Neuseenstadt 2040. Ricarda Stöckel
Aber warum haben Sie den Beruf nicht zu Ende gelernt?«
»Das ist eine komplizierte Geschichte. Zeigen Sie mir doch erst einmal Fotos!«, wehrt Sandra ab.
Die Folie hat sich wieder zusammengerollt und ist im Telefon verschwunden.
Jutta schlägt ein Fotoalbum von 1971 auf. »Hier waren wir bei der Einweihung des »Nischls« am neunten Oktober 1971.«
»Waas?«
Jutta muss lachen: »Das sächsische Wort war unser Spitzname für den Bronze-Kopf von Karl-Marx. Er war ein Philosoph und Gesellschaftstheoretiker, der im neunzehnten Jahrhundert lebte. Die Theorien von ihm und seinem Weggefährten Friedrich Engels bildeten die Basis für den Aufbau des Sozialismus in der 1949 gegründeten DDR. 1953 waren die Stadt und der Bezirk Chemnitz in Karl-Marx-Stadt umbenannt worden. Und dieser Karl-Marx-Kopf war noch viele Jahre das Wahrzeichen der Stadt und zog Touristen an. Vor einigen Jahren hat die Stadt ihren berühmten, aber wieder sanierungsbedürftigen Marx trotz Protest der Bürger an einen verrückten Kunstsammler verkauft – nun steht Marx in seiner Geburtsstadt Trier.
Doch ich wollte ja von mir erzählen. 1971 war ein besonderes Jahr. Hier, die junge Frau mit dem Kinderwagen, das bin ich. Daneben der Mann mit dem Vollbart ist mein Mann Olaf, drei Jahre älter als ich.«
Da signalisiert das Display die nächste Störung: Johannes Müller erscheint auf dem Bild und, da Juttas Telefonkamera nicht ausgeschaltet ist, entdeckt er die Besucherin. Sofort setzt er sein typisches Grinsen auf und streicht sich durch die verwuschelten Locken, als könnte er damit die Frisur bändigen. »Entschuldigung, ich wusste nicht, dass du heute auch Besuch hast. Kannst du die Reporterin in unser Büro mitbringen? Wir brauchen dich. Wir müssen die Reisen mit Betreuung an die Ostsee und in die Alpen für den September vorbereiten und wir haben Anfragen für unsere Ferienwohnungen mit Betreuung im System. Wir haben auf die Schnelle drei Ferienwohnungen für die neuen Bewohner genutzt, die fehlen jetzt. Unser Team Koordination hat schon die Vorarbeiten geleistet, die Entscheidungen möchte ich aber mit dir zusammen treffen.«
»Ach Johannes. Wenn ich ganz aufhöre, musst du alles ohne mich lösen. Es gibt noch mehr fähige Leute in unserem Büro.«
»Ja gut, aber noch bist du die Chefin, und da möchte ich so etwas nicht ohne dich entscheiden.«
Jutta möchte nicht zeigen, wie sehr sie sich freut, in ihrem Büro von den überwiegend jungen Leuten geachtet und angenommen zu werden. »Nun gut, dann opfere ich meine Mittagsruhe und komme gegen vierzehn Uhr für eine Stunde. Eigentlich habe ich heute keinen Bürotag, ich muss gleich zum Medizinzentrum.«
Sie seufzt und hält sich für ein paar Augenblicke die Hände vor die Augen. »Ich glaube, so richtig zum Erzählen kommen wir heute nicht mehr. Kommen Sie mit zu unserem Medizinzentrum, machen Sie die Yogastunde mit oder schauen Sie sich inzwischen um.«
Sandra blättert in einem Fotoalbum aus Juttas Kindheit und entdeckt zwei kleine Mädchen auf einer Teppichstange sitzend, neben mehreren verbeulten Blechaschenkübeln im gepflasterten Hof. »Das war wohl ihre beste Freundin, die in den Westen gegangen ist?«
Doch Jutta ist im Bad verschwunden, sucht auf dem Display, das gleichzeitig ein Spiegel ist, nach ihrer letzten Bachblütenrezeptur, gibt ihr momentanes Befinden und das gestrige Schockerlebnis mit der neuen Bewohnerin ein und Augenblicke später erscheint die Rezeptur. Jutta klickt auf »bestellen« und hofft, dass sie die Mischung nach ihrer Yogastunde gleich mitnehmen kann.
Sie bedauert, heute keine ideale Gesprächspartnerin zu sein. Durch die angelehnte Badtür hat sie Sandras Frage gut verstanden. Soll ich ihr wirklich von Ina erzählen? überlegt sie wieder. Es muss wohl sein, sonst kann kein Mensch verstehen, warum ich damals so am Boden zerstört war. »Ihr Telefon!“, ruft Sandra vom Balkon.
»Jutta, heute kommst du nach dem Konzert mit zu uns – ohne Widerrede. Ich glaube, wir müssen reden!« verkündet Enrico Sommer vom Display. Er ist wirklich ein Freund, er merkt, wie verstört ich bin, denkt Jutta.
Sandra begleitet Jutta zu Fuß zum wenige hundert Meter entfernten Gesundheitszentrum. Am Eingang betreten sie nacheinander den Virenscanner, der beiden Frauen Sekunden später freien Eintritt in das Gebäude signalisiert. »Das ist für mich eine Errungenschaft, die ich sehr schätze«, bemerkt die Ältere.
»Ich weiß nicht, ist das nicht übertrieben, solche Dinger in allen öffentlichen Gebäuden zu betreiben, wo wir kaum noch Infektionskrankheiten kennen?«
»Wir glaubten vor vielen Jahren schon einmal, dass die schlimmsten Krankheiten ausgerottet seien. Doch in den Jahren nach der Jahrtausendwende sind die Infektionen vor allem mit neuen und resistenten Erregern stark angestiegen. Besonders in Krankenhäusern gab es zahlreiche Komplikationen und Todesfälle. Das ging einher mit unverantwortlichem Einsatz von Antibiotika in der Massentierhaltung, der Vernachlässigung von Hygienevorschriften durch Personaleinsparungen und Überforderung sowie mit der Mobilität der Menschen über den ganzen Globus.
Dieser Zustand besserte sich erst ab 2025 durch den Aufbau eines starken Gesundheitsministeriums mit weitreichenden Befugnissen und Kontrollfunktionen. Seitdem haben wir endlich die einheitliche Bürgerversicherung, die manche Politiker schon zur Wahl 2013 einführen wollten. Ich kenne niemanden, der sich ein unüberschaubares Netz von Kranken-, Unfall- und Lebensversicherungen und die teilweise eigene Finanzierung von Medikamenten und Gesundheitsleistungen zurückwünscht. Damals wurden die Pharmaprodukte gründlich auf den Prüfstand gestellt und neue Impf- und Hygienekonzepte entwickelt. Seit zehn Jahren werden die Virenscanner flächendeckend eingesetzt. Die Herstellerfirma in der Lausitz gehört zu den führenden Unternehmen und exportiert die Geräte weltweit. Neue Erkenntnisse über Krankheiten, ihre Erreger und Ausbreitung werden bei der jährlichen Aktualisierung der Software berücksichtigt. Nein, Sandra, es ist nicht übertrieben, diese Sicherheitsmaßnahmen weiterhin konsequent durchzusetzen.«
»Wenn Sie das so sagen, ist das sicherlich doch nicht unnütz. Wir Studenten haben darüber gespottet, dass unsere Gedanken gescannt und irgendwo gespeichert werden, wir haben Faxen gemacht und die Zunge raus gesteckt, wenn wir vor der Uni durch die Geräte gehen mussten.«
Jutta lacht. »Das ist das Vorrecht der Jugend, manchmal respektlos und albern zu sein. Das wird sich in jeder Generation wiederholen.«
Sie bittet die junge Frau an der Rezeption, dass ein Mitarbeiter Sandra das Gesundheitszentrum zeigen möge, und verschwindet im Turnraum, wo bereits zehn Frauen und zwei Männer auf den Matten sitzen. Sie absolviert ihre Yogastunde, redet mit der Ärztin, holt sich ihre Medikamente ab – und dann will sie etwas Richtiges essen. Verwundert bemerkt sie, dass ihr Appetit verschwunden ist. Doch ausgerechnet jetzt sagt Sandra: »Ich bin beeindruckt von dem Gesundheitszentrum. Hier möchte ich bei Gelegenheit die Salzgrotte ausprobieren. Nun müssen Sie mir erklären, wie das Leben in Ihrem Wohngebiet funktioniert und was Ihre Firma leistet. Heute gehe ich mit Ihnen essen, ich habe Hunger. Sie haben ja erzählt, dass in dem Restaurant frisch gekocht wird.«
»Nicht nur das, die meisten Lebensmittel, selbst die exotisch erscheinenden, werden in unserer Region erzeugt.«
Im nebenliegenden Restaurant erscheinen die Speisen als ansprechende Fotos auf dem Bildschirm, der sich auf Knopfdruck vor jedem Platz auf dem Tisch öffnet. Sandra wählt nach kurzem Überlegen Leipziger Algenbratlinge mit Pilzragout aus. Jutta entscheidet sich für das Filet aus schadstofffreiem Zuchtfisch mit Püree aus einer Hülsenfruchtmischung und freut sich, als sie nach einem Wermut-Aperitif wieder Appetit verspürt.
Nach dem Essen bestellen die Frauen ein Elektromobil, in dem sie sich entspannt gegenüber sitzen, und lassen sich zum Büro fahren. Jutta erlebt diesen Vorgang ganz bewusst und sagt nachdenklich: »Wie sehr haben wir uns daran gewöhnt, dass wir diese Autos nicht mehr steuern müssen und nur die Adresse auf dem Display eingeben. Wie viele Unfälle sind uns seit Jahren erspart geblieben, weil die Maschinen emotionslos und umsichtig den Weg ohne Kollisionen zurücklegen und nicht frustrierte Menschen ihre Aggressivität im Straßenverkehr austoben!«
»Ja, das ist vernünftig. Aber ich fahre auch gern selbst mit einem Auto, das ich noch richtig lenken kann«, erwidert Sandra.
Zehn