Neuseenstadt 2040. Ricarda Stöckel

Neuseenstadt 2040 - Ricarda Stöckel


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Wieso lassen sich Menschen in einem Teil des Landes einsperren? Auch mein Großvater hat mir davon erzählt. Wann war das mit der Mauer?«

      »Die Tante hat uns vor dem Mauerbau 1961 verlassen, dann war es vorbei mit den gegenseitigen Besuchen. Die Familie war auseinander gerissen. Dass es damals sehr vielen Menschen so ging, war ein schwacher Trost. Für die Zurückgebliebenen war es besonders schlimm. Die Ausgewanderten hatten ihre Freiheit und konnten die Welt entdecken. Nur in die DDR durften sie erst sehr viel später und mit behördlicher Genehmigung als Besucher wieder einreisen.

      Meine Mutter war sicher so ernst, weil sie sich um meinen fünf Jahre jüngeren behinderten Bruder sorgte. Damit er besser gepflegt werden konnte und mit dem Rollstuhl Platz hatte, musste ich mein größeres Zimmer gegen sein kleineres vertauschen. Das sah ich zwar ein, haderte aber mit dem Schicksal und meinen Eltern, weil sich zu Hause immer alles um Manfred drehte. Wir hatten eine große Altbauwohnung, in der auch meine Großeltern lebten. Sie kümmerten sich um uns Kinder, wenn die Eltern arbeiteten, und so besuchte ich auch erst mit sechs Jahren bis zum Schulanfang den Kindergarten. Damals wurden viele Kinder zu Hause betreut und wir spielten in den Höfen, auf der Straße und in den Parks. Ich war viel lieber draußen als in der Wohnung, denn es gab zwischen meiner Oma und meiner Mutter ständig Streit. In der Schule lernte ich meine Freundin Ina Maiwald kennen und ich war gern bei ihr zu Hause. Sie wohnte gleich um die Ecke. Als Einzelkind hatte sie alles für sich – und nette, verständnisvolle Eltern. Ich habe meine Freundin geliebt, aber auch beneidet.

      1960 war für mich das erste schlimme Schicksalsjahr. Meine Eltern erfuhren kurz nach Manfreds fünftem Geburtstag im Mai, dass es für seine Krankheit keine Heilung geben und er jung sterben würde. Er hat noch fünfzehn Jahre gelebt, sein Tod mit zwanzig Jahren war ganz schrecklich für uns. Mein Opa starb im Juni 1960 und meiner trauernden Oma versuchte ich so oft wie möglich aus dem Weg zu gehen. Sie wollte mir immerzu von ihrer Jugend erzählen und es hat mich nicht interessiert. Heute wäre ich glücklich, wenn sie noch da wäre. Jetzt, wo ich selbst alt bin, kann ich mich in ihre Situation versetzen und möchte ihre Biografie begreifen. Leider habe ich zu spät erkannt, dass das Schicksal meiner Großeltern entscheidend das meiner Eltern geprägt hat und damit auch mein Leben. Es ist in der Familie wie in der gesamten Weltgeschichte: Die Handlungen der Vorfahren bestimmen in einem wesentlichen Maß unsere Gegenwart. Wir legen heute die Grundsteine für die Zukunft. Das Leben der Menschheit ist eine unendliche Kette, gefädelt aus den begangenen und unterlassenen Taten der Generationen.«

      Sandra zupft an einer Haarsträhne, die sich aus ihrer kunstvollen Frisur gelöst hat: »Frau Herbst, das macht mich richtig nachdenklich. Ich sollte mir mehr aus dem Leben meines Opas erzählen lassen. Ich weiß nicht, wie lange ich ihn noch habe. Wenn nur nicht der ständige Alltagsstress wäre und ich mehr Zeit hätte!« Sie seufzt und sagt: »Es ist eben so. Jetzt bin ich bei Ihnen und freue mich, dass Sie mir so viel erzählen!«

      Jutta spricht weiter: »Die meisten Nachmittage und Ferientage verbrachte ich bei Ina. Wir erledigten zusammen Hausaufgaben und spielten mit anderen Kindern, dachten uns manchen Unsinn aus. Es war trotz des Kummers in der Familie eine schöne Zeit für mich. Am Ende der Sommerferien kam der Schock. Ich klingelte an Maiwalds Wohnungstür, doch dahinter herrschte Totenstille. Ich klopfte und rief. Im Erdgeschoss öffnete sich die Tür und der Mann, der das Hausbuch führte, kam heraus. In jedem Mietshaus gab es einen Verantwortlichen für dieses Dokument, in das die Daten der Hausbewohner und ihrer Besucher eingetragen wurden. Diese Bücher waren ein Bestandteil des umfassenden Kontrollsystems durch die Staatssicherheit in der DDR und es war Pflicht, diese exakt zu führen.« Jutta bemerkt, dass Sandra ihr Aufnahmegerät nicht betätigt und nichts aufgeschrieben hat. Sie reißt den Blick erst von Juttas Lippen, als ein alter Mann mit einem Roboter auftaucht, der die Erde der Blumenrabatte neben der Terrasse lockert.

      Jutta steht auf, streckt sich, streicht sich die Haare aus dem schon wieder feuchten Gesicht und trinkt einen Schluck Wasser.

      Nach einem Blick in das gespannte Gesicht ihrer Zuhörerin unterdrückt sie den Impuls, per Knopfdruck das Speiseauswahldisplay zu bestellen. Sie setzt sich wieder und fährt fort: »Jedenfalls vergesse ich nie, wie sich dieser glatzköpfige dicke Mann vor mir aufbaute und mit wichtiger Stimme erklärte, dass die Maiwalds Republikflüchtlinge seien, denen man keine Träne nachzuweinen brauche. Ich stand wie erstarrt in dem Haus und flehte die geschlossene Wohnungstür an, sich entgegen des eben Gehörten zu öffnen, damit ich wie immer mit meiner Freundin zusammen sein konnte.«

      Sandra schluckt und fragt leise: »Und haben Sie die Freundin jemals wieder gesehen?«

      »Ja, viel später. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.« Jutta räuspert sich. »Zunächst hatte ich immer auf Post gewartet, jeden Tag rannte ich mit neuer Hoffnung zum Briefkasten, doch Ina meldete sich nicht. Ich wollte ihr so viel erzählen und wissen, wie sie jetzt lebte. Vielleicht würde sie zurückkommen, malte ich mir manchmal abends vor dem Schlafen aus. Ein Jahr später wurde am dreizehnten August 1961 die Berliner Mauer gebaut und die Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik war dicht – für immer und ewig, wie wir alle dachten.

      Ich fühlte mich wie im Gefängnis, zumal meine Eltern wegen Manfred auch nicht mehr innerhalb der DDR in den Urlaub fuhren. Ich beneidete meine Klassenkameraden, wenn sie nach den Ferien über ihre Reisen berichteten: An die Ostsee, ins Gebirge oder vielleicht sogar bis in die Tschechoslowakei oder nach Ungarn – oder irgendwohin zu den Großeltern. An meinem geheimen Kummer änderte auch der Kleingarten nichts, den meine Eltern nach jahrelanger Wartezeit bekamen und der zu Fuß und mit dem Rollstuhl zu erreichen war.

      Mit zwölf Jahren durfte ich endlich ins Ferienlager fahren, zwei Wochen im Sommer. Dort hat es mir gefallen. Die meisten Betriebe finanzierten die Ferienlager für die Kinder ihrer Beschäftigten, die dafür nur einen geringen symbolischen Beitrag von zwölf Mark leisten mussten.

      Später habe ich in Karl-Marx-Stadt, das heute wieder Chemnitz heißt, in einer Druckerei selbst die Ferienlager- und Urlaubsplätze vergeben.« Jutta lacht: »Ich weiß noch genau, dass ich mich wie der liebe Gott fühlte, denn ich habe der Ferienkommission die Vorschläge vorgelegt, wer welchen Urlaubsplatz bekommt – und wessen Antrag abgelehnt wird. Oft hat mir die Kommission zugestimmt, wenn ich die Hierarchiegrenzen und persönlichen Wünsche der Chefs berücksichtigt hatte.«

      Juttas Telefon vibriert. Sie wirft einen Blick auf das Display und drückt den grünen Button. »Entschuldigung, es ist sicher wichtig.« Manuela ist zu sehen und ruft: »Jutta, wie lange redet ihr noch? Ich war bei dieser Frau und komme nicht mit ihr zurecht. Sie ist so schwierig, dass ich fast bereue, sie mit hierher geholt zu haben. Kannst du kommen? Schau dir meine Aufnahme an.« Angestrengt starrt Jutta auf das Display, wo eine wild um sich schlagende, etwas Unverständliches kreischende alte Frau zu sehen ist, die kurz danach reglos in sich zusammensinkt. Jutta wird blass und flüstert: »Das kann doch nicht sein, nein, ich bilde mir das nur ein. Manuela, wie heißt diese Frau?« Sie dreht sich zu Sandra um und bemerkt deren verwunderten Gesichtsausdruck.

      »Ich muss für heute Schluss machen. Wir sehen uns morgen.«

      Mühsam steht Jutta auf und verlässt mit dem Elektromobil die Terrasse. Als sie sich noch einmal umdreht, sieht sie, dass Sandra ihren Eistee und Juttas Wasser bezahlt. Jetzt habe ich doch nichts gegessen, denkt sie. Aber morgen lade ich sie zum Essen ein, unbedingt!

      Pünktlich zehn Uhr hört Jutta die Wohnungsklingel, ein angenehmes Brummen. Sie sieht auf ihrem Bildschirm, dass Sandra vor der Tür steht, die Haarschleife und Bluse in leuchtenden Orangetönen. Bei dem plötzlichen Abschied gestern hatte sie vergessen ihr mitzuteilen, dass der Donnerstagvormittag ihrer Yogagruppe gehört. Diesen Ausgleich hat sie bitter nötig nach der Aufregung gestern. Die Ärztin hat ihr vor einer halben Stunde bei der kurzen Bildschirmkonsultation geraten, die Gespräche mit der Reporterin abzubrechen oder nur auf das Dienstliche zu beschränken. Der Blutdruck ist beängstigend gestiegen und auch in der vergangenen Nacht hat Jutta schlecht geschlafen. Ihre Bachblütenmischung ist aufgebraucht. Weil ihr Leben seit längerer Zeit meistens im Gleichgewicht war, hatte sie sich keine neue Mixtur bestellt.

      Soll sie der jungen Frau wirklich wie versprochen


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