Neuseenstadt 2040. Ricarda Stöckel

Neuseenstadt 2040 - Ricarda Stöckel


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nicht einmal begrüßt hast, obwohl du dir das sonst nie nehmen lässt, ist schon seltsam. Wir haben ja Verständnis für dich, aber die Leute von Sommerlust fangen an darüber zu tuscheln.«

      Jutta spürt ihr Herz mit mindestens doppelter Frequenz schlagen. Obwohl es heute kühler ist als an den vergangenen Tagen, fühlt sie Hitze durch ihren Körper bis in den Kopf steigen und ihre Achseln feucht werden. Die Freude, Sandra einen zünftigen Einkaufsbummel vorzuführen, ist verflogen. Warum gibt es nur überall, sogar in jeder scheinbar gut funktionierenden Gemeinschaft, Neider und böse Zungen? Was geht die beiden das an? Ihre Spielabende waren meistens recht lustig, aber das Lästern über andere hat Jutta oft gestört. Dass sie selbst so unverhohlen Zielscheibe der Gehässigkeit wird, hat sie nicht erwartet. Sie spürt Sandras besorgten Blick und versucht sich zusammenzureißen. Das schlechte Gewissen bohrt sich in ihre Seele. Sie hat noch nicht den Mut gefunden, Ina zu besuchen. Deshalb fühlt sie sich von dieser Bemerkung tief getroffen. Aber muss das gleich an die Öffentlichkeit gelangen? Was soll sie tun? Sie sollte sich endlich zu dem Besuch durchringen. Wovor fürchtet sie sich? Sie ist leidlich gesund, erfolgreich und jetzt im Alter auf der Sonnenseite des Lebens, während es der einstigen Freundin schlecht geht. Warum führt das Schicksal sie noch einmal zusammen? Welchen Sinn hat das, außer beiden Frauen Schmerz zuzufügen?

      Fast lautlos rollt der Bus heran, so dass Jutta die Antwort erspart bleibt. Der Virenscanner in der Tür verwehrt einem älteren Mann das Einsteigen. Eine Leuchtschrift erscheint im Bus: »Achtung. Ein Fall von Noroviren ist aufgetreten. Bitte waschen Sie sofort Ihre Hände mit dem Desinfektionsmittel.« Drei Behälter sind im Bus verteilt und die Abfahrt verzögert sich um einige Minuten, bis alle Fahrgäste auf ihrem Platz sitzen. Sandra schaut mitleidig zu dem Mann, der verpflichtet ist, sich sofort bei der Infektionsstation zu melden. Der Befund des Scans ist auf seinem Fingerchip gespeichert.

      Der Bus hält am Supermarkt und der Fahrer gibt eine Endzeit für das Shoppingvergnügen an, bevor die Fahrgäste den Einkaufswagenfuhrpark stürmen. Hier hat der Virenscanner nichts zu beanstanden. Die Wagen bestehen aus einem bequemen Sitz, neben dem man auch herlaufen kann, und davor einem geräumigen Korb. Mit einem Display können sich die Kunden die anvisierten Waren durch kleine Roboter zum Ansehen in die Hand und danach in den Wagen oder zurück ins Regal legen lassen. Eine Suchfunktion ermöglicht, Produkte zielgerichtet zu finden. Sandra packt sich den Wagen voll Lebensmittel und Kleinkram. Vor der Kasse halten beide Frauen mit ihren Wagen an großen Bildschirmen, die die gekauften Waren abbilden und die Kosten einzeln und in Summe anzeigen. Jutta hält ihren Fingerchip an das Gerät, das daraufhin ihr Guthaben vor und nach diesem Einkauf anzeigt und mit einer angenehm melodischen Computerstimme fragt: »Möchten Sie alles kaufen oder einzelne Waren zurückgeben beziehungsweise austauschen?«

      Das funktioniert genauso mit Sandras Universalscheckkarte. »Oh Mist, ich habe mein letztes Honorar noch nicht, mit dem Einkauf komme ich ins Minus!“, ruft Sandra erschrocken aus.

      Jutta ist schon durch den Kassenbereich gerollt und schaut zu, wie ein Roboter ihre Einkäufe in ein maßgerechtes Paket packt und mit ihrer Anschrift versieht. Pünktlich zu ihrer Heimkehr wird das Paket vor der Wohnungstür stehen und sich nach Kontakt mit ihrem Fingerchip öffnen lassen. Jutta bemerkt, dass der Inhalt von Sandras Einkaufswagen auf ein Minimum geschrumpft ist und ihr Gesicht deprimiert wirkt. Vielleicht sollte die junge Frau nicht so viel in Modeschnickschnack investieren und vernünftiger essen. Gleichzeitig empfindet sie Mitleid mit der Medialistin, die offensichtlich Probleme hinter der schreienden Fassade zu verbergen versucht. Ob sie einen Freund hat?

      »Ich lade Sie zum Essen ein, vielleicht haben Sie Lust, mir beim Kochen zu helfen? Ich habe frisches Gemüse und Kartoffeln gekauft. Muss es Fleisch dazu sein?« Sie sieht ein Strahlen in Sandras Augen. »Oh stark, richtig kochen! Nein, Fleisch will ich nicht haben. Ich bin dabei, klasse!«

      Es ist später Mittag, als die beiden Frauen Juttas Einkaufspaket in die Wohnung rollen. »Die Bohnen müssen gewaschen, geschnitten und zehn Minuten gekocht werden. Die Zwiebeln, Karotten, Pilze, Paprika, und den Lauch schneiden wir nach dem Waschen direkt in die Pfanne zum Braten. Die Kartoffeln braten wir in einer zweiten Pfanne allein, damit sie richtig knusprig werden.« Mit Freude verfolgt Jutta, wie eifrig Sandra ihren Anweisungen folgt. Die Arbeitsplatte, auf der sie alles schnippeln, enthält die integrierten Kochfelder, die sich dem Standort und der Größe von Töpfen und Pfannen anpassen. Der Kochvorgang beginnt nach einem elektronisches Signal der Kochgeräte. Die Felder erhitzen nur die zu garenden Lebensmittel, während die restliche Fläche kalt bleibt. Nach dem Kochen und anschließendem Warmhalten der Speisen schalten sich die Kochfelder automatisch ab. Die zusätzliche Kindersicherung hat Jutta deaktiviert.

      Eine halbe Stunde später sitzen sie mit beladenen Tellern vor dem duftenden Gericht und essen voller Genuss, ohne etwas übrig zu lassen.

      »Das war toll, so gut hat es mir ewig nicht geschmeckt«, verkündet Sandra strahlend. Sie scheint sich wohl zu fühlen, denkt Jutta, als Sandra anbietet, mit der Universalkaffeemaschine einen Espresso zuzubereiten.

      »Für mich einen Milchkaffee«, sagt Jutta und lässt sich in ihrem Liegestuhl auf dem Balkon nieder. Sandra setzt sich an den kleinen Tisch. Der Duft der bunten Sommerblumen in den Balkonkästen schmeichelt den Nasen und lockt Bienen an, deren Summen die Stille erfüllt. Es ist angenehm warm, die Hitze und Schwüle sind vorerst gebannt.

      »Herrlich ruhig haben Sie es hier.«

      »Ja, um diese Zeit genieße ich das sehr. Aber nachmittags und abends, wenn die Kinder aus Kindergarten und Schule da sind und viele Eltern nach der Arbeit in Gruppen draußen sitzen, ist es oft ziemlich laut. Ich hätte mir früher nicht vorstellen können, wie ruhe- und harmoniebedürftig ich jetzt bin.«

      »Stört Sie das sehr? Ist es vielleicht doch besser, wenn die Generationen nicht so aufeinanderprallen?«

      »Ja und nein. Ich war viele Jahre sehr allein. Ich habe alle Menschen um Trubel, Familie, Freunde, Kinder, Enkelkinder, Verwandte und große Familienfeiern beneidet. Am meisten verhasst war mir meine Ruhe, von der ich mehr als genug hatte. Bekannte mit Familie wollten manchmal dem Lärm, dem Stress und auch Streitigkeiten in ihrer Gemeinschaft entgehen und haben mich um meine Ruhe und mein selbstbestimmtes Leben beneidet. Mir scheint, es liegt einfach in der Natur des Menschen, das haben zu wollen, was man gerade nicht hat. Was wir besitzen, schätzten wir häufig erst, wenn wir es verlieren.

      Generationen haben über Jahrhunderte ganz selbstverständlich zusammengelebt, die Vorteile genutzt, aber auch unter zu viel Nähe und Konflikten gelitten. Mit der Globalisierung sind seit den neunziger Jahren zahlreiche Familien auseinander gebrochen. Die jungen Leute gehen dorthin, wo sie Arbeit bekommen und sich verwirklichen können, und gründen über Ländergrenzen hinweg neue Familien. Da der Mensch ein soziales Wesen ist, sind echte und virtuelle Netzwerke wichtig geworden. Es entstehen überall neue Gemeinschaften. Eine davon ist die in unserer Siedlung Sommerlust, in der ich mich zu Hause fühle.«

      Sandra hat die leere Espressotasse abgestellt und knetet ihre Finger. Ihre Augen schweifen über die Blumenkästen mit den üppigen rot, rosa, lila und weiß blühenden Geranien und Petunien und zu den im leichten Wind schwankenden Ahornzweigen vor dem Balkon.

      »Darüber habe ich so noch gar nicht nachgedacht. Ich muss meinem Großvater von diesem Wohngebiet erzählen. Er ist gesellig, war früher richtig lustig, und jetzt vereinsamt er allein in seiner Wohnung. Dort wohnen auch junge Leute, aber sie haben mit sich zu tun und um Opa kümmert sich niemand. Zum Glück ist er noch rüstig und kann sich selbst versorgen. Er ist geistig fit, ach, ich müsste ihn öfter besuchen.«

      Nach einem stillen Moment richtet sich Sandra auf und lenkt das Gespräch in eine andere Richtung. »Und was ist mit Ihrer Freundin?«

      Jutta seufzt und erzählt: »Das Treffen unserer Grundschulklasse fand am vierten September 1999 im Handwerkerkeller in Leipzig statt – fünfunddreißig Jahre nach dem Abschluss der achten Klasse und meinem Wechsel zur Erweiterten Oberschule. Das Datum hat sich mir eingeprägt. Es war nicht das erste Klassentreffen und ich hatte mit mir gekämpft, ob ich mich sehen lasse, denn ich war seit mehr als einem Jahr arbeitslos. Ich fühlte mich als Versagerin.«

      »Das verstehe ich nicht. Ich denke, damals gab es die hohe Arbeitslosigkeit,


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