen viele körperlich schwere Tätigkeiten abnehmen, sind manche bereits mit sechzig Jahren erschöpft und ihr Job ist ihnen eine lästige Qual. Es hängt immer vom jeweiligen Umfeld und den Arbeitsbedingungen ab.
Irgendwann kam mir die Idee, all diese Wünsche zusammenzubringen und in einer Agentur zu koordinieren. Mit Enrico, den ich 2008 wieder traf, als er Praktikanten suchte, fand ich den passenden Partner, der mich bei der Realisierung unterstützte. Doch vom ersten Einzelkämpferdasein bis zur heutigen florierenden Firma war es ein harter Weg. Es strengt mich sehr an, Ihnen alles so genau zu erzählen. Ich denke, Sie gönnen mir die Ruhepause und wir setzen unser Gespräch morgen fort.«
Jutta sieht Sandra an, dass sie gern noch mehr hören würde. Sie freut sich, wie rücksichtsvoll sich die Medialistin zeigt: »Natürlich, Frau Herbst. Ich freue mich darauf, morgen mehr zu erfahren. Soll ich Sie bis zu Ihrer Wohnung begleiten oder möchten Sie jetzt Ihre Ruhe?«
»Wir können uns zum Abschluss mein Büro ansehen, damit Sie sich die Firma vorstellen können. Dafür reicht meine Kraft, schließlich bin ich erst knapp Neunzig und noch keine Hundert!«
2. KAPITEL – MITTWOCH, 27. JUNI 2040
Am nächsten Morgen freut sich Jutta auf ihre Gesprächspartnerin. Deren Aussehen hat sie gestern nicht mehr gestört. Dagegen tat ihr das spürbare Interesse von Sandra gut. Nach dem Gespräch auf der Seeterrasse hatte Jutta die Medialistin noch zu ServiceAktiv geführt. »Das finde ich toll!«, hatte Sandra mit Blick auf die Bürotür ausgerufen. Innen und außen an der pastellblauen Tür prangte in leuchtendorangenen Lettern ein Spruch des klassischen deutschen Dichters Johann Wolfgang von Goethe: »Erfolg hat drei Buchstaben: TUN!.« »Dieser Spruch bringt unsere Firmenphilosophie auf den Punkt. Ich habe ihn vor vielen Jahren in einer Gaststätte am Zwenkauer See entdeckt und sofort zu meinem Slogan erkoren«, hatte Jutta erklärt. Gemeinsam mit ihrem Vertreter Johannes Müller erläuterte sie der Besucherin das Geschäftsmodell ihrer Firma. Er war der Einzige, der offensichtlich nicht merkte, wie die anderen Mitarbeiter hinter ihren Bildschirmen grinsten, als er die Besucherin anhimmelte.
Doch dann war Manuela Sommer gekommen und Johannes musste sich organisatorischen Fragen zur Unterbringung der